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Tribe

Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit

AutorSebastian Junger
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641203610
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Unser Trauma: eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft
»Entbehrungen machen dem Menschen nichts aus, er ist sogar auf sie angewiesen; worunter er jedoch leidet, ist das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben. Es ist an der Zeit, dem ein Ende zu setzen.« Sebastian Junger

Warum beschließen Soldaten nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg und in die Heimat, sich zu neuen Einsätzen zu melden? Warum sind Belastungsstörungen und Depressionen in unserer modernen Gesellschaft so virulent? Warum erinnern sich Menschen oft sehnsüchtiger an Katastrophenerfahrungen als an Hochzeiten oder Karibikurlaube? Mit Tribe hat Sebastian Junger eines der meistdiskutierten Werke des Jahres vorgelegt. Er erklärt, was wir von Stammeskulturen über Loyalität, Gemeinschaftsgefühl und die ewige Suche des Menschen nach Sinn lernen können.

Der Journalist Sebastian Junger, geboren 1962, ausgezeichnet mit dem National Magazine Award, veröffentlichte die Reportagensammlung Feuer und den Weltbestseller Der Sturm, der mit George Clooney und Mark Wahlberg verfilmt wurde. Sein Buch War - Ein Jahr im Krieg (Blessing, 2010) war ein New-York-Times- und SPIEGEL-Bestseller, sein Film Restrepo erhielt den Grand Jury Prize des renommierten Sundance Film Festival und eine Oscar-Nominierung als bester Dokumentarfilm. Junger lebt in New York.

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Leseprobe

Das möglicherweise Erstaunlichste an Amerika ist die Tatsache, dass es unter den modernen Nationen, die sich zu Weltmächten entwickelten, das einzige Land ist, dem der Aufstieg gelang, obwohl es mit dreitausend Meilen unwirtlicher, von Steinzeitstämmen bewohnter Wildnis konfrontiert war. Vom King Philip’s War im siebzehnten Jahrhundert bis zu den letzten Viehdiebstählen durch die Apachen am Rio Grande im Jahr 1924 führte Amerika fortwährend Krieg gegen eine eingeborene Bevölkerung, die sich technologisch gesehen seit 15 000 Jahren kaum verändert hatte. Im Verlauf von drei Jahrhunderten entwickelte Amerika sich zu einer boomenden Industriegesellschaft, gespalten durch Klassenunterschiede und Rassenungerechtigkeit, aber zusammengeschweißt durch ein Gesetzeswerk, vor dem alle Menschen zumindest theoretisch als gleich angesehen werden. Die Indianer dagegen lebten gemeinschaftlich in mobilen oder halbstationären Lagern, die mehr oder weniger konsensorientiert und weitgehend egalitär geführt wurden. Niemand konnte individuelle Autorität einfach an sich reißen, sie musste verdient werden. Ausgeübt werden konnte sie einzig gegenüber den Menschen, die bereit waren, sie anzunehmen. Wer das nicht wollte, dem stand es frei zu gehen.

Die Nähe dieser beiden Kulturen über viele Generationen bot der einen wie der anderen Seite die Wahl zwischen krass unterschiedlichen Lebensweisen. Zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden in Chicago Fabriken errichtet, und in New York entstanden die ersten Slums, während die Indianer tausend Meilen entfernt noch mit Speeren und Tomahawks kämpften. Es sagt wohl etwas über die menschliche Natur aus, dass eine überraschend hohe Anzahl von Amerikanern, hauptsächlich Männern, sich irgendwann indianischen Gesellschaften anschloss, statt in ihrer eigenen zu bleiben. Sie eiferten den Indianern nach, heirateten, wurden von ihnen adoptiert und kämpften in einigen Fällen sogar an ihrer Seite. Das Gegenteil geschah so gut wie nie: Indianer liefen nicht über, um Mitglieder der weißen Gesellschaft zu werden. Emigration schien ausschließlich von der zivilisierten zur Stammesgesellschaft stattzufinden, und westliche Denker konnten sich eine so deutliche Ablehnung ihrer Gesellschaft beim allerbesten Willen nicht erklären.

»Wenn ein indianisches Kind, das bei uns aufgewachsen ist, unsere Sprache erlernt hat und an unsere Bräuche gewöhnt wurde«, so schrieb Benjamin Franklin 1753 an einen Freund, »sich aber irgendwann zu seinen Verwandten begibt und sie auf nur einem Streifzug begleitet, dann lässt es sich nie wieder zur Rückkehr bewegen.«

Andererseits, fuhr Franklin fort, war es fast unmöglich, weiße Gefangene nach ihrer Befreiung aus den Händen der Indianer zu Hause zu halten: »Obwohl von ihren Freunden freigekauft und mit aller denkbaren Behutsamkeit behandelt, um sie davon zu überzeugen, bei den Engländern zu bleiben, sind sie schon nach kurzer Zeit von unserer Lebensart angewidert … und nutzen die erstbeste Gelegenheit, um wieder in die Wälder zu entkommen.«

Die Tatsache, dass viele Weiße das Stammesleben bevorzugten, war ein Problem, das während der pennsylvanischen Grenzkriege der 1760er-Jahre auf besonders bittere Weise zum Tragen kam. Im Frühling 1763 berief Pontiac, ein indianischer Anführer aus Ottawa, einen Rat der Stämme ein, die an dem kleinen Fluss Ecorces in der Nähe des ehemaligen französischen Handelspostens in Detroit im heutigen Bundesstaat Michigan lebten. Die stetige Ausbreitung weißer Siedlungen war bedrohlich, einte aber die indianischen Stämme, wie kein Ausmaß an Frieden und Wohlstand es jemals gekonnt hätte, und Pontiac glaubte, mit einer ausreichend breiten Allianz die Weißen dorthin zurückdrängen zu können, wo sie eine oder zwei Generationen zuvor gewesen waren. Unter den Indianern befanden sich Hunderte weißer Siedler, die nach ihrer Verschleppung aus Grenzsiedlungen von den Stämmen adoptiert worden waren. Einige gaben sich mit ihren neuen Familien zufrieden, andere nicht, aber in ihrer Gesamtheit sorgten sie bei den Kolonialbehörden für erhebliche politische Bedenken.

Das Treffen der Stämme wurde von Läufern koordiniert, die hundert Meilen am Tag zurücklegen konnten. Sie überbrachten Wampumgürtel aus Muscheln und Schnecken oder auch Tabak als Geschenke mit der Botschaft, dass dringend eine Versammlung abgehalten werden müsse. Die Verzierung der Gürtel war so gestaltet, dass selbst Angehörige entfernter Stämme die Botschaft herauslesen konnten: Die Zusammenkunft war für den fünfzehnten Tag des Iskigamizige-Giizis anberaumt, des Monats, in dem Ahornsirup gekocht wurde. Gruppen von Indianern kamen am Ecorces zusammen und schlugen an seinen Ufern ihr Lager auf, bis schließlich am Morgen des Tages, den die englischen Siedler als den 27. April bezeichneten, die Ältesten durch das Lager zogen, um den Rat der Krieger einzuberufen.

»Sie traten aus ihren Hütten: die großen, nackten Gestalten der wilden Ojibwas, auf dem Rücken trugen sie Köcher, in ihren Armbeugen ruhten leichte Kriegskeulen«, schrieb der Historiker Francis Parkman ein Jahrhundert später. »Ottawas, fest in ihre farbenprächtigen Decken gehüllt; Wyandot mit wallenden bemalten Hemden, ihre Köpfe mit Federn geschmückt, die Gamaschen mit Glocken verziert. Bald saßen alle in einem großen Kreis im Gras, Reihe an Reihe, eine ernste und stille Versammlung.«

Pontiac war für seine große Redekunst bekannt, und am Abend hatte er die versammelten Krieger davon überzeugt, dass die Zukunft ihres Volkes auf dem Spiel stand. Dreihundert Krieger marschierten gegen das englische Fort, während in den Wäldern zweitausend weitere Kämpfer auf das Signal zum Angriff warteten. Nachdem sie zunächst versuchten, das Fort mit List und Tücke einzunehmen, zogen sie sich zurück und griffen dann nackt und mit Geschrei an – um schneller nachladen zu können, hatten sie sich die Kugeln in den Mund gesteckt. Der Versuch scheiterte, aber bald danach brach im gesamten Grenzgebiet Krieg aus. Praktisch alle noch so abgelegenen Forts und jeder eingefriedete Posten vom oberen Allegheny River bis zum Blue Ridge wurden gleichzeitig angegriffen. Le Boeuf, Venango, Presque Isle, La Baye, St. Joseph, Miamis, Ouchtanon, Sandusky und Michilimackinac wurden überrannt, ihre Verteidiger massakriert. Skalpiertrupps schwärmten durch die Wälder aus und fielen über abgelegene Farmen und Siedlungen entlang des gesamten östlichen Vorgebirges her. Es wird geschätzt, dass dabei zweitausend Siedler ums Leben kamen. Überlebende flohen ostwärts, bis an die Grenze Pennsylvanias bei Lancaster und Carlisle.

Die englische Reaktion erfolgte langsam, aber unaufhaltsam. Die verbleibenden Soldaten der 42sten und 77sten Highlander-Infanterie, die jüngst vom Militäreinsatz in Kuba zurückgekehrt waren, wurden in die Kasernen in Carlisle einberufen und auf den 200-Meilen-Marsch nach Fort Pitt vorbereitet. Begleitet wurden sie von siebenhundert Mitgliedern der örtlichen Miliz und dreißig erfahrenen Spähern und Jägern aus dem Hinterland. Die Highlander wurden von ihrer eigentlichen Aufgabe, die Kolonne an den Flanken zu sichern, praktisch umgehend wieder abgezogen, weil sie sich immer wieder in den Wäldern verirrten. Ihr Kommandeur war ein junger Schweizer Oberst namens Henry Bouquet, der in Europa Kampferfahrung gesammelt hatte und sich nun den Engländern anschloss, um seine Karriere voranzutreiben. Seine Anweisungen waren simpel: quer durch Pennsylvania marschieren, den Weg für seine Wagen von Männern mit Äxten frei machen lassen und Fort Pitt und andere belagerte Garnisonen an der Grenze unterstützen. Gefangene sollten nicht gemacht werden. Frauen und Kinder der Eingeborenen hingegen waren zu ergreifen und in die Sklaverei zu verkaufen. Für jeden Skalp, männlich oder weiblich, den weiße Siedler von einem indianischen Kopf schnitten, winkte eine Belohnung.

Im Juli 1763 marschierte Bouquets Armee aus Carlisle heraus und hatte binnen Monaten die Indianer in Bushy Run geschlagen und Fort Pitt sowie eine Reihe abgelegener Garnisonen verstärkt. Im Sommer darauf verlagerte sie ihren Feldzug ins Herz des Indianergebiets, kämpfte sich durch das fruchtbare Flachland des Beckens, durch das der Ohio River fließt, und legte dabei mal fünf, mal zehn Meilen am Tag zurück. Sie zog durch ausgedehnte Laubholzbestände und weite Savannen, die von unzähligen Bächen und Flüssen gespeist wurden. Einige der Flüsse waren meilenweit von Kiesstränden gesäumt, auf denen die Versorgungswagen der Kolonne ungehindert fahren konnten. Die Wälder waren überwiegend frei von Strauchwerk und zu Fuß oder zu Pferde bequem zu durchqueren. Die Männer marschierten durch ein Paradies, und Bouquet erwähnt in seinen Tagebüchern auf fast jeder Seite die Schönheit der Natur.

Mitte Oktober hatte Bouquet den Muskegham River tief im Gebiet der Shawnee und Delaware erreicht, und eine indianische Delegation traf sich mit ihm, weil man um Frieden nachsuchen wollte. In der Hoffnung, sie einzuschüchtern, formierte Bouquet seine Truppen auf einer angrenzenden Wiese: reihenweise Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten; Highlander in Kilts hinter Regimentsflaggen aufgestellt; und Dutzende von Hinterwäldlern, die nicht viel anders gekleidet waren als die Indianer und sich mit einer Siegessicherheit auf ihre Gewehre lehnten, die auf einen europäischen Oberst in der Wildnis äußerst beruhigend gewirkt haben muss.

Zuallererst forderte Bouquet die sofortige Übergabe aller weißen Gefangenen und verkündete, dass jede Verzögerung als Kriegserklärung gedeutet würde. Während der nächsten paar Wochen wurden etwa zweihundert Gefangene ausgeliefert, mehr als die Hälfte davon Frauen und Kinder und viele zu jung, um sich an ein...

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