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E-Book

Triest verkehrt

Fünfzehn Spaziergänge in der Stadt des Windes

AutorMauro Covacich
VerlagVerlag Klaus Wagenbach
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783803141163
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Triest liegt zwar in Italien, ist aber die südlichste Stadt Nordeuropas, und die wartet mit allerlei Eigenheiten auf: der Bora, einem eisigen Wind, der den Spaziergänger jedes Jahr im April buchstäblich von der Straße fegt. Schloss Miramare, für den Erzherzog Ferdinand Maximilian von Habsburg erbaut (den kleinen Bruder des Kaisers Franz Joseph) und nach dessen frühem Tod allein von seiner Frau Carlotta bewohnt, die darüber wahnsinnig wurde. Da gibt es die Risiera di San Sabba, ein altes Reislager, das von den Nazis als Auffanglager für italienische Juden und dann als einziges Konzentrationslager auf italienischem Boden betrieben wurde. Den Strand und das Bad im Meer, die hier, anders als in Genua, Neapel oder Palermo, zum alltäglichen Stadtleben gehören. Und schließlich 'Little Istria', das Viertel, in dem die Großmutter des Autors seit ihrer Flucht aus Jugoslawien vor sechzig Jahren lebt und dessen Straßen die Namen der Orte Istriens und Dalmatiens tragen: Via Pola, Via Rovigo, Via Spalato. Mauro Covacich erzählt Geschichten aus seiner Stadt - aus Triest, und aus einem Italien, das schon seit Jahrhunderten beinahe ganz Europa beherbergt.

Mauro Covacich ist 1965 in Triest geboren. Er hat Romane und Erzählungen veröffentlicht. 'Triest verkehrt' ist sein erstes Buch auf Deutsch.

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Leseprobe

Die gepiercte Sissi. Erscheinungen im Castello Miramare


Die Jugendlichen in der Schlange können es kaum glauben. Sämtliche Räume sollen sie besichtigen und dabei noch ihrer Reiseführerin lauschen, die kaum älter ist als sie und vollprofessionell mit Namensschild und allem vor ihnen in die Höhe ragt. Sie kommen aus Ungarn, und sie sind müde. Die Busfahrt von Pécs hierher hat mindestens fünf Stunden gedauert, Pinkelpausen exklusive. Sie würden viel lieber draußen bleiben, auf der Wiese Frisbee spielen, sich unter die Pinien legen und Handy-Fotos voneinander machen, doch nun steht der Museumsbesuch auf dem Programm. Für den Nachmittag ist als Entschädigung eine mehrstündige Shoppingtour durch die Torri d’ Europa geplant, das neue Einkaufszentrum in Form eines Aztekenmausoleums, in das die Konsumenten aller Herren Länder busseweise strömen. Doch jetzt ist die Kultur an der Reihe. Dort dräut sie schon hinter den »auf alt gemachten« Glasscheiben. Inzwischen befindet sich eine andere Reisegruppe, Genueser Rentnerinnen mit Dauerwelle und Regenjackenbeutel um den Bauch – man kann nie wissen –, schon in Phase eins, und eine andere Führerin ist bereits in voller Fahrt: »Das Schloss Miramare und seine Parkanlagen entstanden auf dem Felsvorsprung des Karsts in der Bucht von Grignano nach Willen des Erzherzogs Ferdinand Maximilian von Habsburg (1832–1867), dem jüngeren Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. Bitte, treten Sie näher, ja bitte, hier herüber. Nach den Entwürfen Carl Junkers von 1856 wurde der äußere Bau 1860 fertiggestellt. Die Innenausstattung besorgten Franz und Julius Hofmann, die sie erst nach Maximilians Abreise nach Mexiko 1864 abschließen konnten. Nachdem Maximilian zum Kaiser von Mexiko ernannt worden war, wurde er 1867 in Queretaro erschossen. Als einer der wenigen Adelswohnsitze, die unverändert erhalten geblieben sind, repräsentiert das Schloss mit seiner eklektischen Einrichtung und Ornamentik den Wohngeschmack der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, an einem Ort, wo mediterrane Lebensart sich mit der Atmosphäre typisch nordischer Ausprägung vermählt.« Über das unglückliche Schicksal der Schlossbewohner geht die Führerin geflissentlich hinweg: er, der den mexikanischen Kugeln entgegengeht, ohne die heimischen Vergoldungen und Diwans überhaupt genossen zu haben; sie, die als Witwe zurückbleibt und vor Langeweile und Schmerz verrückt wird (vor allem vor Langeweile). Unerwähnt lässt die Führerin Charlottes Wahn, genauso wie das landläufige Gerücht, dass Charlottes angebliche Umnachtung nur eine ausgefuchste Methode des Hofes war, ihre Sympathien für den Kommunismus auf möglichst diplomatische Art unter Verschluss zu halten.

Die Jugendlichen aus Pécs sind nun bereit hineinzugehen, in einer wabernden Wolke schafsgleicher Ergebenheit schieben sie sich in das Halbdunkel der Kasse. Manche werfen einen letzten Blick auf die Türmchen und Zinnen, auf die beruhigend vertraute Fassade. Denn tatsächlich sieht das Castello exakt so aus, wie man sich ein Schloss vorstellt, oder besser gesagt, wie es ein Kind mit vielleicht zehn Jahren malen würde. Schneeweiß, völlig intakt, hübsch mittelalterlich, mit Umrissen und Flächen wie aus dem Scherenschnitt. Mehr wollen sie gar nicht, die Ungarn, als es weiter von außen anzuschauen – davor zweiundzwanzig Hektar wunderschöner, sanft ansteigender Park, von dem aus man einen tollen Blick auf das Meer und den Felsen hat, und dann allen möglichen Leuten SMS schicken oder mit Kopfhörern faulenzen oder die Klassenkameradinnen bezirzen und im Notfall, okay, auch weiter die Schlossfassade von außen bewundern – aber nein, jetzt geht’s hinein, ohne Kultur kein Shoppen im Einkaufszentrum.

Hinter ihnen, zwischen dem mit Blumen bepflanzten Brunnenrand und den Vorboten der nächsten, noch nicht komplett versammelten Reisegruppe, rennen zwei junge Frauen in Laufklamotten vorbei. Mehr als ein Kopf dreht sich nach ihnen um. Dunkelhaarig, für Anfang April schon ordentlich gebräunt, die festen Pobacken in kurzen Jogginghosen, Piercing im Nabel, stabil gehalten im Netz der Bauchmuskulatur. Zwei Triestinerinnen – nicht mehr ganz jung bei näherem Hinsehen – in der Mittagspause.

Wer von denen, die sich nach den Frauen umgeblickt haben, tat dies aus instinktiver Anziehung, wer aus dem Schock heraus, das aristokratische Salonbild des Sissi-und-Operetten-Triests, mit dem sie angereist sind, gestört zu sehen? Ich frage mich das, weil ich viele Menschen kenne, die mir nach ein paar Tagen Triest gebeichtet haben, wie enttäuscht sie seien. Auf den ersten Blick scheint alles den Erwartungen zu entsprechen, und man hat das Gefühl, jeden Augenblick müsse Romy Schneider in einer Kutsche vorbeifahren, dann fängt man an zu begreifen – wie es auch diesen Ausflüglern gerade ergeht, die von der poppigen Brise der zwei Läuferinnen mitgerissen werden –, dass das Klischee nicht der Komplexität der wirklichen Stadt gerecht wird. Darin besteht kein Widerspruch. Oder besser gesagt, die wahre Identität Triests liegt genau in der Widersprüchlichkeit seiner Natur. Sissi zum Beispiel, die schöne Sissi, die oft nach Miramare kam, um ihre verrückte Schwägerin zu besuchen, trieb zwei Stunden am Tag Sport. Sie liebte lange Spaziergänge, auch außerhalb des Parks und stets ohne Eskorte (so auch an jenem frischen Septembermorgen 1898, als sie von dem Anarchisten Luigi Lucheni auf der Uferpromenade des Genfer Sees mit einer Feile erstochen wird). Auf Schloss Schönbrunn trainierte Prinzessin Sissi an den Ringen. Sie hatte sie in einem mit Spiegeln verkleideten Zimmer anbringen lassen und dabei höchstwahrscheinlich äußerst kostbare Stuckdecken durchlöchert. Sie war eine Diät-Fanatikerin, wahrscheinlich die erste Vertreterin des Anorexie-Styles, dieser ausgezehrten Empfindsamkeit, die man in Veganer-Restaurants von Soho antrifft. Außerdem erlaubte sie sich die Laune einer Tätowierung. Kurz, die wahre Sissi war genau wie die Stadt Triest nicht die, die man sich immer vorstellt, sie war nicht Romy Schneider und auch nicht die alte Signora, die bis vor einigen Jahren als Grande Dame, herausgeputzt im Stil des 19. Jahrhunderts, durch das Zentrum Triests geisterte. Nein, Sissi ist wie Triest eine junggebliebene Vierzigjährige unserer Tage, tätowiert, trainiert, gesundheitsbewusst, die ich mir ohne Weiteres auch depiliert, gebräunt und, warum nicht, mit einem Piercing im Bauchnabel vorstellen kann wie die zwei Läuferinnen von eben.

Ich dringe in den höheren Teil des Parks vor, der bis zu der kleinen Bahnstation von Grignano aufsteigt, dabei den in den Felsen gegrabenen Tunnel überquert, durch den die Küstenstraße führt, um schließlich in ein breites Wäldchen mit hohen Bäumen zu münden, das langsam immer sanfter, immer lichter wird. Hier ändert sich das Publikum. Es besteht hauptsächlich aus Ausländern, die aber keine Touristen sind. Es sind Wissenschaftler der Sissa, der Internationalen Hochschule für weiterführende Studien. Mathematiker, Physiker, Astronomen, Genetiker, Neurobiologen, vor allem aus dem fernen Osten, spazieren mit ihrem Lunchpaket, das sie wie ein Neugeborenes an sich drücken, durch den Wald, um dem Gehirn ein wenig Frischluft zu gönnen, bevor es wieder in den hübschen Gebäuden mit den glitzernden Fensterscheiben ausgepresst wird, dort oben zwischen den steilen Haarnadelkurven der Via Beirut. Die Institute der Sissa sind quasi die Wiege von Nobelpreisträgern und Forschern, die es werden wollen. Man hätte Lust, die Radioaktivität der Gegend zu messen, angesichts der geballten Hochintelligenz, die dort am Werk ist. Ich meine fast, die Hyperproduktion der Gehirne zu fühlen, das elektromagnetische Feld aus Formeln und Gedanken, das ich betrete. Mit einem Kopfnicken grüße ich einen Inder, der auf einer Bank sitzt, und er antwortet mit einem Lächeln. Auf dem Schoß hält er eine Schüssel, aus der er mit den Fingern eine Art Müslimischung fischt. Wer weiß, vielleicht bietet die Mensa der Sissa eine spezialisierte Küche mit verschiedenen »ethnischen« Gerichten an, oder dieser indische Wissenschaftler hat sich heute Morgen zu Hause das Essen selbst zubereitet. Am liebsten würde ich ihn fragen. Im Übrigen ist einer der Nobelpreisträger, zudem ein Mathematiker, ein Inder, wenn ich mich nicht irre. Doch dann kommen mir zwei andere entgegen, dem Äußeren nach Chinesen, und ich versäume den richtigen Moment, die Prise Unverschämtheit, die es braucht, um diesen Inder zu stören, während er seinem Gehirn und dem ihm Herberge gewährenden Körper die nötige Nahrung zuführt.

Sie haben eine überaus prestigeträchtige Präsenz in Triest, die Wissenschaftler der Sissa, und doch scheinen sie außer bei formellen Anlässen keine Rolle für das Bild zu spielen, das die Stadt von sich zeichnet. Sie leben in ihrem nach Harz duftenden Exil, zwischen den Fakultäten und dem Pinienhain von Miramare. In der Stadt sieht man sie kaum, und sie finden keinerlei Eingang – völlig unfreiwillig, glaube ich – in das mitteleuropäische Gemälde, das die Touristen gern in jeder urbanen oder...

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