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E-Book

Tschernobyl

Eine Chronik der Zukunft

AutorSwetlana Alexijewitsch
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783518761557
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Die Tschernobyl-Katastrophe im Frühling 1986 sprengte jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Wie hätte man das unermessliche Leid in Worte fassen sollen? Wie die Angst vor einem ungekannten Tod, der, unsichtbar und abstrakt, blühende Wiesen und Wälder verseuchte und Tausende von Opfern forderte?

Swetlana Alexijewitsch hat über mehrere Jahre hinweg mit Menschen gesprochen, für die die Katastrophe zum zentralen Ereignis ihres Lebens wurde: mit kranken und sterbenden Soldaten, mit den Witwen der Liquidatoren, mit Müttern und Kindern, hochdekorierten Wissenschaftlern und mit Bauern. Entstanden sind eindringliche psychologische Porträts, literarisch bearbeitete Monologe, die von Menschen berichten, die sich ihre Zukunft in einer Welt der Toten aufbauen mussten.



<p>Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Belarus aufgewachsen. Ihre Werke, in ihrer Heimat verboten, wurden in mehr als 30 Sprachen &uuml;bersetzt. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europ&auml;ischen Verst&auml;ndigung und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2015 erhielt sie den Nobelpreis f&uuml;r Literatur.</p>

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Leseprobe

Historische Auskünfte


»Belarus … Wir sind ja für die Welt eine Terra incognita, ein unbekanntes, unerforschtes Land. Von Tschernobyl wissen alle, aber nur in Verbindung mit der Ukraine und mit Rußland. Wir müssen erst von uns erzählen. ›White Russia‹ (›Weißes Rußland‹) – so klingt der Name unseres Landes in Englisch.«

Volkszeitung, 27. April 1996

»Am 26. April 1986 um 1:23:58 Uhr zerstörte eine Serie von Explosionen Reaktor und Gebäude des 4. Energieblocks im AKW Tschernobyl unweit der weißrussischen Grenze. Die Katastrophe von Tschernobyl wurde zur größten technologischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Für das kleine Weißrußland (10 Mio. Einwohner) wurde sie zu einem nationalen Unglück, obgleich die Weißrussen selbst kein einziges Atomkraftwerk besitzen. Es ist nach wie vor ein Agrarland mit überwiegend ländlicher Bevölkerung. Während des Großen Vaterländischen Krieges zerstörten die deutschen Faschisten auf weißrussischem Boden 619 Dörfer mitsamt ihren Bewohnern. Nach Tschernobyl verlor das Land 485 Dörfer und Siedlungen: 70 davon sind bereits für immer dem Erdboden gleichgemacht. Im Krieg fiel jeder vierte Weißrusse, heute lebt jeder fünfte auf verseuchtem Gebiet. Das sind 2,1 Mio. Menschen, davon 700 000 Kinder. Unter den Todesursachen nimmt die radioaktive Strahlung den ersten Platz ein. In den Gebieten Gomel und Mogiljow (die von der Tschernobylkatastrophe am stärksten betroffen waren) ist die Sterblichkeitsrate um über 20 % höher als die Geburtenziffer.

Als Folge der Katastrophe wurden 50 × 106 Ci Radionuklide in die Atmosphäre geschleudert, davon fielen 70 % auf Weißrußland: 23 % seines Territoriums sind durch Radionuklide mit einer Dichte von über 1 Ci/km2 durch Cäsium-137 verseucht. Zum Vergleich: In der Ukraine sind 4,8 % des Territoriums verseucht, in Rußland 0,5 %. Die landwirtschaftliche Nutzfläche mit einer Verseuchungsdichte von 1 und mehr Ci/m2 beläuft sich auf über 18 Mio. Hektar, durch Strontium-90 mit einer Dichte von 0,3 und mehr Ci/m2 auf ca. 0,5 Mio. Hektar. Aus dem landwirtschaftlichen Umlauf sind 264 000 Hektar Böden herausgenommen worden. Weißrußland ist ein Land der Wälder. Aber 26 % der Wälder und der größere Teil der Wiesen in den Flußniederungen des Pripjat, Dnjepr, Sosch entfallen auf die radioaktiv verseuchte Zone …

Als Folge der ständigen Einwirkung von geringen Strahlendosen erhöht sich im Land mit jedem Jahr die Zahl der Personen mit Krebserkrankungen, geistiger Unterentwicklung, nervösen und psychischen Störungen sowie genetischen Mutationen …«

Band Tschernobyl. Weißrussische Enzyklopädie, 1996, S. 7, 24, 49, 101, 149

»Nach Beobachtungen wurde am 29. April 1986 eine hohe Strahlenbelastung in Polen, Deutschland, Österreich, Rumänien registriert, am 30. April in der Schweiz und Norditalien, vom 1. bis 2. Mai in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, Nordgriechenland. Am 3. Mai in Israel, Kuweit, der Türkei …

In große Höhe geschleuderte gasförmige und flüchtige Substanzen breiteten sich global aus: Am 2. Mai wurden sie in Japan registriert, am 4. Mai in China, am 5. Mai in Indien, am 5. und 6. Mai in den USA und in Kanada.

Weniger als eine Woche brauchte es, um Tschernobyl zum Problem der ganzen Welt werden zu lassen …«

Aus: Folgen des Tschernobyl-Unfalls in Weißrußland. Minsk. Internationales höheres Sacharow-College für Radioökologie, 1992, S. 82

»Der Reaktor 4, als Objekt ›Mantel‹ bezeichnet, enthält in seinem Blei-Stahlbeton-Leib nach wie vor ca. 200 Tonnen Kernbrennstoff, der teilweise mit Graphit und Beton vermengt ist. Was heute damit passiert, weiß niemand.

Der Sarkophag wurde in großer Eile errichtet, die Konstruktion ist sicher einmalig, die Ingenieure aus Petersburg, die sie entwickelt haben, können stolz darauf sein. Er sollte dreißig Jahre dienen. Aber er wurde ›auf Distanz‹ montiert, die Platten wurden mit Hilfe von Robotern und Hubschraubern zusammengefügt, daher rühren auch die Spalten. Einigen Berechnungen zufolge liegt die Gesamtfläche der Lücken und Spalten heute bei über 200 Quadratmetern, aus ihnen dringen weiterhin radioaktive Aerosole … Bei Nordwind erreichen den Süden radioaktive Staubpartikel: mit Uran, Plutonium, Cäsium. Mehr noch, an sonnigen Tagen sind bei ausgeschaltetem Licht im Reaktorsaal von oben herabfallende Lichtsäulen zu sehen. Was ist das? Auch Regen dringt nach innen. Und wenn Feuchtigkeit in die brennstoffhaltige Masse gelangt, kann eine Kernreaktion ausgelöst werden …

Der Sarkophag ist ein Leichnam, der noch atmet. Er atmet Tod. Wie lange wird er noch halten? Das kann niemand beantworten, es ist immer noch unmöglich, zu vielen Baugruppen und Konstruktionen vorzudringen, um zu erfahren, wie hoch ihr Sicherheitsgrad ist. Dafür wissen alle: Die Zerstörung des ›Mantels‹ würde Folgen nach sich ziehen, die noch schlimmer wären als 1986 …«

Zeitschrift Ogonjok, Nr. 17, April 1996

»Vor Tschernobyl kamen auf 100 000 Einwohner Weißrußlands 82 Fälle von Krebserkrankungen. Heute meldet die Statistik: 6000 Krebskranke auf 100 000 Einwohner. Eine 74fache Erhöhung.

Die Sterblichkeitsrate ist in den letzten zehn Jahren auf 23,5 % gestiegen. Nur jeder Vierzehnte stirbt an Altersschwäche, die meisten sterben im arbeitsfähigen Alter, zwischen 46 und 50. Eine medizinische Untersuchung in den am schlimmsten verseuchten Gebieten ergab: 7 von 10 Personen sind krank. Wenn man durch die Dörfer fährt, staunt man, wie sehr die Friedhöfe angewachsen sind …«

»Bis heute sind viele Zahlen unbekannt … Sie werden geheimgehalten, weil sie so ungeheuerlich sind. Die Sowjetunion schickte 800 000 Wehrpflichtige und Liquidatoren an den Ort der Katastrophe, das Durchschnittsalter der letzteren lag bei 33 Jahren. Die Rekruten hatte man gleich nach der Schule einberufen …

Allein in Weißrußland umfaßt die Liste der Liquidatoren 115 493 Namen. Laut Angaben des Gesundheitsministeriums starben zwischen 1990 und 2003 8533 Liquidatoren. Zwei Menschen am Tag …«

»So begann die Geschichte …

1986 … Die Titelseiten sowjetischer und ausländischer Zeitungen brachten Berichte über den Prozeß gegen die Schuldigen an der Katastrophe von Tschernobyl …

Und nun … Stellen Sie sich ein vierstöckiges Haus vor. Ein Haus ohne Bewohner, aber mit Sachen, mit Möbeln, mit Kleidung, die nie mehr jemand benutzen wird. Denn dieses Haus steht in Tschernobyl … In einem solchen Haus der toten Stadt gaben diejenigen, die über die Schuldigen an der Reaktorkatastrophe zu Gericht sitzen sollten, eine kleine Pressekonferenz für die Journalisten. Auf allerhöchster Ebene, im ZK der KPdSU, war entschieden worden, den Fall vor Ort zu verhandeln. In Tschernobyl. Das Gericht tagte im Gebäude des örtlichen Kulturhauses. Auf der Anklagebank saßen sechs Personen: der Direktor des Kernkraftwerks, Viktor Brjuchanow, der Chefingenieur Nikolai Fomin, der stellvertretende Chefingenieur Anatoli Djatlow, der Schichtleiter Boris Rogoshkin, der Leiter der Reaktorabteilung, Alexander Kowalenko, und der Inspektor der zentralen sowjetischen Atomenergieaufsichtsbehörde, Juri Lauschkin.

Die Zuschauerplätze waren leer. Bis auf die Journalisten. Hier lebte ja auch niemand mehr, die Stadt war ›geschlossen‹ worden, als ›Zone strenger radioaktiver Kontrolle‹. Hatte man sie vielleicht deshalb zum Prozeßort bestimmt? Je weniger Zeugen, desto weniger Lärm. Keine Fernsehkameras und keine westlichen Journalisten. Natürlich wollten alle ein Dutzend verantwortlicher Beamter auf der Anklagebank sehen, auch aus Moskau. Auch die moderne Wissenschaft sollte sich verantworten. Aber man beschränkte sich auf ein paar Sündenböcke.

Das Urteil … Viktor Brjuchanow, Nikolai Fomin und Anatoli Djatlow bekamen je 10 Jahre. Die anderen weniger. Anatoli Djatlow und Juri Lauschkin starben im Gefängnis an den Folgen ihrer hohen Strahlendosis. Der Chefingenieur Nikolai Fomin verlor den Verstand … Kraftwerksdirektor Viktor Brjuchanow verbüßte die gesamten zehn Jahre. Bei seiner Rückkehr wurde er von seinen Angehörigen und einigen...

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