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E-Book

Tugce

Ein Schicksal bewegt Deutschland

AutorIsmail Erel
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783741258657
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die junge Studentin Tugce Albayrak half im November 2014 zwei Mädchen in Not, die von mehreren Jugendlichen auf einer Damentoilette bedrängt wurden. Im Rahmen dieser Hilfeleistung zog sie die Aggression des späteren Täters auf sich. Er schlug Tugce Albayrak so hart, dass sie mit ihrem Kopf auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants aufschlug. Durch den Aufprall wurde Tugce schwer verletzt. Aus dem Koma wachte sie nicht mehr auf und verstarb an ihrem 23. Geburtstag. Tausende Menschen nahmen im Krankenhaus und auch später am Friedhof Abschied von Tugce. Doch was war das Geheimnis, dass tausende Menschen so großen Anteil an Tugces Schicksal nahmen? Tugces Mutter Sultan Albayrak erzählt in diesem Buch über das Leben ihrer Tochter, aber auch über die dramatischen Krankenhaustage.

Ismail Erel ist ein deutsch-türkischer Enthüllungsjournalist. Er arbeitete für verschiedene türkische Zeitungen in Europa in leitenden Funktionen. Viele seiner Artikel wurden auch in der Türkei veröffentlicht. Mit Interviews mit einem türkischen Doppelagenten, die Berichte über den türkischen Spendenskandal Deniz Feneri sowie die Ceska-Serienmorde schrieb Erel hauptsächlich über Themen aus Deutschland. Über die Serienmorde schrieb er bis zur Aufdeckung des NSU. Mit seiner Klage im Jahre 2013 gegen das erste Akkreditierungsverfahren im NSU-Prozess erreichte er vor dem Bundesverfassungsgericht eine Neuauflage der Akkreditierungen. Bei dem ersten Verfahren waren alle türkischen Medien leer ausgegangen. Im Herbst 2014 schrieb er die tragische Geschichte von Tugce Albayrak für die BILD-Zeitung. Das Drama um Tugce ging um die ganze Welt. Über ein Jahr hat er die Familie begleitet, Tugces Geschichte recherchiert. Ismail Erel ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt mit seiner Familie bei Frankfurt am Main.

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Leseprobe

1. Kapitel

TUĞÇE - EIN ZU KURZES LEBEN


Sultan Albayrak: Meine Tochter Tuğçe

Donnerstag, der 28. November 1991. Es war ein kalter Novembertag. Als ich sie zum ersten Mal in meinen Armen hielt, wurde mir warm. Ich fühlte ein nicht zu beschreibendes Glück. Nach zwei Söhnen hatte ich nun eine Tochter bekommen. Meiner Tochter, die mein Leben verändern sollte, gaben wir den Namen Tuğçe. Eigentlich hatten wir einen ganz anderen Namen im Sinn.

Als wir erfuhren, dass es ein Mädchen werden sollte, fing schon die Namenssuche an. »Was für ein Name könnte es sein?« Das war die Frage aller Fragen. Sie war etwas Besonderes. Das erste Mädchen. Also sollte sie auch einen besonderen Namen haben.

1991, während der Schwangerschaft, hatten wir unseren Sommerurlaub in Alanya verbracht. In unserem Hotel war auch ein süßes Mädchen. Dieses Mädchen hieß Ceren. Der Name gefiel uns sehr, sodass wir uns für »Ceren« entschieden. Ich hatte fast jeden gebeten für mich eine Namensliste zu erstellen. Doch mit der Zeit verging mir die Lust am Namen »Ceren«. Da der Name immer wieder ausgesprochen wurde, fand ich ihn auf einmal langweilig. Mein neuer Favorit war jetzt »Gözde«.

Doch auch diesen Namen ereilte das gleiche Schicksal. So oft wie die Frage: »Welchen Namen soll sie denn haben?« gestellt wurde, so oft kam auch der Name »Gözde« über unsere Lippen.

Kurz bevor Tuğçe geboren wurde, lag ich im Krankenhaus. Fehlalarm. Dort lag eine türkische Frau. Wir sprachen miteinander. »Meine soll Gözde heißen«, sagte ich. Ich glaube, auch sie sollte eine Tochter bekommen. Als wir uns über Namen unterhielten, fiel auf einmal der Name »Tuğçe«. Ich merkte mir den Namen. Bis zum Schluss hielt ich eigentlich an »Gözde« fest. Bis mein Cousin auch den Namen »Tuğçe« erwähnte. Erst da gefiel mir der Name richtig gut. Dann gab ich meine Entscheidung bekannt. Doch jeder war irgendwie dagegen. Man hatte sich schon an »Gözde« gewöhnt. »Was ist das denn für ein Name?« sagten einige. »Was bedeutet der Name überhaupt?« fragten andere. Meine Schwiegermutter und sogar mein Vater waren auch dagegen. Ich sagte nur: »Ich werde schon noch erfahren, was der Name bedeutet.«

Weil es damals ja kein Internet gab, war es auch nicht leicht, sofort etwas herauszubekommen. Dabei kam mir der Gedanke, eine Zeitung anzurufen und nachzufragen. Also rief ich die »Hürriyet« an. Am anderen Ende der Leitung war eine Frau. »Hallo. Ich möchte meine Tochter gerne Tuğçe nennen. Doch ich kenne die Bedeutung nicht. Deswegen habe ich Schwierigkeiten den Namen durchzusetzen. Und das nervt mich. Können Sie mir sagen, was der Name Tuğçe bedeutet?« fragte ich sie.

Prompt kam die Antwort: »Tuğçe ist ein sehr schöner Name. Tuğçe bedeutet Krone. Der unbezahlbare Stein auf der Krone.«

Ich war ausgesprochen froh über diese Antwort und bedankte mich bei der Frau: »Auch die Bedeutung ist schön. Keiner kann mich jetzt noch umstimmen.«

Ich habe später noch einmal nachgeschaut. »Tuğçe« soll auch »Der größte Stern« oder »Ast eines Baumes im Paradies« bedeuten. Wir hatten bei der Namenswahl aber »Krone« berücksichtigt.

Tuğçe ging unerwartet von uns. Genauso unerwartet, wie sie zur Welt gekommen ist. Ich hatte mit meinem Mann Ali und unseren beiden Söhnen Ulaş und Doğuş ein glückliches Leben. Um unseren Kindern eine gute Zukunft vorzubereiten, taten wir alles, was in unserer Hand lag. Wir arbeiteten beide.

Eigentlich wollten wir kein drittes Kind. Doch Gott schenkte mir eine Tochter wie Tuğçe. Gott gab, Gott nahm. Ich wusste nicht, dass ich schwanger war. Auf der Arbeit hatte ich immer Hunger auf Salziges. Als ich kurze Zeit später mal beim Arzt war, erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Ich kann ganz ehrlich sagen, dass ich mich in diesem Moment überhaupt nicht gefreut habe. Das war etwas, was wir überhaupt nicht erwartet oder geplant hatten. Weil wir schon beide arbeiten mussten, passten auf die Kinder meine Mutter oder meine Nichte Yasemin auf. Wie sollte das mit dem dritten Kind überhaupt gehen?

Tuğçe mit ihren Brüdern Doğuş (links) und Ulaş.

Auch an dem Tag, als ich von der Schwangerschaft erfuhr, waren meine Kinder bei Yasemin. Ich kam nach Hause und fing sofort an zu weinen. Yasemin fragte, was los sei. »Yasemin, ich bin schwanger«, antwortete ich. Doch Yasemin munterte mich auf. »Ach, wie schön! Dann wird es ein Mädchen und wir ziehen sie groß«, sagte sie. Wie gesagt passten schon auf meine beiden Söhne entweder Yasemin oder meine Mutter auf. »Wir kümmern uns auch um die Kleine«, sagte Yasemin. Aber ich war mir unsicher. »Drei Kinder hintereinander? Das muss ich mir überlegen.« Ich fühlte mich gewaltig unter Druck.

Als ich dann Ali von der Schwangerschaft erzählte, war er auch froh. »Wie schön. Dann wird’s halt ein Mädchen«, sagte er. Doch ich wollte nicht. »Nein, ich werde abtreiben«, sagte ich. Ali war strikt dagegen.

Ich ging zum Arzt und erklärte ihm die Lage. »Ich habe bereits zwei kleine Kinder zu Hause. Ich kann mich nicht um das Neugeborene kümmern.« Ich wollte abtreiben.

Dann bekam ich den Termin. Ich habe in der Zwischenzeit noch ein bisschen überlegt. Ali wollte ja auch nicht, dass ich abtreibe. Aber ich war eigentlich fest entschlossen. Doch die Menschen in meiner Umgebung gaben mir Mut: »Wir können uns auch um die Kleine kümmern.«

Ich sagte den Termin ab. Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Dank dieser Entscheidung konnte ich eine wunderschöne Tochter auf die Welt bringen.

Tuğçe beim Klavierspielen.

Die Entscheidung war gefallen. Das Kind sollte geboren werden. Aber war es ein Mädchen oder doch ein Junge? Weil das Baby im Bauch sehr ungünstig lag, konnte man das Geschlecht nicht eindeutig bestimmen. Der Arzt sagte: »Sieht zwar aus wie ein Mädchen. Machen Sie sich aber nicht allzu große Hoffnungen.«

In der Türkei war Ali mit den Kindern auf einem Jahrmarkt im Gülhane Park in Istanbul. Ich blieb zu Hause. Auf dem Jahrmarkt seien zwei junge Mädchen auf Ali zugekommen und hätten gefragt, ob sie ihm die Karten legen dürften. Sie würden dann über seine Zukunft etwas erzählen. Ali erzählte mir davon zu Hause und wie die Mädchen ihm gesagt hätten: »Sie werden ein Mädchen bekommen«. Ich glaube sogar, dass er das Ergebnis von damals immer noch aufhebt.

Meine Schwester kann auch gut Karten lesen. Auch sie meinte damals: »Ihr werdet eine Tochter bekommen, wie eine Prinzessin, wie eine Königin.«

In unserem Verwandtenkreis gab es zu diesem Zeitpunkt kein einziges kleines Mädchen. Als Tuğçe geboren wurde, war sie schon fast heilig für uns. Am 28. November 1991 hielten wir unsere kleine Tochter in den Armen.

Die Schwangerschaft war aber ganz anders als bei den beiden ersten Geburten. Bei meinen Söhnen sehnte ich mich nach Kakao. Abends trank ich immer Kakao. Bei Tuğçe war das anders. Bei Tuğçe wollte ich immer saure Gurken, eingelegte Peperoni, Ayran (türkisches Joghurtgetränk) und andere, sehr salzhaltige Lebensmittel. Bei Doğuş war das eher Schokolade, Kakao. Tuğçe scheint sich im Mutterleib an Salziges gewöhnt zu haben. Auch sie mochte eher salzige Lebensmittel.

Ich arbeitete damals mit meiner Mutter und meinem Onkel zusammen in einer Firma. Mein Onkel hatte immer Ayran dabei. Natürlich hat er uns immer ein Glas angeboten. Damals wusste ich noch nicht, dass ich schwanger bin. Aber nach jedem Glas bat ich meinen Onkel, den nächsten Ayran mit noch mehr Salz zu machen. Doch egal wie salzig der Ayran war, ich hatte immer das Bedürfnis, ihn mit noch mehr Salz zu trinken. Das fiel anscheinend meinem Onkel auf. Er soll daraufhin meine Mutter gefragt haben, ob ich schwanger sei. Weil zu diesem Zeitpunkt die Schwangerschaft noch niemandem bekannt war, habe meine Mutter das natürlich auch verneint.

Jedermanns Liebling

Als Tuğçe schließlich geboren wurde, waren wir überglücklich. Wie gesagt hatte damals auch keiner unserer Verwandten eine kleine Tochter. Nicht nur wir: alle hatten Tuğçe sehr lieb. Mein Mann Ali nutzte das ab und zu natürlich aus, um seine Brüder zu ärgern. Wenn wir bei ihnen waren und die Onkel Tuğçe küssen wollten, meinte Ali einfach: »Moment. Ihr habt keine Tochter. Um sie küssen zu können müsst ihr erst einmal 5 Mark bezahlen.«

Ali mochte es, die nahen Verwandten mit Tuğçe zu ärgern. Weil es für uns alle auch sozusagen ein »Alleinstellungsmerkmal« war. Denn wir hatten eine Tochter. Und jeder mochte Tuğçe.

Als jüngstes Kind hat man ja allgemein mehr Beachtung, man bekommt mehr Aufmerksamkeit. Und weil Tuğçe auch noch ein Mädchen war, war die ihr von der Familie entgegengebrachte Zuneigung für die anderen Kinder fast bedrückend. Als Kind hatte man bestimmt das Gefühl, nicht das Lieblingskind zu sein. Das scheint wohl auch Ulaş ein wenig gestört zu haben. Eines Tages bemerkte ich eine verdächtige Stille im Kinderzimmer. Als ich das Zimmer betrat, sah ich wie Ulaş ein Kissen in der Hand hatte. Und das Kissen war direkt über Tuğçes Gesicht. »Ulaş, was machst du da?« fragte ich ihn, obwohl die Situation natürlich für mich klar war. »Nichts. Ich spiele mit ihr. Ich hab sie lieb«, sagte er. Dann habe ich mit ihm ein kurzes Gespräch geführt. »Wenn du das machst, dann tust Du ihr aber weh. Gott bewahre, sie könnte sogar sterben.«

Von diesem Moment an habe ich Tuğçe als Baby nicht eine Sekunde alleine gelassen.

Mit Tuğçe wurden wir noch glücklicher, unser Leben noch bunter. Als Baby war sie sehr süß. Jeder Tag mit Tuğçe hatte eine andere...

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