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Twelve Stars - Deutsche Ausgabe

Philosophen schlagen einen Kurs für Europa vor

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783867938792
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Denkanstöße von 24 führenden europäischen Philosophen versammelt dieser Band. Sie machen ganz konkrete Vorschläge zu den politischen Entscheidungen, denen sich die Europäische Union jetzt stellen muss: Unter anderem fordern die Autoren ein europäisches Grundeinkommen; eine Finanzregulierung und -aufsicht; und nicht zuletzt eine Stärkung der Rolle der Nationalparlamente in der europäischen Politik. Der Band holt die Philosophie aus dem Elfenbeinturm und in die Praxis. Denker, denen das europäische Projekt am Herzen liegt, treten ins europäische Bürgergespräch ein. Die Vorschläge wurden von ihren Autoren mit europäischen Bürgern online diskutiert; die daraus entstandenen Einwände und Argumente aus diesen Debatten werden im Buch dargestellt. Das neuartige Verfahren zeigt, wie philosophisch diszipliniertes Denken helfen kann, die tiefen Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft der EU zu überbrücken.

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Leseprobe

Philippe Van Parijs


Die Eurodividende


Vorschlag


Die EU sollte jedem legalen Bewohner der Europäischen Union oder der Eurozone ein moderates Grundeinkommen zahlen, das durch die Mehrwertsteuer finanziert wird.

Begründung


Die Überweisung einer Eurodividende wäre sinnvoll, um Ungleichgewichte zwischen EU-Ländern zu beheben. Eine Eurodividende würde die Anreize für EU-Bürger, aus ärmeren Ländern fortzugehen, mindern. Eine Eurodividende würde außerdem EU-Staaten helfen, mit dem Druck auf ihre Wohlfahrtssysteme fertig zu werden, der durch den freien Grenzverkehr von Kapital, Personen, Waren und Dienstleistungen entsteht. Letztlich würde eine Eurodividende den Bürgern auch die Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft deutlich machen.

Philippe Van Parijs, geboren in Brüssel, Belgien. Professor an der Katholischen Universität Löwen, Belgien, wo er den Hoover-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialethik begründet hat.

Kritisieren ist leicht und unsere höchst unvollkommene Europäische Union (EU) ist eine dankbare Zielscheibe. Konkrete Verbesserungsvorschläge zu machen, ist sehr viel schwieriger. Hier ist einer: schlicht, radikal und doch genauso vernünftig wie dringlich.

Ich schlage eine Eurodividende vor. Sie besteht darin, jedem rechtmäßigen Einwohner der EU – oder zumindest jener Länder, die den Euro als Währung nutzen oder zugesagt haben, dies zu tun, sobald sie sie Voraussetzungen dafür erfüllen – ein bescheidenes Grundeinkommen auszuzahlen. Die Idee ist es, jedem Einwohner ein einheitliches und bedingungsloses Mindesteinkommen zu geben, das nach Belieben durch Arbeitsentgelte, Kapitaleinkünfte und Sozialleistungen aufgestockt werden kann. Die Höhe könnte entsprechend der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten von Land zu Land variieren. Es könnte auch für ältere Menschen höher sein, für jüngere niedriger.

Der Begriff „Dividende“ – das „zu Verteilende“ – bezeichnet üblicherweise jenen Anteil eines Gewinns, den eine Aktiengesellschaft an ihre Aktionäre ausschüttet. Die Eurodividende kann als die Verteilung eines Teils der Gewinne der wirtschaftlichen Integration Europas an die Gesamtbevölkerung verstanden werden. Ich schlage vor, dafür die Mehrwertsteuer zu nutzen. Um allen Einwohnern der EU eine durchschnittliche Eurodividende von 200 Euro pro Monat auszahlen zu können, müsste man die Mehrwertsteuer EU-weit um ungefähr 20 Prozentpunkte erhöhen, was knapp 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU entspräche.

Europa ist anders als die USA; deshalb brauchen wir die Eurodividende

Das sind happige Beträge. Warum benötigen wir ein so beispiellos großes Projekt? Im Folgenden werde ich vier Gründe anführen, von denen der dringlichste die anhaltende Krise in der Eurozone ist. Warum kommen die USA seit Jahrhunderten mit einer Einheitswährung gut zurecht, obwohl sich die amerikanischen Bundesstaaten stark unterscheiden und sich wirtschaftlich ganz unterschiedlich entwickeln, während die Eurozone schon nach einem Jahrzehnt am Rande des Zusammenbruchs stand? Warum haben die Vereinigten Staaten die Schäden der Finanzkrise mehr oder minder überwunden, während Europa noch immer unter ihr leidet? Ökonomen wie Milton Friedman und Amartya Sen haben uns immer wieder gewarnt: Vor der Einführung des Euros konnten europäische Staaten den Druck nur einseitig auftretender wirtschaftlicher Schocks oder von Land zu Land unterschiedlich verlaufender Entwicklungen durch das Sicherheitsventil der Wechselkursanpassung ablassen. Europa fehlen jedoch die beiden abfedernden Mechanismen, die den Vereinigten Staaten seit jeher als Ersatz für dieses Sicherheitsventil dienen.

Einer dieser Puffer sind die Wanderungsbewegungen zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Der Anteil der US-Bürger, die in einem bestimmten Zeitraum von einem in den anderen Bundesstaat ziehen, ist ungefähr sechsmal höher als der Anteil der EU-Bürger, die ihren Wohnsitz in einen anderen EU-Mitgliedstaat verlegen. Europäer mögen zwar mit jeder Generation ein wenig mobiler werden. Inwieweit wir erwarten – oder auch hoffen – können, diesen ersten Ausgleichsmechanismus zu verstärken, wird durch die sprachliche Vielfalt auf unserem Kontinent jedoch eng begrenzt. Athens Arbeitslose werden niemals so mühelos nach München ziehen wie Jobsuchende aus Detroit nach Austin.

Der zweite wirksame Puffermechanismus der Dollarzone besteht aus einem automatischen Länderfinanzausgleich. In den USA wird er im Wesentlichen durch Sozialleistungen erreicht, die überwiegend auf Bundesebene organisiert und finanziert werden. Beide Puffer zusammen bewirken, dass Michigan oder Missouri in Wirtschaftskrisen niemals in eine Abwärtsspirale geraten könnten wie Griechenland. Die Arbeitslosigkeit wird bei ihnen durch Abwanderung gemildert. Zum anderen führen verringerte Steuereinnahmen bei gleichzeitig steigenden Sozialausgaben dazu, dass ein wachsender Teil dieser Sozialleistungen de facto vom Rest der USA bezahlt wird.

Nach jüngsten Schätzungen beträgt der Umfang dieses automatischen Ausgleichs – je nach angewandter Methode – zwischen 20 und 40 Prozent der Gesamtaufwendungen zur Abfederung des wirtschaftlichen Abschwungs eines Mitgliedstaates. In der EU hingegen wird weniger als ein Prozent dieser Kosten durch Anpassungen der zwischenstaatlichen Transferzahlungen aufgefangen.

Da EU-Bürger ungern auswandern und viele EU-Mitgliedsländer Einwanderer nur widerwillig aufnehmen, taugt Migration als Puffer innerhalb Europas kaum. Umso weniger kann die EU es sich leisten, ohne einen Länderfinanzausgleich auszukommen. Wie sollte er gestaltet werden? Theoretisch lässt sich ein EU-weiter Megawohlfahrtsstaat denken. Doch selbst die wenigen, die derlei für wünschenswert halten, müssen einräumen, dass es kaum je Wirklichkeit werden wird. Dafür sind die Unterschiede zwischen den bestehenden nationalen Sozialstaaten, an denen die Bürgerinnen und Bürger verständlicherweise hängen, einfach zu groß. Benötigt wird vielmehr eine zugleich maßvollere und gröbere, pauschalere Lösung, wie sie eher den Traditionen und Prinzipien der EU entspricht. Wenn unsere Währungsunion überleben soll, müssen wir sie mit neuen Instrumenten ausstatten. Eines davon ist ein Mechanismus, um wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb der EU abzufedern; dies kann nur so etwas wie die Eurodividende sein.

Europas Vielfalt verlangt eine Eurodividende

Der zweite Grund, weshalb wir Transferleistungen zwischen den Nationalstaaten benötigen, betrifft die EU als Ganzes. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt des europäischen Kontinents macht es nicht nur teurer und dementsprechend komplizierter für die betroffenen Menschen, von einem Staat in den anderen zu ziehen. Sie schmälert auch die Vorteile und erhöht die Kosten solcher Wanderungsbewegungen für die davon betroffenen Gesellschaften. Die gesellschaftliche wie wirtschaftliche Eingliederung in die neue Umgebung dauert länger, verlangt Verwaltung und Bildungseinrichtungen mehr ab und schafft länger anhaltende Spannungen als Umzüge zwischen den Staaten der USA. Wenn Migranten aus nicht nur ärmeren, sondern auch sprachlich und kulturell grundverschiedenen Ländern in wohlhabende Metropolregionen ziehen, dann kann das unter der dort ansässigen Bevölkerung den Eindruck einer Invasion wecken. Solche Gefühle als Rassismus anzuprangern, macht sie nicht weniger wirklich oder gefährlich.

Sie verstärken den Drang, Grenzen zu schließen und sowohl die Freizügigkeit als auch Diskriminierungsverbote zurückzunehmen. Die rasche Abwanderung großer Teile der Bevölkerung untergräbt zudem den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftlichen Aussichten in den Herkunftsländern. Es gibt jedoch eine Alternative, die wesentlich weniger Unordnung stiftet: systematische Transferleistungen vom Zentrum in die Peripherie. Sie würden verhindern, dass Menschen, nur um ihren Lebensunterhalt zu sichern, entwurzelt würden und Heimat und Verwandte verlassen müssten. Stattdessen könnte die Bevölkerung in den abgebenden wie aufnehmenden Staaten so weit stabilisiert werden, dass die Einwanderung in den Wachstumsregionen besser verkraftet wird und die Abwanderung in den Randregionen weniger Schaden anrichtet. Wenn sie politisch Bestand haben und wirtschaftlich und sozial erfolgreich sein will, muss eine Europäische Union mit Personenfreizügigkeit etwas in der Art einer Eurodividende einführen.

Die vier Freiheiten des EU-Binnenmarkts erfordern die Eurodividende

Der dritte und tiefste Grund für die Eurodividende ist dieser: Die freie Bewegung von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinweg untergräbt deren Fähigkeit, jene Umverteilungsaufgaben...

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