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Über die Religion

Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern

AutorFriedrich Schleiermacher
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl174 Seiten
ISBN9783847813392
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,49 EUR
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg: Felix Meiner, 1958 (Philosophische Bibliothek, Bd. 255). Erstdruck: Berlin 1799 (anonym).

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Zweite Rede

Über das Wesen der Religion

Ihr werdet wissen wie der alte Simonides durch immer wiederholtes und verlängertes Zögern denjenigen zur Ruhe verwies, der ihn mit der Frage belästigt hatte: was wohl die Götter seien. Ich möchte bei der weit größeren und mehr umfassenden: »was die Religion ist«, gern mit einer ähnlichen Zögerung anfangen.

Natürlich nicht in der Absicht um zu schweigen, und Euch wie Jener in der Verlegenheit zu lassen, sondern damit Ihr von ungeduldiger Erwartung hingehalten, eine Zeitlang Eure Blicke unverwandt auf den Punkt hinrichten möget, den wir suchen, und Euch aller andern Gedanken indes gänzlich entschlagen. Ist es doch die erste Forderung derer, welche nur gemeine Geister beschwören, daß der Zuschauer, der ihre Erscheinungen sehen und in ihre Geheimnisse eingeweiht werden will, sich durch Enthaltsamkeit von irdischen Dingen und durch heilige Stille vorbereite, und dann, ohne sich durch den Anblick fremder Gegenstände zu zerstreuen, mit ungeteilten Sinnen auf den Ort hinschaue, wo die Erscheinung sich zeigen soll. Wieviel mehr werde ich einen ähnlichen Gehorsam verlangen dürfen, der ich einen seltenen Geist hervorrufen soll, welcher nicht in irgend einer vielgesehenen geläufigen Larve zu erscheinen würdiget, und den Ihr lange mit angestrengter Aufmerksamkeit werdet beobachten müssen, um ihn zu erkennen, und seine bedeutsamen Züge zu verstehen. Nur wenn Ihr vor den heiligen Kreisen stehet, mit der unbefangensten Nüchternheit des Sinnes, die jeden Umriß klar und richtig auffaßt, und, voll Verlangen das Dargestellte aus sich selbst zu verstehen, weder von alten Erinnerungen verführt, noch von vorgefaßten Ahndungen bestochen wird, kann ich hoffen, daß Ihr meine Erscheinung wo nicht liebgewinnen doch wenigstens Euch über ihre Gestalt mit mir einigen, und sie für ein himmlisches Wesen erkennen werdet. Ich wollte, ich könnte sie Euch unter irgendeiner wohlbekannten Bildung vorstellen, damit Ihr sogleich ihrer Züge, ihres Ganges, ihrer Manieren Euch erinnern und ausrufen möchtet, daß Ihr sie hier oder dort im Leben so gesehen habt. Aber ich würde Euch betrügen; denn so unverkleidet wie sie dem Beschwörer erscheint, wird sie unter den Menschen nicht angetroffen, und hat sich in ihrer eigentümlichen Gestalt wohl lange nicht erblicken lassen. So wie die besondere Sinnesart der verschiedenen kultivierten Völker, seitdem durch Verbindungen aller Art ihr Verkehr vielseitiger und des Gemeinschaftlichen unter ihnen mehr geworden ist, sich in einzelnen Handlungen nicht mehr so rein und bestimmt darstellt, sondern nur die Einbildungskraft die ganze Idee dieser Charaktere auffassen kann, die im Einzelnen nicht anders als zerstreut und mit vielem Fremdartigen vermischt angetroffen werden; so ist es auch mit geistigen Dingen, und unter ihnen mit der Religion. Es ist Euch ja bekannt, wie jetzt alles voll ist von harmonischer Ausbildung, und eben diese hat eine so vollendete und ausgebreitete Geselligkeit und Freundschaft innerhalb der menschlichen Seele gestiftet, daß jetzt unter uns keine von ihren Kräften, so gern wir sie auch abgesondert denken, in der Tat abgesondert handelt, sondern bei jeder Verrichtung sogleich von der zuvorkommenden Liebe und wohltätigen Unterstützung der Andern übereilt und von ihrer Bahn etwas abgetrieben wird, so daß man sich in dieser gebildeten Welt vergeblich nach einer Handlung umsieht, die von irgend einem Vermögen des Geistes, es sei Sinnlichkeit oder Verstand, Sittlichkeit oder Religion, einen treuen Ausdruck abgeben könnte.

Seid deswegen nicht ungehalten, und deutet es nicht als eine Geringschätzung der Gegenwart, wenn ich Euch öfters der Anschaulichkeit halber in jene kindlicheren Zeiten zurückführe, wo in einem unvollkommneren Zustande noch alles abgesonderter und einzelner war; und wenn ich gleich damit anfange, und immer wieder auf einem andern Wege sorgfältig darauf zurückkomme, vor jeder Verwechselung der Religion mit dem was ihr hie und da ähnlich sieht, und womit Ihr sie überall vermischt finden werdet, nachdrücklich zu warnen.

Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet Ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm. Diese Gleichheit ist von lange her ein Grund zu mancherlei Verirrungen gewesen; daher ist Metaphysik und Moral in Menge in die Religion eingedrungen, und manches was der Religion angehört, hat sich unter einer unschicklichen Form in die Metaphysik oder die Moral versteckt. Werdet Ihr aber deswegen glauben, daß sie mit einer von beiden einerlei sei? Ich weiß, daß Euer Instinkt Euch das Gegenteil sagt, und es geht auch aus Euren Meinungen hervor; denn Ihr gebt nie zu, daß sie mit dem festen Tritte einhergeht, dessen die Metaphysik fähig ist, und Ihr vergesset nicht fleißig zu bemerken, daß es in ihrer Geschichte eine Menge garstiger unmoralischer Flecken gibt. Soll sie sich also unterscheiden, so muß sie ihnen ungeachtet des gleichen Stoffs auf irgendeine Art entgegengesetzt sein; sie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältnis der Menschen zu demselben ausdrücken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, was dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere Natur und ein eigentümliches Dasein bekommen. Ich frage Euch also: was tut Euere Metaphysik – oder wenn Ihr von dem veralteten Namen, der Euch zu historisch ist, nichts wissen wollt – Euere Transzendentalphilosophie? sie klassifiziert das Universum und teilt es ab in solche Wesen und solche, sie geht den Gründen dessen was da ist nach, und deduziert die Notwendigkeit des Wirklichen, sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Gesetze. In dieses Gebiet darf sich also die Religion nicht versteigen, sie darf nicht die Tendenz haben Wesen zu setzen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deduktionen zu verlieren, letzte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen. – Und was tut Euere Moral? Sie entwickelt aus der Natur des Menschen und seines Verhältnisses gegen das Universum ein System von Pflichten, sie gebietet und untersagt Handlungen mit unumschränkter Gewalt. Auch das darf also die Religion nicht wagen, sie darf das Universum nicht brauchen um Pflichten abzuleiten, sie darf keinen Kodex von Gesetzen enthalten. – »Und doch scheint das, was man Religion nennt, nur aus Bruchstücken dieser verschiedenen Gebiete zu bestehen.« – Dies ist freilich der gemeine Begriff. Ich habe Euch letzthin Zweifel gegen ihn beigebracht; es ist jetzt Zeit ihn völlig zu vernichten. Die Theoretiker in der Religion, die aufs Wissen über die Natur des Universums und eines höchsten Wesens, dessen Werk es ist, ausgehen, sind Metaphysiker; aber artig genug, auch etwas Moral nicht zu verschmähen. Die Praktiker, denen der Wille Gottes Hauptsache ist, sind Moralisten; aber ein wenig im Stile der Metaphysik. Die Idee des Guten nehmt Ihr und tragt sie in die Metaphysik als Naturgesetz eines unbeschränkten und unbedürftigen Wesens, und die Idee eines Urwesens nehmt Ihr aus der Metaphysik und tragt sie in die Moral, damit dieses große Werk nicht anonym bleibe, sondern vor einem so herrlichen Kodex das Bild des Gesetzgebers könne gestochen werden. Mengt aber und rührt wie Ihr wollt, dies geht nie zusammen. Ihr treibt ein leeres Spiel mit Materien, die sich einander nicht aneignen. Ihr behaltet immer nur Metaphysik und Moral. Dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt, und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar für zwei) nennt Ihr Religion! und den Instinkt der jene Meinungen sucht, nebst den dunklen Ahndungen, welche die eigentliche letzte Sanktion dieser Gebote sind, nennt Ihr Religiosität! Aber wie kommt Ihr denn dazu, eine bloße Kompilation, eine Chrestomathie für Anfänger für ein eignes Werk zu halten, für ein Individuum eignen Ursprunges und eigener Kraft? Wie kommt Ihr dazu, seiner zu erwähnen, wenn es auch nur geschieht um es zu widerlegen? Warum habt Ihr es nicht längst aufgelöset in seine Teile und das schändliche Plagiat entdeckt? Ich hätte Lust, Euch durch einige sokratische Fragen zu ängstigen, und Euch zu dem Geständnisse zu bringen, daß Ihr in den gemeinsten Dingen die Prinzipien gar wohl kennt, nach denen das Ähnliche zusammengestellt und das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet werden muß, und daß Ihr sie hier mir nicht anwenden wollet, um mit der Welt über einen ernsten Gegenstand scherzen zu können. Wo ist denn die Einheit in diesem Ganzen? wo liegt das verbindende Prinzip für diesen ungleichartigen Stoff! Ist es eine eigne anziehende Kraft, so müßt Ihr gestehen, daß Religion das Höchste ist in der Philosophie, und daß Metaphysik und Moral nur untergeordnete Abteilungen von ihr sind; denn das worin zwei verschiedene aber entgegengesetzte Begriffe eins werden, kann nichts anders sein, als das Höhere, unter welches sie beide gehören. Liegt dies bindende Prinzip in der Metaphysik, habt Ihr aus Gründen, die ihr angehören, ein höchstes Wesen als moralischen Gesetzgeber erkannt, so vernichtet doch die praktische Philosophie, und gesteht daß sie, und mit ihr die Religion, nur ein kleines Kapitel der theoretischen ist. Wollt Ihr das umgekehrte behaupten; so müssen Metaphysik und Religion von der Moral verschlungen werden, der freilich, nachdem sie glauben gelernt und sich in ihren alten Tagen bequemt hat in ihrem innersten Heiligtume den geheimen Umarmungen zweier sich liebender Welten ein stilles Plätzchen zu bereiten, nichts mehr unmöglich sein mag. Oder wollt Ihr etwa sagen, das Metaphysische in der Religion hänge nicht vom Moralischen ab, und dieses nicht von...

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