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E-Book

Über die Religion

Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern

AutorFriedrich Schleiermacher
VerlagBookRix
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl305 Seiten
ISBN9783730991121
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Friedrich Schleiermann war Professor der Theologie und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ein enger Freund Friedrich Schlegels und berühmter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche. Sein Buch ist ein Klassiker über die Theologie des 19. Jahrhunderts. Coverbild: © design36/Shutterstock.com

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Leseprobe

2. Über das Wesen der Religion


Ihr werdet wissen, wie der alte Simonides durch immer wiederholtes und verlängertes Zögern denjenigen zur Ruhe verwies, der ihn mit der Frage belästigt hatte, was wohl die Götter seien.

Ich möchte nicht ungern bei der unsrigen, jener so genau entsprechenden und nicht minder umfassenden, was Religion sei, mit einer ähnlichen Zögerung anfangen.

Natürlich nicht in der Absicht, um zu schweigen und euch wie jener in der Verlegenheit zu lassen; sondern ob ihr etwa, um auch für euch selbst etwas zu versuchen, eure Blicke eine Zeit lang unverwandt auf den Punkt, den wir suchen, wolltet gerichtet halten, und euch aller anderen Gedanken indes gänzlich entschlagen.

Ist es doch die erste Forderung auch derer, welche nur gemeine Geister beschwören, dass der Zuschauer, der ihre Erscheinungen sehen und in ihre Geheimnisse will eingeweiht werden, sich durch Enthaltsamkeit von irdischen Dingen und durch heilige Stille vorbereite, und dann, ohne sich durch den Anblick fremder Gegenstände zu zerstreuen mit ungeteilten Sinnen auf den Ort hinschaue, wo die Erscheinung sich zeigen soll.

Wie viel mehr werde ich eine solche Folgsamkeit verlangen dürfen, der ich euch einen seltenen Geist hervorrufen soll, welchen ihr lange mit angestrengter Aufmerksamkeit werdet beobachten müssen, um ihn für den, den ihr begehrt, zu erkennen und seine bedeutsamen Züge zu verstehen.

Ja gewiss, nur wenn ihr vor den heiligen Kreisen steht mit jener unbefangenen Nüchternheit des Sinnes, die jeden Umriss klar und richtig auffasst, und weder von alten Erinnerungen verführt, noch von vorgefassten Ahnungen bestochen, nur aus sich selbst das Dargestellte zu verstehen trachtet, nur dann kann ich hoffen, dass ihr die Religion, die ich euch zeigen will, wo nicht lieb gewinnen, doch wenigstens euch über ihre Bedeutung einigen und ihre höhere Natur anerkennen werdet.

Denn ich wollte wohl, ich könnte sie euch unter irgendeiner wohlbekannten Gestalt darstellen, damit ihr sogleich an ihren Zügen, ihrem Gang und Anstand euch erinnern möchtet, dass ihr sie hier oder dort so gesehen habt im Leben.

Aber es will nicht angehen; denn so wie ich sie euch zeigen möchte in ihrer ursprünglichen, eigentümlichen Gestalt, pflegt sie öffentlich nicht aufzutreten, sondern nur im Verborgenen lässt sie sich so sehen von denen, die sie liebt.

Auch gilt es ja nicht etwa von der Religion allein, dass das, worin sie öffentlich dargestellt und vertreten wird, nicht mehr ganz sie selbst ist; sondern von jedem, was ihr seinem inneren Wesen nach als ein Eigentümliches und Besonderes für sich annehmen mögt, kann dasselbe mit Recht gesagt werden, dass, in was für einem äußerlichen es sich auch darstelle, dieses nicht mehr ganz sein eigen ist, noch ihm genau entspricht. Ist doch nicht einmal die Sprache das reine Werk der Erkenntnis, noch die Sitte das reine Werk der Gesinnung.

Zumal jetzt und unter uns ist dieses wahr. Denn es gehört zu dem sich noch immer weiter bildenden Gegensatz der neuen Zeit gegen die alte, dass nirgends mehr einer eines ist, sondern jeder alles.

Und daher ist, wie die gebildeten Völker einen so vielseitigen Verkehr untereinander eröffnet haben, dass ihre eigentümliche Sinnesart in den einzelnen Momenten des Lebens nicht mehr unvermischt heraustritt, so auch innerhalb des menschlichen Gemütes eine so ausgebreitete und vollendete Geselligkeit gestiftet, dass, was ihr auch absondern mögt in der Betrachtung als einzelnes Talent und Vermögen, dennoch keineswegs ebenso abgeschlossen seine Werke hervorbringt; sondern – ich meine es im Ganzen, versteht sich – jedes wird bei jeder Verrichtung dergestalt von der zuvorkommenden Liebe und Unterstützung der anderen bewegt und durchdrungen, dass ihr nun in jedem Werk alles findet und schon zufrieden sein müsst; wenn es euch nur gelingt, die herrschend hervorbringende Kraft zu unterscheiden in dieser Verbindung.

Darum kann nun jeder jede Tätigkeit des Geistes nur insofern verstehen, als er sie zugleich in sich selbst finden und anschauen kann. Und da ihr auf diese Weise die Religion nicht zu kennen behauptet, was liegt mir näher, als euch vor jenen Verwechselungen vornehmlich zu warnen, welche aus der gegenwärtigen Lage der Dinge so natürlich hervorgehn?

Lasst uns deshalb recht bei den Hauptmomenten eurer eigenen Ansicht anheben, und sie sichten, ob sie wohl die rechte sei, oder wenn nicht, wie wir vielleicht von ihr zu dieser gelangen können.

Die Religion ist euch bald eine Denkungsart, ein Glaube, eine eigne Weise, die Welt zu betrachten und, was uns in ihr begegnet, in Verbindung zu bringen; bald eine Handlungsweise, eine eigne Lust und Liebe, eine besondere Art, sich zu betragen und sich innerlich zu bewegen.

Ohne diese Trennung eines Theoretischen und Praktischen könnt ihr nun einmal schwerlich denken, und wiewohl die Religion beiden Seiten angehört, seid ihr doch gewohnt, jedes Mal auf eine von beiden vorzüglich zu achten. So wollen wir sie denn von beiden Punkten aus genau ins Auge fassen.

Für das Handeln zuerst setzt ihr doch ein Zwiefaches, das Leben nämlich und die Kunst; ihr mögt nun mit dem Dichter Ernst dem Leben, Heiterkeit der Kunst zuschreiben, oder anderswie beides entgegensetzen, trennen werdet ihr doch gewiss eines vom andern.

Für das Leben soll die Pflicht die Losung sein, euer Sittengesetz soll es anordnen, die Tugend soll sich darin als das waltende beweisen, damit der Einzelne mit den allgemeinen Ordnungen der Welt harmoniere und nirgends störend oder verwirrend eingreife.

Und so, meint ihr, könne sich ein Mensch beweisen, ohne dass irgendetwas von Kunst an ihm zu spüren sei; vielmehr müsse diese Vollkommenheit durch strenge Regeln erreicht werden, die gar nichts gemein hätten mit den freien beweglichen Vorschriften der Kunst.

Ja, ihr seht es selbst fast als eine Regel an, dass bei denen, welche sich in der Anordnung des Lebens am genauesten beweisen, die Kunst zurückgetreten sei, und sie ihrer entbehren.

Wiederum den Künstler soll die Fantasie beseelen, das Genie soll überall in ihm walten, und dies ist euch etwas ganz anderes als Tugend und Sittlichkeit; das höchste Maß von jenem könne, meint ihr, wohl bestehen bei einem weit Geringeren von dieser; ja ihr seid geneigt, dem Künstler von den strengen Forderungen an das Leben etwas nachzulassen, weil die besonnene Kraft gar oft ins Gedränge gerate durch jene feurige.

Wie steht es nun aber mit dem, was ihr Frömmigkeit nennt, inwiefern ihr sie als eine eigne Handlungsweise anseht? Fällt sie in jenes Gebiet des Lebens, und ist darin etwas Eignes, also doch auch Gutes und Löbliches, doch aber auch ein von der Sittlichkeit Verschiedenes; denn für einerlei wollt ihr doch beides nicht ausgeben?

Also erschöpfte die Sittlichkeit nicht das Gebiet, welches sie regieren soll, wenn noch eine andere Kraft darin wirksam ist neben ihr, und zwar die auch gerechte Ansprüche daran hätte und neben ihr bleiben könnte?

Oder wollt ihr euch dahin zurückziehen, dass die Frömmigkeit eine einzelne Tugend sei und die Religion eine einzelne Pflicht, oder eine Abteilung von Pflichten, also der Sittlichkeit einverleibt und untergeordnet, wie ein Teil seinem Ganzen einverleibt ist, wie man auch annimmt besondere Pflichten gegen Gott, deren Erfüllung dann die Religion sei, und also ein Teil der Sittlichkeit, wenn alle Pflichterfüllung die gesamte Sittlichkeit ist?

Aber so meint ihr es nicht, wenn ich eure Reden recht verstehe, wie ich sie zu hören gewohnt bin und auch jetzt euch wiedergegeben habe; denn sie wollen so klingen, als ob der Fromme durchaus und überall noch etwas Eignes hätte in seinem Tun und Lassen, als ob der Sittliche ganz und vollkommen sittlich sein könnte, ohne auch fromm zu sein deshalb.

Und wie verhalten sich doch Kunst und Religion? Doch schwerlich so, dass sie einander ganz fremd wären; denn von jeher hatte doch das Größte in der Kunst ein religiöses Gepräge.

Und wenn ihr den Künstler fromm nennt, gestattet ihr ihm dann auch noch jenen Nachlass von den strengen Forderungen der Tugend? Wohl schwerlich, sondern unterworfen ist er dann diesen wie jeder andere.

Dann aber werdet ihr auch wohl – sonst sähe ich nicht, wie eine Gleichheit herauskäme – denen, die dem Leben angehören, wenn sie fromm sein sollten, verwehren, ganz kunstlos zu bleiben; sondern sie werden in ihr Leben etwas aufnehmen müssen aus diesem Gebiet, und daraus entsteht vielleicht die eigne Gestalt, die es gewinnt.

Allein ich bitte euch, wenn auf diese Weise – und auf irgend so etwas muss es doch herauskommen mit eurer Ansicht, weil ein anderer Ausweg sich nicht darbietet, wenn – so die Religion als Handlungsweise eine Mischung aus jenen beiden, getrübt wie Mischungen zu sein pflegen, und beide etwas durcheinander angegriffen und abgestumpft, so erklärt mir das zwar euer Missfallen, aber nicht eure Vorstellung.

Denn wie wollt ihr doch ein solches zufälliges Durcheinandergerührtsein zweier Elemente etwas Eignes nennen, wenn auch die genaueste Mittelmäßigkeit von beiden daraus entstände, solange ja doch beide darin unverändert nebeneinander bestehn?

Wenn es aber nicht so, sondern die Frömmigkeit eine wahre innige Durchdringung von jenen ist, so seht ihr wohl ein, dass mein Gleichnis mich dann verlässt und dass eine solche hier...

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