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E-Book

Über Freundschaft

AutorAlexander Nehamas
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783423431934
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
»Alle Güter dieser Erde wiegen einen Freund nicht auf.« Voltaire Was ist Freundschaft eigentlich und was bedeutet sie für uns? Eine Frage, die im Zeitalter von Facebook und Co., wo zufällige virtuelle Bekannte schon »Freunde« genannt werden, besonders wichtig erscheint. Alexander Nehamas erläutert die Ideen klassischer und zeitgenössischer Philosophen, beleuchtet Beispiele aus Literatur, Theater, Kunst und Film und lässt immer wieder persönliche Erlebnisse und Erfahrungen aus seinen Freundschaften einfließen. Er zeigt, wie sich das Verständnis von Freundschaft im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, privater und auch komplexer wurde. Doch eines ist gleich geblieben: Freundschaften sind ein wichtiger Bestandteil des Lebens und so individuell wie die daran Beteiligten.

Alexander Nehamas, geboren und aufgewachsen in Athen, studierte in den USA. Er ist Professor für Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Princeton und Fellow der American Academy of Arts & Sciences.

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Leseprobe

Einführung


In den letzten Jahren bot sich mir die Gelegenheit, mehr oder weniger regelmäßig in mein Geburtsland Griechenland zu reisen. Diese Aufenthalte waren beruflich bedingt und meist kurz – drei Tage höchstens –, sodass ich stets einen straffen Terminplan hatte. Doch wann immer es möglich war, verbrachte ich in Athen einen Abend in Gesellschaft einer Gruppe von Freunden, die seit unserem Abgang vom Lyzeum vor über fünfzig Jahren eine ganz erstaunliche Beziehung zueinander pflegen.

Die meisten aus dem Freundeskreis wohnten im Internat, ein paar sogar mehr als zehn Jahre. Die Schule stellte hohe Anforderungen, die für die Internatsschüler auch in den Alltag hineinreichten: All unsere Aktivitäten – Aufwachen, Waschen, Essen, Lernen, Schlafen usw. – wurden von der lauten elektrischen Schulglocke reglementiert, die uns gerade genug Zeit ließ, uns auf die nächste Aufgabe vorzubereiten. Wann immer wir zu spät kamen, wurden wir bestraft. Einige der Jungs stammten wie ich aus Athen, wo die Schule ihren Sitz hatte. Andere kamen aus anderen Regionen Griechenlands, nicht wenige aus dem Ausland, wohin ihre Familien aus dem einen oder anderen Grund gezogen waren. So etwas wie Privatsphäre gab es in den Schlafsälen kaum. Wir gehörten alle zum selben Zweig unseres Jahrgangs und standen unter permanenter Überwachung. Das hat uns einander nähergebracht. Die Ferien oder Wochenenden verbrachten wir bei einem der Freunde zu Hause – und knüpften starke, dauerhafte Bande der Freundschaft (und pflegten nicht weniger starke, meist allerdings nicht ganz so dauerhafte Zwistigkeiten und Feindschaften).

Diese engagierten und vertrauten Freunde sollten den Großteil ihres Lebens miteinander verbringen. Ich hingegen verließ Athen gleich nach dem Abitur, um in den Vereinigten Staaten zu studieren. Es hat eine Weile gedauert, bevor ich wieder Kontakt zu ihnen aufnahm. Erstaunt stellte ich fest, wie leicht es für mich war, wieder in ihren Kreis einzutauchen und wie entspannt und wohl ich mich dort fühlte. Vielleicht lag es daran, dass ich, während wir einander beschnupperten, bei ihnen Charakterzüge wiedererkannte, die mir schon aus der Schulzeit vertraut waren. Einer, der jetzt Chirurg ist, war schon damals der Spaßvogel der Gruppe. Sein spontaner Sinn für Humor hat sich in all den Jahren kein bisschen verändert. Ein anderer, der das Fliegen liebte, hat einen Sohn, der Pilot bei einer griechischen Fluglinie ist. Ein dritter ist immer noch begeisterter Fan des Fußballclubs, den er schon in seiner Jugend verehrt hat, und verpasst auch heute kein einziges Spiel. Und ich bin sicher, dass auch meine Freunde bestimmte Züge an mir wiedererkannten. Natürlich hat sich jeder von uns auch stark verändert, was in gewisser Weise nicht schlecht ist. Vor allem können wir uns heute gegenseitig schätzen, ohne die Unsicherheiten, die Ressentiments und die Neigung, einander zu übertreffen, die der Jugend eigen sind. Heute gehen wir lockerer miteinander um, sind milder und auch beständiger in unseren Gefühlen, auch wenn sie nicht mehr so dramatisch und leidenschaftlich sind wie einst.[1]

Meine Freunde treffen sich regelmäßig, gewöhnlich am Sonntagabend, zum Kartenspielen oder zum Plaudern. Sie gehen miteinander essen, vor allem (aber nicht nur), wenn sie alte Klassenkameraden aus dem Ausland willkommen heißen (was sie immer tun). Manchmal wird daraus auch eine Einladung nach Hause mit allen Schikanen. Dann sind auch die Frauen, die ebenfalls untereinander befreundet sind, mit von der Partie. Manche verbringen die Ferien gemeinsam, und zwar mit den Familien. Andere sind Paten der Kinder ihrer Freunde. Obwohl sie ursprünglich vielleicht nur Kontakt gehalten haben, um ihre Jugend lebendig zu halten, an die sie (und ich auch) immer noch gern zurückdenken, ist ihre Freundschaft mittlerweile doch mehr als nur die simple Gelegenheit, sich in nostalgischen Stimmungen zu ergehen: Die gemeinsamen Aktivitäten und alles, was mit einem solch engen und dauerhaften Kontakt einhergeht, haben einen umfassenden Einfluss auf ihr Leben und das ihrer Familien ausgeübt und tun das noch heute.

Und wenn ich sage, dass ihre Freundschaft ihr Leben geprägt hat, dann gilt das auch für ihr Selbst. Als mir klar wurde, dass diese Menschen das, was sie geworden sind, zumindest zu einem nicht geringen Teil ihrer Freundschaft verdanken, wurde mir klar, dass Freundschaft, selbst wenn sie von dem Wunsch nach Wiederbelebung einer gemeinsamen Vergangenheit ausgeht, auch einen prägenden Einfluss auf die Zukunft hat. Wer wir sind, bestimmt sich nicht zuletzt an unseren Freunden, die in unserem Leben eine umso wichtigere Rolle spielen, je enger die freundschaftliche Beziehung ausfällt. Unsere Freundschaften leben nicht nur vom Trägheitsmoment. Die Freundschaft meiner Klassenkameraden jedenfalls durchzieht ihr ganzes Leben: Sie erfüllt es. Unsere Freundschaften sind mehr oder weniger verknüpft mit irgendeinem anderen Aspekt von uns: Jeder unserer Freunde beeinflusst die Richtung, die unser Leben nimmt, dies natürlich umso mehr, je enger diese Freundschaft sich gestaltet. Und umgekehrt bestimmt die Richtung, die unser Leben jeweils nimmt, wen wir uns zum Freund wählen. Freundschaft ist ein entscheidender Schritt hin auf das, was wir im Leben aus uns machen.

Ich möchte hier aufzeigen, warum das so ist. Dazu allerdings brauchen wir zunächst ein etwas komplexeres Bild von der Freundschaft als solcher. Freundschaft, und hier ist von enger Freundschaft die Rede, nicht von der von Wahllosigkeit bestimmten Form, wie man sie so leicht etwa auf Facebook knüpft (und die stets den Nachteil haben wird, dass sie Freunde quantifiziert, weil letztlich nur die Menge zählt), ist ein Band, das stets als eines der größten Geschenke des Lebens gepriesen wird, zumindest seit die Menschheit sich darüber Gedanken macht. Als Beispiel mag hier der gelehrte Geistliche Robert Burton dienen, der der Freundschaft auf seine Weise Tribut zollt: »›So wie die Sonne ist dem Firmament, so ist die Freundschaft für die Welt‹ – ein höchst göttliches und himmlisches Band. Sie vervollkommnet die Menschheit, wie dies die Liebe tut, und ist der Blutsverwandtschaft vorzuziehen […] Wer dies dem Menschen nimmt, nimmt alle Freude von ihm, jegliches Glück und Vergnügen, jeglichen Trost, ja jeden wahrhaften Sinn aus der Welt; es ist dies der innigste Bund, die sicherste Übereinkunft, das stärkste Band […] Ein treuer Freund ist besser als Gold, ein Heilmittel für jedes Unglück, ein einzigartiges Gut.«[2] Oder der Dichter Ralph Waldo Emerson:

O Freund, sagt mir mein Busen,

Durch Dich allein wölbet der Himmel sich,

Durch Dich allein ist eine Rose rot,

Alles nimmt edlere Form an durch Dich,

und schaut über die Erde hinaus …[3]

Wie tief Freundschaft ein ganzes Leben beeinflussen kann, zeigen Charlotte Brontës Worte an Ellen Nussey: »Warum müssen wir getrennt werden? Ganz sicher nur, liebe Ellen, weil wir Gefahr laufen, einander zu sehr zu lieben … und den Schöpfer aus dem Auge zu verlieren vor lauter Anbetung seines Geschöpfes.«[4]

Diese Haltung geht zurück auf Aristoteles und dessen Ideen zur philia, einer Form der Liebe, die im Allgemeinen mit »Freundschaft« gleichgesetzt wird.[5] Philia war für Aristoteles ein großes, reines Gut, ohne das niemand würde leben wollen, ganz egal, was er sonst sein eigen nenne.[6] Die Tradition, die sich daraus entwickelt hat, hält Freundschaft ebenso für eine der höchsten Gaben des Lebens.

Doch die aristotelische Tradition, die so einflussreich war, dass sie noch heute das herrschende, selten hinterfragte Bild der Freundschaft bestimmt, berücksichtigt die dunklen, schmerzlichen und destruktiven Seiten der Freundschaft nicht. Wenn wir das Lob der Freundschaft singen, vergessen wir gern, dass der freundschaftliche Alltag meist recht trivial ausfällt. Und wir vergessen, wie weh es tut, wenn eine Freundschaft zerbricht. Wir sehen darüber hinweg, dass Freundschaften, selbst gute, mitunter recht schädlich sein können. Und wir übersehen, dass es nicht selten gerade die guten Freundschaften sind, die uns dazu verleiten, in moralischer Hinsicht nicht das Richtige zu tun – weil wir zum Beispiel die Treue zu unserem Freund über unsere Pflicht anderen gegenüber stellen. Das Antlitz der Freundschaft ist, wie ich zu zeigen hoffe, ein Janusgesicht.

Dass sie uns auch in Gefahr bringen oder zur Unmoral verleiten kann, zeigt, wie vielschichtig Freundschaften sein können. Ein weiteres Charakteristikum der Freundschaft wurde mir bewusst, während ich mit meinen Freunden in Athen plauderte. Unsere Begegnungen finden in ganz anderem Rahmen statt als meine sonstigen Beziehungen. So merkte ich schon bald, dass ich mich anders verhalte und anders denke, wenn ich mit ihnen zusammen bin. Obwohl zu meinem Athener Freundeskreis unter anderem Ingenieure, Journalisten und Manager zählen, sind doch keine »Berufsakademiker« darunter. Würde ich mich mit ihnen in der Form unterhalten, wie ich es, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ganz selbstverständlich mit meinen Studenten oder Kollegen tue, wäre dies völlig fehl am Platze. Ein Tonfall, eine bestimmte Wortwahl, eine Art, sich auszudrücken, die uns mit manchen Freunden völlig natürlich erscheint, kann anderen gegenüber affektiert, pedantisch oder herablassend wirken. Dinge, die man in dem einen Zusammenhang ohne zu zögern ansprechen würde, büßen in einem anderen ihre Bedeutung ein. Wir passen uns unseren...

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