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E-Book

Über Leben

AutorReinhold Messner
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783492968775
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Wie riecht Heimat? Wie viel Freiraum braucht ein Kind? Wie überlebenswichtig sind Angst, Egoismus und Instinkt? Reinhold Messner skizziert in Etappen seinen Weg vom Südtiroler Bergbub zum größten Abenteurer unserer Zeit, zum kampflustigen Politiker, engagierten Bauern, Wanderfreund von Managern und Politikern, zum Gründer einer einzigartigen Museumslandschaft, zum Ehemann, vierfachen Vater und Familienmenschen. In ungezählten Expeditionen hat er ausprobiert, wie Überleben funktioniert. Freimütig hält er heute Rückschau auf sieben Jahrzehnte, die schon früh von extremen Naturerlebnissen und Begegnungen mit dem Tod geprägt waren, schreibt über Ehrgeiz und Scham, Alpträume und das Altern, über Neuanfänge und über die Fähigkeit, am Ende loszulassen.

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz dem Bergsteigen verschrieb. Seit 1969 hat er mehr als hundert Reisen in die Gebirge und Wüsten dieser Erde unternommen. Dabei gelangen ihm zahlreiche Erstbegehungen und Achttausenderbesteigungen sowie eine Längsdurchquerung Grönlands. Reinhold Messner war nie um Rekorde bemüht, ihm geht es um das Ausgesetztsein in möglichst unberührten Naturlandschaften und das Unterwegssein mit einem Minimum an Ausrüstung. Er hielt Vorträge in ganz Europa, den USA, Japan, Australien, Südamerika, drehte Dokumentarfilme und veröffentlichte Artikel, u.a. in »Stern«, »Spiegel«, »GEO«, »Epoca«, »Espresso«, »National Geographic«. Seine Buchveröffentlichungen wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Von 1999 bis 2004 saß er für eine Legislaturperiode als Parteiloser für die Grünen im Europaparlament. Mittlerweile widmet Messner sich vor allem seinen Messner Mountain Museen (MMM) an sechs verschiedenen Standorten in den Alpen sowie seinen Film- und Buchprojekten. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Schlüsselgeschichten des Alpinismus. Zuletzt erschienen u.a. der SPIEGEL-Bestseller »Sinnbilder: Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben« (mit Diane Messner) sowie »Gebrauchsanweisung für Südtirol«.

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Leseprobe

7   WACHSAMKEIT

Ob das Bild, das mir von einem Waldausflug mit meinen Eltern in Erinnerung geblieben ist, stimmt? Helmut, mein älterer Bruder, und ich stapften stundenlang hinter den Eltern bergwärts. Am Mühlerbach entlang und weiter durch den steilen schattenseitigen Waldhang über Pitzack im Villnößtal. Zuerst auf einem Ziehweg, dann über kaum erkennbare Steige ging es immer steiler bergauf. Die Welt um uns herum schien dabei immer düsterer zu werden, weil das Licht kaum noch zwischen den hohen Fichtenstämmen bis auf den bemoosten Waldboden fiel. Solange die Eltern vor uns herstiegen, verspürte ich keine Angst, nur Müdigkeit und den Wunsch zu rasten.

Es muss spät geworden sein, und das Waldstück, das die Eltern begutachten wollten – ein Erbteil meiner Mutter –, lag zu weit oben, um es mit uns Kindern erreichen zu können. Also ließen sie uns unter einem Tannenbaum zurück. Wir sollten rasten und warten, bis sie zurückkämen. Helmut und ich hockten uns nebeneinander auf einen Wurzelstock und beobachteten den Vater, wie er, einem Wildwechsel folgend, im dichten Unterholz verschwand. Die Mutter folgte ihm. Bald waren nur noch ihre Schritte zu hören, die Welt um uns versank in Dunkelheit. Es war noch nicht Nacht, aber mit dem Schwinden des Lichts wurde die Welt um uns enger, gleichzeitig geheimnis- und gefahrvoller: Jedes Knacken, der Schrei eines Zirbelhähers, sogar das Geräusch der Ameisen ließ uns näher zusammenrücken.

Wir warteten. Die Zeit wurde lang, und mit einbrechender Nacht kamen die Gefahren noch näher. Die Ängste wurden stärker. Was uns untertags mit Neugier erfüllt hatte – der Wind in den Bäumen, unter denen wir hockten, die Wildfährten am Waldboden, ein Eichhörnchen –, wich mehr und mehr einer drängenden Ungeduld. Als bestünden wir aus zwei Teilen: einem, der in der Dunkelheit erst aufwacht, und einem anderen, der bei Tag schläft. Was, wenn den Eltern etwas zugestoßen war? Warum sonst kamen sie nicht zurück? Wie sollten wir allein ins Tal zurückfinden? Bei Nacht und ohne uns an die verwinkelten Steige zu erinnern, über die wir den Eltern blindlings hinterhergestiegen waren?

Fast fünfzig Jahre später, 1995, im arktischen Eismeer, erlebte ich mit meinem Bruder Hubert einen ähnlichen »Weltuntergang«. Wir waren an der Küste Sibiriens aufgebrochen, um über den Nordpol nach Kanada zu marschieren. 2000 Kilometer weit. Ohne Unterstützung aus der Luft. In der zweiten Nacht aber, einer harten Nacht, bricht plötzlich das Eis um uns auf. Das Packeis kracht, Trümmer hämmern gegeneinander. Im seichten Mondlicht ist nur Chaos auszumachen: ein Durcheinander von sich türmenden Eisplatten. Über uns Gewölk, dazwischen ein paar silberne Punkte: die Sterne! Eis und Wasser sind schwarz, der Schnee glitzert, und der Ozean klatscht gegen das Packeis, Eisstücke plumpsen ins Wasser. Um uns, unter uns nichts als Gefahr!

Trotz der tiefen Temperaturen verließen wir unser Zelt fluchtartig. Wir mussten zurück zur sicheren Küste! Hinter uns, Welle für Welle, Eisbarrieren und darüber ein kunstvoller Vorhang aus mattem Licht – Grün und Violett –, das Nordlicht, wie Kaskaden eines Feuerwerks aus dem All. Mit jedem Schritt zurück wurde das Eis, das der Sturm unter uns stauchte, weniger, unsere Verzweiflung größer. Wie sich Packeis verhält, kann niemand mit Sicherheit voraussagen. Hubert hatte Frostblasen an seinen Fingern. Die Flüssigkeit darin gefror bei mehr als 50 Grad minus. Seine erfrorenen Hände schmerzten, als sie auftauten, jede Bewegung wurde zur Qual. Unsere Schreie aber waren keine Schmerzensschreie, sie waren Ausdruck unserer Hoffnungslosigkeit und Angst im Versuch, unser Leben zu retten und gleichzeitig die Verzweiflung in uns niederzuhalten. Diese Verzweiflung mahnte unser gemeinsames Leben an. Weil wir uns aber mit Worten nicht mehr austauschen konnten – unsere Kiefer erstarrt und unsere Gesten in der Dunkelheit nicht zu sehen –, stießen wir sie aus wie Urlaute. Die Gefahren zwangen uns in eine erhöhte Konzentration, forderten von uns eine Wachsamkeit, wie sie auch Tieren eigen ist.

Damals, im Hochwald, war keine Zeit, den Eltern unsere Ängste zu schildern. Als sie zurückkamen zu unserem Rastplatz, begannen wir sofort mit dem Abstieg. Dem Vater, der mit einer Taschenlampe vorausging, folgten wir Kinder, die Mutter ging als Letzte. Ich konnte mich an die einzelnen Wegbiegungen oder markanten Geländeformationen, die sich mein Vater beim Aufstieg eingeprägt hatte, nicht erinnern. Mir war, als marschierten wir über eine völlig andere Landschaft als beim Aufstieg zurück ins Tal.

Damals wurde mir klar – vielleicht nur unbewusst –, dass Orientierung mit »Selbermachen« zu tun hat. Solange wir anderen hinterherlaufen, bleiben wir orientierungslos, wusste ich jetzt: Besser, ich achte tausendmal auf Unbekanntes, als dass ich einmal den tödlichen Fehler begehe, eine Gefahr zu übersehen. In Aktion reden wir Menschen kaum miteinander. Erst nachher kommt Redseligkeit über uns – wie das Gefühl, wiedergeboren zu sein, wenn wir allen Gefahren entkommen sind. Menschen, die in Wald und Wildnis nicht aufmerksam auf Spuren achten, sind dumm. Nicht die Angsthasen sind misstrauisch gegenüber Zeichen, für die es keine natürliche Erklärung gibt, sondern die Erfahrenen. Meine Angst, eine Art konstruktive Paranoia, war also nichts als die natürliche Reaktion eines vorsichtigen Kindes gewesen. Wenn ich sie nicht früh schon entwickelt hätte, ich wäre nicht am Leben geblieben.

Eine grundlegende Vorsicht ist mir bei vielen Bergsteigern aufgefallen. Diese Tatsache soll aber nicht den Eindruck erwecken, wir Vorsichtigen seien gelähmt. Wer dabei zögert, etwas zu wagen, kann keine Erfahrungen machen. Es gibt vorsichtige und weniger vorsichtige Abenteurer. Vorsichtige Menschen wägen alle Risiken ab und handeln dann. Sie wissen, dass riskant ist, was sie tun, und tun es dennoch. Immer wieder und mit immer mehr Vorsicht. Wer es aber zuletzt nicht wagt, kann nicht einmal scheitern. Das Risiko, dabei umzukommen, bleibt immer.

Ganz anders verhält es sich mit territorialen Risiken. Werden zum Beispiel Bergwälder zerstört, versiegen zuletzt auch die Quellen. Weil Bäume, Unterholz und Moose auf den Berghängen schwinden, wird Regenwasser nicht mehr gespeichert. Die betroffenen Flussbette liegen dann entweder trocken, oder Rinnsale werden zu Fluten, wenn im Gebirge starker Regen fällt. Statt die Quellen zu speisen, schwemmt Platzregen das Erdreich fort und verursacht Hochwasser, das die Felder im Tal verwüstet. Die Zerstörung der Wälder bedeutet zuletzt die Zerstörung der Lebensgrundlage in riesigen Arealen. Unsere Fehler, die Natur betreffend, sind oft nicht mehr korrigierbar.

Ich weiß, meine Risiken am Berg sind anderer Art. Obwohl sie nur mich selbst betreffen, können sie bei Nichtbergsteigern blankes Entsetzen auslösen. Warum aber nehme ich diese Gefahren, die mein Leben bedrohen, trotzdem an? Sicher nicht, weil das Spiel auf ein einziges Menschenleben – meines – begrenzt ist. Eine zeitliche Begrenzung gibt es in jedem Leben! Umgekehrt gilt, dass wir kaum noch Risiken auf uns nehmen müssen, um Wasser zu finden, Nahrung zu beschaffen oder Feinde zu verjagen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Extrembergsteigern ist sicher niedriger als die von Bankern. Die Ursachen liegen in unkontrollierbaren Gefahren wie Lawinen und Kälte, aber auch in eigenen Fehlern. Wie vorsichtig wir auch sind, wir können Fehler nie ganz ausschließen. Zugleich gilt: In weniger als einem Jahrhundert sterben wir, ganz gleich, was wir tun. Nehmen wir in diesem Bewusstsein höhere Risiken in Kauf als die Bürger mit ihrer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren? Nein. Wäre ich aber in meinem Beruf geblieben, hätte ich mit 20 auch nicht gewusst, wie alt ich werde. Hätte ich mehr gewagt? Ich weiß es nicht. Ich glaube allerdings zu wissen, dass das Rettende in der Gefahr wächst. Sie provoziert jene Wachsamkeit, die unser Selbst gleichzeitig infrage stellt. Wie die Fähigkeiten, die Welt zum Spielfeld, seine Träumereien zu Visionen und Linien im Kopf zu Tatsachen zu machen, zwingt uns die Natur Demut auf. Auch all dem gegenüber, was wir nicht können. Beides sind Voraussetzungen, unseren Wegen zu folgen, uns mit all unseren Fähigkeiten auszudrücken.

Traditionelles Abenteuer und primitive Lebensweisen sind unausweichlich mit hohen Risiken verbunden. Mit dem Unterschied, dass die einen sie suchen, die anderen sie auf sich nehmen müssen. Die Tatsache, dass wir uns gegenseitig viel zu erzählen haben, ist die Folge. Wenn wir nachvollziehen können, wer wann wo was wie gemacht hat oder warum ein bestimmtes Abenteuer gut ausgegangen ist, lernen wir Risiken besser einzuschätzen und weiteren wacher zu begegnen. Es geht dabei nie um Richtig oder Falsch, auch nicht um Kritik oder Schadenfreude, sondern um einen Lernprozess für alle, die die Gefahren des Lebens nicht ignorieren. Traditionelles Abenteuer ist ein ständiges Auf-der-Hut-Sein, ein fortwährendes Schlüsseziehen: Der Geruch der Felsen, die Farben des Schnees, die Richtung des Windes wollen gedeutet sein, bevor wir uns diesen Elementen ausliefern, Risiken annehmen. Unsere moderne Zivilisation hingegen verspricht uns größtmögliche Sicherheit. Den Einzelnen scheint es also nicht notwendig, ständig nach Gefahren zu lauschen oder nach potenziellen Feinden zu spähen. Ich aber warne davor, sein Befinden allein dieser Art von Beschwichtigung anzuvertrauen.

Es sind die gesammelten Erfahrungen vieler Generationen, die uns zeigen, wie die Risiken des Lebens möglichst gering gehalten werden können. Die Zivilisation leitet ihre Regeln davon ab. Abenteurer hingegen richten ihr...

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