Sie sind hier
E-Book

Über Lebenskunst

Utopien nach der Krise

AutorKatharina Narbutovic, Susanne Stemmler
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl389 Seiten
ISBN9783518758007
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Katharina Narbutovič und Susanne Stemmler

Über Lebenskunst – ein Seiltanz über mannigfaltige Welten


Der bekannte türkische Schriftsteller Osman Şahin gab einmal folgende Begebenheit aus seinem Leben zum Besten: Als er als junger Mann seinen Militärdienst ableistete, nahm er an einem literarischen Wettbewerb teil – und gewann. Selig berichtete er seiner Mutter davon, einer einfachen Frau, die auf dem Lande lebte. Diese freute sich von Herzen mit ihrem Sohn und wünschte ihm, er möge auch Zweiter und Dritter werden. Erst später, als er, aus dem Wehrdienst entlassen, ins heimatliche Dorf zurückkehrte, seine Mutter unter einem Baum sitzend beim Apfelsortieren fand und sie fragte, ob es ihr denn gar nichts bedeute, dass er Erster geworden sei, erschloss sich ihm der Sinn ihrer Worte: »Seine Mutter nahm ein paar Äpfel in die Hände und hielt sie ihrem Sohn hin. ›Was soll ich denn nur mit dem ersten, schau doch, so nebeneinander sind es viel mehr.‹ Die Frau hat also die Welt sammelnd wahrgenommen, und nicht zählend. Weil sie nicht einzelne Äpfel sah, sondern reichen Segen.« Sema Kaygusuz hat diese Begebenheit aus dem Leben ihres Schriftstellerkollegen Osman Şahin gewählt, um mit dem anschaulichen Bild von der Mutter und ihrer sammelnden Weltwahrnehmung ihre Vorstellung einer zukünftigen Über Lebenskunst zu unterstreichen: Wir Menschen müssen anerkennen, »dass wir mit unserer Welt selbst nichts sind als eine lokale Variante, eine Welt unter Welten« (Clifford Geertz), neben der mit der gleichen Berechtigung die Welt der Tiere, die der Pflanzen oder auch die der Steine steht. Nicht hierarchisch dürfen wir denken, sagt Sema Kaygusuz, sondern wir müssen die gegebenen Welten in ihrer Mannigfaltigkeit zulassen, sie nebeneinander bestehen lassen. So lautet ihre Antwort auf die Bitte, die wir an 18 Autorinnen und Autoren aus Afrika, Asien, Australien, Europa und den beiden Amerikas gerichtet haben: sich prospektiv und programmatisch mit den Formen einer Über Lebenskunst unter den Bedingungen der ökologischen Krise in verschiedenen lokalen Kontexten auseinanderzusetzen. Denn obwohl welthistorisch nichts Geringeres als die Zukunftsfähigkeit unserer Zivilisation auf dem Spiel steht, wie die Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima es uns gerade erst vor Augen geführt hat, gelingt es uns nicht, vom Wissen um die Notwendigkeit einer ökologisch-kulturellen Revolution zum Handeln zu gelangen: Eine rechtzeitige Verabschiedung des Kyoto-Folgeprotokolls ist nicht gewährleistet, obwohl die bestehende Verpflichtungsperiode 2012 ausläuft – um nur ein Beispiel zu nennen. Und so setzt unsere literarisch-philosophische Anthologie an, wo naturwissenschaftliche Evidenz und politisches Handeln enden: bei der der Fiktion und dem Essay eigenen Imagination, Sinnlichkeit und Subjektivität, beim offenen Denken, das beiden eignet.

Die Anerkennung des anderen als Ort von Erfahrung ist dabei ein zentrales Moment – auf ihr fußt das globale Anliegen dieses Buches. Unsere Wahrnehmung wird durch die Verschiedenartigkeit der Art und Weise, sich mit der Frage der Über Lebenskunst auseinanderzusetzen, neu bestimmt. Ohne Mitgefühl für den anderen wird es kein gemeinsames Überleben geben in einem »Welt-Körper« (Malek Alloula), der zwar ein Eigenleben führt, von dem aber das Leben der ganzen Menschheit abhängt. Die Rolle kultureller Traditionen, regionaler Deutungen von Wirklichkeit und ein neues kosmopolitisches Weltbewusstsein, das nicht an den Grenzen der eigenen Gesellschaft endet, wird derzeit kaum ausgelotet.

Ebenfalls noch längst nicht beantwortet ist die Frage nach dem »Wir« der Weltgesellschaft, den Akteuren. Allzu oft macht die Politik die Menschen zu Gefangenen des Jetzt, die nur von Augenblick zu Augenblick leben, ohne eine gemeinsame kreative Antwort entwerfen zu können.

Hier schließt sich die Suche nach einer Ethik an, die sich auf alle Lebewesen erstreckt. Die Einteilung in Menschen, Tiere, Pflanzen und Artefakte, in handelnde Subjekte und passive Objekte, wie sie die Moderne einführte, wurde spätestens durch die phänomenologischen Ansätze eines Maurice Merleau-Ponty in Frage gestellt. Sie stehen heute erneut zur Debatte, wenn es um die Rechte anderer Lebewesen, aber auch den Umgang mit Allgemeingütern wie Luft oder Wasser geht. Verantwortung zu übernehmen, eine Antwort zu geben, eine moralische Verpflichtung den Lebewesen gegenüber zu entwickeln, die wir für stumm halten, ja die wir selbst zum Schweigen gebracht haben – das ist mit Bruno Latour gesprochen dringlicher denn je: Jedes Ding und Wesen wird durch seine Beziehung zu den anderen Dingen und Wesen bestimmt, eben auch der Mensch, genauso wie ein Stein oder ein Baum. Nicht um eine Ausweitung der Moral auf neue Wesen geht es, sondern um die Abschaffung der Begrenzungen, die die Moderne zwischen Mensch und Tier, zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem errichtet hat.

Michel Serres forderte bereits vor zwanzig Jahren, dass Gesellschaftsverträge durch Naturverträge ergänzt werden müssten. Eine nicht parasitäre, sondern eine alliierende Naturbeziehung sei die alles entscheidende Zukunftsaufgabe: »Die globale Geschichte tritt in die Natur ein und die globale Natur in die Geschichte« (Michel Serres). Da wir es infolge der fatalen Idee vom Eigentum und Besitz nur noch mit Restbeständen des kulturellen Konstruktes »Natur« zu tun haben, die wir der Monokultur opfern, stellt sich auch die Frage der Besitz- und Machtverhältnisse neu – alles dies sind Fragen, die weit über die ökologische hinausgehen und von den hier versammelten Autorinnen und Autoren aufgegriffen werden.

Im Gegensatz zu natur- und sozialwissenschaftlichen Evidenzen bietet uns die Literatur Erzählungen an: Sie schafft eine Formensprache, Bilder, Erinnerungen, die oft von der Vergangenheit durchsetzt sind, und verarbeitet kontextgebundene Überlieferungen, die je nach Weltgegend unterschiedlich ausfallen. Literatur ist somit eine Überlebenswissenschaft, so Ottmar Ette, denn sie stellt nicht nur Lebenswissen zur Verfügung, sondern macht Lebensformen erfahrbar.

Die Texte, die wir zwischen Januar und Mai 2011 auf unsere Bitte erhielten, unterstreichen, dass die globale ökologische Krise, die Gefahren des Klimawandels und die Notwendigkeit einer ökologisch-kulturellen Revolution weltweit als ein überaus ernstes Problem wahrgenommen werden. Und doch haben die 18 Autorinnen und Autoren die Frage nach dem Überleben der Menschheit und der Zukunft des Planeten in entscheidender Hinsicht ergänzt: Um die Frage nach dem Überleben des Einzelnen in finsteren, repressiven, als katastrophisch empfundenen Zeiten – denn zu sehr sind die Menschen an vielen Orten der Erde mit existenziellen Überlebensfragen beschäftigt, müssen sie leben wie Vieh, nehmen Angstfaktoren ihnen die Luft zum Atmen. Wenn die Menschen wie in China, Russland, in Somalia oder auch im Nahen und Mittleren Osten »ums nackte Überleben kämpfen, haben sie keinen Sinn für Ökologie« (Michail Schischkin), dann wird ein Begriff wie »Umwelt« angesichts des nur hauchdünnen Spalts zwischen Überleben und Sterben als »luxuriös« (Amir Hassan Cheheltan) empfunden. Und ist es dem Einzelnen gelungen zu überleben, so stecken ihm die am eigenen Leib erfahrenen, von den Mitmenschen oder der Natur zugefügten Katastrophen tief als Trauma in den Knochen, ist sein weiteres Leben durch das Staunen über das Wunder geprägt, verschont worden zu sein, wird er oft genug zum Erzähler, wie eine Scheherazade unter umgekehrtem Vorzeichen (Malek Alloula, Nuruddin Farah, Ngũgĩ wa Thiong’o).

Die Reflektion des ›guten‹ Lebens, eine verschiedene Möglichkeiten eröffnende Lebenskunst (Wilhelm Schmid), die auf die antike Philosophie von Platon und Aristoteles zurückgeht, auch der Lebensbegriff selbst erfährt in den erbetenen Texten eine breite Auffächerung. Nicht selten reicht sie zeitlich zurück in die postkoloniale Geschichte und wirft Fragen nach der Deutungshoheit über die Erzählungen auf. Die Literatur eröffnet zudem eine andere Raum-Zeit-Dimension, die uns aus der Zeit heraushebt, zusätzliche Zeit spendet und uns in andere Räume versetzt. Die hier versammelten Texte situieren sich zunächst noch im Angesicht der Katastrophe und Krise, bevor sie Bilder für das Jetzt finden. Es sind Zustandsbeschreibungen, weniger die großen Zukunftsentwürfe – zu stark wirken die erfahrenen Traumata als Blaupause des Erzählens nach.

Es sind vor allem Autoren der westlichen Welt, die sich angesichts der heraufziehenden ökologischen Katastrophe nicht des Eindrucks erwehren können, dass wir uns auf einer »Wahnsinnsfahrt ins Nichts« (Sjón) befinden: »Alle Mann in die Rettungsboote« lautet der Alarmruf Serres’, der eine sofortige Einstellung des Kriegs der Menschen gegen den Planeten Erde verlangt: »Über unserem Horizont erhebt sich wie eine schwarze Sonne die Auslöschung der Menschheit. Es wird weder Sieger noch Besiegte geben – die ganze Welt wird ins Verderben stürzen. Keine Arche mehr, kein Noah.« Ihre Forderung lautet, dass die Menschheit unverzüglich eingreifen muss, und zwar jeder Einzelne: »Wenn man angesichts dessen, was der Welt...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Kulturgeschichte: Politik

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

Computerwoche

Computerwoche

Die COMPUTERWOCHE berichtet schnell und detailliert über alle Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen – über Trends, neue Technologien, Produkte und Märkte. IT-Manager ...

Courier

Courier

The Bayer CropScience Magazine for Modern AgriculturePflanzenschutzmagazin für den Landwirt, landwirtschaftlichen Berater, Händler und generell am Thema Interessierten, mit umfassender ...

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum

Das Hauseigentum. Organ des Landesverbandes Haus & Grund Brandenburg. Speziell für die neuen Bundesländer, mit regionalem Schwerpunkt Brandenburg. Systematische Grundlagenvermittlung, viele ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

elektrobörse handel

elektrobörse handel

elektrobörse handel gibt einen facettenreichen Überblick über den Elektrogerätemarkt: Produktneuheiten und -trends, Branchennachrichten, Interviews, Messeberichte uvm.. In den monatlichen ...