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E-Book

Übergewicht und Adipositas

AutorAnja Hilbert, Simone Munsch
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl94 Seiten
ISBN9783844425666
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Der Band liefert einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Übergewicht und Adipositas. Er geht auf biopsychosoziale Aspekte der Entstehung und Aufrecht-erhaltung der Störung ein und präsentiert valide Instrumente, mit deren Hilfe Verhaltensbereiche erfasst werden können, die mit Adipositas assoziiert sind. Ausführlich werden verhaltenstherapeutische Techniken vermittelt, welche die schrittweise Implementierung eines neuen Ernährungs-, Bewegungs- und Essverhaltensstils beim Patienten unterstützen. Dabei wird auch auf Herausforderungen und Schwierigkeiten eingegangen, die sich bei der Implementierung der Verhaltensänderung ergeben können, und es werden störungsspezifische Bewältigungsstrategien vorgestellt. Zudem wird auf die adipositasspezifische Stigmatisierung hingewiesen, die sowohl die psychische Befindlichkeit der Betroffenen beeinträchtigen als auch den Verlauf der Behandlung negativ beeinflussen kann. Eine Übersicht über die Wirksamkeit aktuell verfügbarer Behandlungsmöglichkeiten, Materialien für die Behandlung sowie ein ausführliches Fallbeispiel runden den Band ab.

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Leseprobe

2 Störungstheorien und Erklärungsmodelle


Die Entstehung und Aufrechterhaltung von Adipositas scheint zunächst einfach zu erklären zu sein, und wird im Allgemeinen auf eine im Vergleich zum Verbrauch erhöhte Energiezufuhr zurückgeführt. Die Notwendigkeit der Energieaufnahme wird über den Magen-Darm-Trakt, über Peptidhormone und verschiedene Hirnregionen an den Hypothalamus signalisiert. Der Hypothalamus stellt zudem auch die zentrale Steuereinheit des Energiehaushaltes dar, welche die Thermoregulation wie auch die Hunger- und Sättigungsregulation beinhaltet.

Die Regulation des Körpergewichts ist jedoch keine biologische Autoregulation. Im Gegenteil, die Faktoren, welche die Energieaufnahme und den Verbrauch beeinflussen, interagieren untereinander und werden durch psychologische, soziale und Umgebungsfaktoren beeinflusst. Erkenntnisse über |13|psychologische Faktoren, die die Nahrungszufuhr bzw. das Initiieren und Beenden des Verzehrs beeinflussen, können Möglichkeiten aufzeigen, den Umgang mit sowie die Prävention und Behandlung von Übergewicht und Adipositas weiter zu verbessern.

2.1 Biologische Aspekte


Der evolutionsgenetisch wichtigen und individuell unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeit zur Energiespeicherung in Zeiten des Mangels an Nahrungsmitteln kam früher die Rolle eines Überlebensmechanismus bzw. eines genetischen Vorteils zu. In Zeiten des Nahrungsüberflusses jedoch wird dieser „sparsame“ Genotyp zum Nachteil für viele Betroffene („thrifty genotype“, Neel, Weder & Julius, 1998). Weiter konnten pränatales mütterliches Übergewicht sowie das Auftreten eines frühen Wiederanstiegs des Übergewichts („adiposity rebound“) im Alter zwischen vier bis sechs Jahren als prädiktiv für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Übergewicht und Adipositas identifiziert werden.

Zwillings-, Familien- und Adoptionsstudien werden bereits seit Längerem herangezogen, wenn es um die Erklärung von Umwelt- und genetischen Faktoren bei der Entstehung von Übergewicht und Adipositas geht. Untersuchungen an adoptierten, getrennt aufwachsenden Zwillingen zeigen einen engen Zusammenhang zwischen dem BMI der Kinder und dem der leiblichen Eltern, jedoch einen vernachlässigbaren Zusammenhang zwischen dem BMI der Kinder und dem BMI der Adoptiveltern. Zudem erwies sich die Häufigkeit von Adipositas lediglich bei Eltern und ihren leiblichen Kindern als vergleichbar. In diesen Zwillingsstudien können zwischen 30 % bis 70 % der Variabilität des Körpergewichts auf genetische Faktoren zurückgeführt werden (für detaillierte Informationen zu genetischen Faktoren siehe z. B. Wirth & Hauner, 2013).

In der genetischen Forschung zu Adipositas spielten Tiermodelle immer schon eine wichtige Rolle. Die sogenannte Obese-Maus, eine Mausmutation mit extremer Adipositas, wurde bereits 1949 entdeckt. Diesem Stamm fehlt das Leptingen (LEPR). Einem zweiten Stamm einer Diabetesmutation db fehlt der Leptinrezeptor. Leptin reguliert die Fettspeicherung. Das Fehlen von Leptin bzw. des Rezeptors führt zur Hyperphagie und Adipositas. Gleiches gilt für die Agouti-yellow-Maus (Ay-Maus). Bei Ay-Mäusen wird in allen Zellen das Agouti-Peptid exprimiert, was zu einer Blockierung von anorexigenen Signalen im Gehirn führt, die über den Melanokortin-4-Rezeptor (MC4R) vermittelt werden. Eine ständig aktualisierte Übersicht |14|über Knock-out-Stämme, die Adipositas aufweisen, findet sich in der Obesity Gene Map (2014).

Die Adipositas, die durch eine Mutation in einem Gen (monogenetisch) bedingt wird, kommt sehr selten vor. Beim Prader-Willi-Syndrom oder dem Bardet-Biedl-Syndrom treten neben der Adipositas mentale Retardierung, Einzelorganschäden sowie Dysmorphobien auf. Insgesamt wurden nur 11 Gene identifiziert, die die Adipositas speziell monogen bedingen. Bei Patienten mit einer Mutation des Leptingens beispielsweise kann die Adipositas durch Leptinsubstitution ursächlich behandelt werden. Weltweit sind jedoch lediglich 20 entsprechende Fälle bekannt.

Derzeit werden über 100 Gene in der „Obesity Gene Map“ aufgelistet, für die Assoziationsstudien zur Adipositas durchgeführt werden. Insgesamt hat sich die Wichtigkeit des Polymorphismus des MC4R-Gens wiederholt gezeigt. In einer Metaanalyse zeigte sich in einer großen Familienanalyse ein Transmissionsungleichgewicht für den Polymorphismus im MC4R-Gen, bei dem im Protein Valin durch Isoleucin ersetzt wird (V103l). Das Isoleucinallel wurde seltener an übergewichtige als an normalgewichtige Kinder vererbt. Zudem zeigte sich eine negative Assoziation zwischen dem l103-Allel und Adipositas (Frieling et al., 2008).

Bisherige genetische Studien konnten 14 bekannte Genloci bestätigen und 18 neue Loci nachweisen, wobei alle 32 Loci zusammen allerdings nur 1.5 % der BMI-Varianz erklären. Diesbezüglich ist es besonders wichtig, auf die Interaktion der genetischen Prädisposition mit dem nahrungsmittelbezogenen und bewegungsspezifischen Lebensstil hinzuweisen, die die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Adipositas begünstigt.

Evidenz und Konsens besteht darüber, dass das FTO-Gen (fat mass and obesity associated gen) ein wichtiges Kandidatengen darstellt. Das FTO-Gen ist für 34 % dieser 1.5 % Varianz im BMI verantwortlich. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die Wirkung des FTO-Gens über das Vorliegen von depressiven Störungen vermittelt wird.

Der genetische Anteil der Variabilität des Körpergewichts wird entgegen der allgemeinen Annahme nur wenig über den Grundumsatz vermittelt. Aktuell wird vermehrt untersucht, welche Rolle der genetischen Transmission von Faktoren zukommt, die die Hunger- und Sättigungsregulation beeinflussen. So scheint die Ausprägung der Sensitivität für Nahrungsmittel und das Ausmaß erlebter Belohnung durch den Verzehr von Nahrungsmitteln genetisch mit beeinflusst. Aus psychologischer Perspektive ist es wichtig, genetische Einflüsse zur Kenntnis zu nehmen, um interindividuelle Unterschiede der Wirksamkeit von Interventionen zur Gewichtsreduktion besser verstehen zu können, oder Personen mit Prädisposition für Komorbidität gezielter unterstützen zu können.

|15|Stressreaktivität

Das subjektive Erleben von akutem oder chronischem Stress aktiviert das hypothalamische Stresszentrum, indem die Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) sowie das autonome Nervensystem (ANS) aktiviert werden. Korrelate der Aktivität der HPA-Achse spiegeln sich beispielsweise in den Konzentrationen von Cortisol (Stresshormon) im Speichel oder Serum wider. Das ANS wiederum lässt sich in das parasympathische und sympathische Nervensystem unterteilen, die antagonistisch arbeiten und für Regeneration bzw. für Leistungsbereitschaft und in emotionalen Zuständen wie Wut, Ärger oder Freude zuständig sind.

Die Exposition mit chronischen Stressoren wie z. B. eine psychische Erkrankung einer nahestehenden Person, Belastungen im Beruf, in der Partnerschaft etc. können den Regelkreis des hypothalamischen Stresszentrums beeinflussen. Gelingt die Bewältigung von Stress nicht ausreichend, kommt es zu einer dauerhaft erhöhten Stresshormonausschüttung. Dies wiederum führt zu kognitiven Beeinträchtigungen, emotionaler Dysregulation und beeinträchtigt die Gewichtsregulation, indem die Ausschüttung von Stresshormonen nachweislich den Verzehr von energiereichen Nahrungsmitteln, ein vermehrtes emotionales Essen und den Rückgang körperlicher Aktivität fördert. Zudem steigt bei vermehrter Ausschüttung von Stresshormonen die Konzentration des Insulins, welches die Fettspeicherung begünstigt.

2.2 Umgebungsbedingungen


2.2.1 Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten

Merke:

Im Verlauf der menschlichen Evolution war die Notwendigkeit hoher körperlicher Aktivität zur Nahrungsbeschaffung und Verteidigung gegeben. Die Ernährung bestand vor allem aus Gemüse, Wildfrüchten und nur selten aus Fleisch. Dieses Ernährungsverhalten und die Notwendigkeit der körperlichen Aktivität, die sich über mehr als 500.000 Jahre etabliert haben, kontrastiert deutlich mit dem sich seit ca. 50 Jahren entwickelnden Lebensstil, der sich durch zunehmende passive Fortbewegung im Alltag sowie einen zunehmenden Verzehr rasch verfügbarer, hochkalorischer Nahrungsmittel auszeichnet.

Das vielerorts vorherrschende Überangebot an Nahrung stellt heute viele Menschen vor die Herausforderung, 24 Stunden am Tag wählen zu können und zu müssen, ob und was in welcher Menge gegessen werden soll. Gleichzeitig fällt die Notwendigkeit der körperlichen ...

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