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Underreporting. Narration und Dramaturgie der Lüge im aktuellen Mindgame-Film

AutorMirjam Sommer
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl72 Seiten
ISBN9783656869856
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Filmwissenschaft, Note: 1,0, Universität zu Köln (Institut für Deutsche Sprache und Literatur II), Sprache: Deutsch, Abstract: Seit den 90er Jahren sind vermehrt Filme auf den Markt gekommen, die nach Elsaesser unter dem Begriff 'Mindgame Movies' gefasst werden. Unter Mindgame Movies werden Filme mit komplexer Erzählstruktur und schwer berechenbaren Handlungsverläufen verstanden, welche intendiert mit konventioneller Narration brechen und gewohnte Muster vermeiden. Motive sind häufig eine veränderte Realitätswahrnehmung des Protagonisten, 'Verschiebung von Raum und Zeit, Änderung der Kausalität und Durchmischung von Traum und Realität'. Merkmale von Mindgame-Filmen sind häufig unzuverlässige Erzählung und fehlende wie unmarkierte subjektive Einstellungen. Um die Charakteristika des Mindgame-Films deutlich zu machen, beginnt diese Arbeit mit einem Überblick zu den Spielregeln, derer sich die Filme bedienen. Es sollen die Fragen beantwortet werden, mit wem und wie in Mindgame-Filmen gespielt wird, was der Antrieb sein kann, sich auf dieses Spiel einzulassen, und warum Mindgame-Filme einen solchen Erfolg verbuchen. Anhand von aussagekräftigen Filmbeispielen sollen die einzelnen Elemente des Spiels exemplarisch erläutert werden. Da die Besonderheiten des Mindgame-Films vor allem auf der Ebene der Narration und der Dramaturgie zu finden sind, wird anschließend hierfür die Theorie näher erläutert. Um bestimmen zu können, auf welcher Instanz gelogen wird, soll insbesondere die Erzählinstanz untersucht und zwischen cinematic narrator, der Erzählfunktion und dem Fokalisator unterschieden werden. Um bestimmen zu können, wie eng der unzuverlässige Erzähler mit den Mindgame-Filmen in Kooperation steht, soll im Weiteren intensiv auf diesen eingegangen werden. Obwohl es nach Andreas Solbach keine gültige Definition für einen unzuverlässigen Erzähler gibt , soll hier wenigstens eine Annäherung an eine Definition vorgestellt werden. Im Kern wird es um die Fragen gehen, wann ein Erzähler als unzuverlässig gelten kann, wer als unzuverlässiger Erzähler auftreten kann und wer dies bestimmt. Drei verschiedene Arten der unzuverlässigen Narration werden in diesem Zusammenhang vorgestellt: Selbstbetrug, Misreporting und Underreporting. Es sollen jeweils folgende Fragen geklärt werden: Wer bedient sich der Lüge und ist sie intendiert? In der anschließenden Analyse der zwei Filmbeispiele Shutter Island und Black Swan wird Underreporting als Form der unzuverlässigen Narration vertieft.

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Leseprobe

3. Narration und Dramaturgie


 

Narration und Dramaturgie spielen in Mindgame-Filmen eine entscheidende Rolle, denn „these movies owe their impact at least as much to the way they are told as to the stories they are telling.”[118] Darum soll grundsätzlich geklärt werden, was unter Narration im allgemeinem und bezogen auf den Film sowie unter Dramaturgie verstanden wird und welche Bereiche dabei eine besondere Rolle spielen. Im Weiteren soll näher auf die Unterscheidung von cinematic narrator, Erzählfunktion und Fokalisator eingegangen werden. Diese Unterscheidung ist relevant, um eine Aussage darüber treffen zu können, wer sich genau in welchem Mindgame-Film der Lüge bedient. Grundsätzlich soll hier nur auf Elemente eingegangen werden, die für die spätere Analyse relevant sind.

 

3.1. Narration und Dramaturgie in Literatur und Film


 

Nach Fauser handelt es sich beim Erzählen um eine „üblicherweise für selbstverständlich gehaltene kulturelle Praxis“[119]. In der Literaturwissenschaft wurden Kriterien zur Narration aufgestellt. Diese sind die „Darstellung einer zeitlichen Folge von Ereignissen oder Situationen“[120], der Kausalität, sowie der „Darstellung irgendeiner Art von Zusammenhang im Sinne einer motivationalen Verkettung der dargestellten Veränderungen“.[121] Mit Hickethier gesprochen meint Erzählen, „die Verarbeitung, die Gestaltung, auch die Erfindung eines Geschehens durch den Erzähler.“[122] Dabei sind Erzähler „im Verhältnis zum erzählten Geschehen im engeren Sinne nicht Handelnde, sondern Außenstehende“[123]. Die Realität des Erzählers kann also von der Realität der erlebenden Personen unterschieden werden. Daraus lässt sich schließen, dass Erzählen sowohl ein Abbild der subjektiv wahrgenommenen Welt, als auch der subjektiven Fantasie, ist.

 

Wird im Film von Narration gesprochen, so wird häufig der Terminus „Dramaturgie“[124] verwendet. Der Begriff der Dramaturgie stammt ursprünglich aus dem Theater. In diesem Kontext heißt Dramaturgie die „Beschäftigung mit der Komposition eines Dramas, seiner Zusammensetzung aus Teilen.“[125] Mikos grenzt die Dramaturgie folgendermaßen vom Begriff der Erzählung ab:

 

Die Narration oder Erzählung besteht in der kausalen Verknüpfung von Situationen, Akteuren und Handlungen zu einer Geschichte; die Dramaturgie ist die Art und Weise, wie diese Geschichte dem Medium entsprechend aufgebaut ist, um sie im Kopf und im Bauch der Zuschauer entstehen zu lassen.[126]

 

Dramaturgie bedient sich des komprimierten Erzählens einer Geschichte. Es wird nur gezeigt, was relevant für den Konflikt ist. Durch diese Selektion soll beim Zuschauer Spannung erzeugt und das Interesse geweckt werden, die Geschichte bis zum Ende zu verfolgen[127].

 

Dramaturgie hat also die Aufgabe, die Kette von Ereignissen, in denen Personen handeln, so zu gestalten, dass bestimmte kognitive und emotionale Aktivitäten bei den Zuschauern angeregt werden. Es wird Wissen aufgebaut und es werden Gefühle hervorgerufen.[128]

 

Sinnvoll für den Film ist auch die Story/ Fabel, welche „die kausale Kette der wesentlichen Ereignisse zeitlich linear angeordnet als verbale Synopsis wiedergibt“[129], vom Plot zu unterscheiden, bei dem es „um die tatsächliche Anordnung der Ereignisse in der Erzählung geht“[130]. Der Plot ist eine knappe Beschreibung für die strukturgebenden Elemente mit Bedeutung einer Fabel, wie etwa die Exposition, dem Plot Twist (wichtige Kollisionen), dem Plot Point (Dreh- und Wendepunkte) oder dem Final Plot Point (Art der Lösung). [131] Zuletzt sei hier noch der Stil abgegrenzt, der „die Beziehung der Erzählinhalte zum systematischen Gebrauch der filmischen (oder literarischen) Mittel“[132] umfasst.

 

Wie in der Narration der Literaturwissenschaft, umfasst die Dramaturgie des Films gewöhnlich Anfang, Hauptteil mit seinen Wendepunkten und Schluss. Der Anfang beinhaltet häufig die Expositionen der Figuren und der Situation, um den Zuschauer in die Geschichte einzuführen. Zwingend ist dies aber nicht. Der Film kann auch unmittelbar beginnen und die Exposition nachgereicht werden. Nach der Exposition findet in der Regel der erste Wendepunkt statt, um den Konflikt zu etablieren[133]:

 

Auf der Ebene der Dramaturgie wird der Konflikt zu einem Höhepunkt getrieben. Auch ist zu unterscheiden zwischen einem kausalen Höhepunkt (als Ergebnis einer Ereignisfolge, die dadurch abgeschlossen wird) als inhaltlicher Höhepunkt, auf dem die antagonistischen Positionen zu einem Austrag kommen und der zumeist auch einen kognitiven Höhepunkt darstellt, auf einen emotionalen Höhepunkt (mit der stärksten Intensität der evozierten Gefühle des Zuschauers) und einem sinnlichen (viszeralen) Höhepunkt, der durch Wahrnehmungserregungen (induktive Spannung, Körperreaktionen, Schwindelgefühle) [erzeugt wird].[134]

 

Präsentiert der Film einen offensichtlichen Abschluss, so handelt es sich um eine geschlossene Form. Entlässt er den Zuschauer grübelnd, so handelt es sich meistens um einen offenen Schluss. Vor allem in den Mainstream-Filmen enthält der Schluss auch den Höhepunkt[135].

 

Ein weiteres Merkmal von Erzählung stellt die Diskrepanz zwischen erzählter Zeit (Zeitraum in der die Geschichte spielt) und Erzählzeit (die praktisch verwendete Zeit zum Erzählen) dar[136]. Häufig wird die erzählte Zeit verkürzt, um nur das für die Geschichte Relevante darzustellen. Dies kann durch Raffung oder durch Ellipsen geschehen. Im Film werden Zeitsprünge häufig durch kurze Schnittbilder in Montagesequenzen realisiert (match-cuts) oder symbolisch präsentiert[137]. Es kann aber ebenso gut zeitdeckend oder zeitdehnend erzählt werden[138]. Im Film wird eine Zeitdehnung z.B. durch Slow Motion oder durch crosscutting, also „das Hin- und Herschneiden zwischen verschiedenen Orten mit paralleler Handlung“[139] erreicht. Ziel der Zeitdehnung ist häufig die Spannung zu erhöhen oder das Groteske zu betonen[140].

 

Ein weiterer Faktor bzgl. der Zeit stellt die Ordnung des Erzählten dar. So können Analepse zur rückwirkenden Erklärung herangezogen werden oder durch Prolepse Zukünftiges vorweg genommen werden[141]. Im Film geschieht dies häufig durch Rückblenden in Form einer visualisierten Erinnerung oder durch Visionen in Form eines Traumes. Um Spannung zu erzeugen werden Informationen auch gerne zurückgehalten und später effektvoll präsentiert[142]. Wann diese Strategie zum „Underreporting“ wird, soll später genauer analysiert werden.

 

Das dritte Merkmal bzgl. der Zeit betrifft die Frequenz. So kann eine Erzählung singulativ (einmal erzählen was sich einmal zugetragen hat), repetitiv (mehrmals erzählen was sich einmal zugetragen hat) oder iterativ (einmal erzählen, was sich wiederholt ereignet hat) gestaltet sein[143].

 

Entgegen des literarischen Erzählens, welches auf Sprache basiert, ist im Film das Geschehen darstellende Bild der Ursprung und das Leitmedium[144]. Die Kamera dient als „›Vermittlungsinstanz‹, deren Orientierungszentrum wahlweise [...] das eines Handelnden oder das eines Beobachtenden sein kann.“[145] Auch wenn das Bild das Leitmedium ist, arbeiten Ton und Bild Hand in Hand. Nach Aristoteles ist die mimetische Narration (der Autor spricht durch die Figuren) von der diegetischen Narration (der Erzähler spricht, nicht die Figuren) zu unterscheiden. Im Film werden beide Narrationen verbunden: „Sie erzählen, indem sie zeigen, und sie erzählen durch Sprechen über etwas, was sie nicht zeigen.“[146]

 

Doch nicht nur der Kamera und der Sprache kommt eine besondere erzählerische Bedeutung zu:

 

Der aktuelle Stand der Filmkunst belegt nachhaltig, daß [!] der Film über innersprach-liche Mittel (Montagerhytmus, Tiefenschärfe, Schauspielergestik und -mimik, Filmmusik) ohne Einsatz von Sprache Innenwelt von Figuren, ja sogar in Ansätzen deren Entwicklung wiedergeben kann.[147]

 

Hickethier betont allerdings, dass die Macht des Erzählens nicht allein in der Hand des Filmemachers liegt. „Nicht der Film vermittelt Bedeutung, sondern der Zuschauer erkennt aufgrund bestimmter Bedingungen in ihm Bedeutungen.[Hervorhebungen im Original][148] Und nicht nur das: „Menschen benutzen Filme und Fernsehsendungen sowohl zur Gestaltung ihrer eigenen Identität als auch zur Gestaltung ihre [!] sozialen Beziehungen.“[149]

 

3.2....


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