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E-Book

Nach uns die Kernschmelze

Hybris im atomaren Zeitalter

AutorRobert Spaemann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl107 Seiten
ISBN9783608102444
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Seit über 50 Jahren spricht sich der Philosoph Robert Spaemann ausdrücklich gegen die Nutzung der Atomenergie aus. Als einer der führenden Skeptiker in dieser Debatte fühlt sich Robert Spaemann weniger durch politische Programme zu seiner Stellungnahme veranlasst, als vielmehr - philosophisch und theologisch - aus ethischen Gründen verpflichtet. Er erhebt Einspruch gegen die menschliche Hybris im atomaren Zeitalter: Woher nehmen wir die Gewissheit, eine Technologie handhaben zu können, bei der jeder Fehler, auch der kleinste, unabsehbare Folgen nach sich ziehen kann? 'Dieser kleine Planet ist uns zu treuen Händen übergeben; es gibt kein größeres Verbrechen, als einen ganzen Lebensraum unbewohnbar zu machen.' Robert Spaemann

Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg, promovierte 1952 in Münster, war Verlagslektor und wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich 1962 für Philosophie und Pädagogik in Münster. 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an der TH Stuttgart und den Universitäten Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Er hatte zahlreiche Gastprofessuren inne und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden. Träger des Karl-Jaspers-Preises 2001 der Stadt und der Universität Heidelberg.

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Leseprobe
Vorwort Recht behalten zu haben ist eine kümmerliche Befriedigung. Der Warner vor einem großen Unglück würde es ja vorziehen, ganz und gar widerlegt zu werden. Three Miles Island - Tschernobyl - Fukushima : Immer waren es unglückliche Zufälle, aus denen man, zum Beispiel in Russland, offenbar nichts lernen kann und zu lernen braucht - jedenfalls nicht zu lernen, dass man aus dieser Technologie aussteigen muss. Stattdessen planen wir einzelne zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen, die die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe vermindern sollen. Die Katastrophe - auch für den schlimmsten Fall - gänzlich und definitiv auszuschließen hieße, auf die Technik der Kernspaltung zu verzichten. Wir gehen in unserem Leben ständig Risiken ein, manchmal riskieren wir sogar unser Leben. Wir steigen in Flugzeuge, obwohl die Wahrscheinlichkeit abzustürzen nicht gleich Null ist. Es kommt darauf an, einzusehen, dass die Sache hier anders liegt: Keine noch so weitgehende Minimierung des Risikos kann uns berechtigen, sukzessiv ganze Regionen unseres kleinen Planeten in No-Go-Areas oder in Todeszonen zu verwandeln. Man sagt uns, diese Technologie sei im Augenblick ohne Alternative. Wäre dem so, hieße das, eine unsichtbare, intelligente Hand würde die Entwicklung von Wissenschaft und Technik so steuern, dass immer dann, wenn die Menschheit mit ihrem Überleben und ihrem materiellen Fortschritt in einen Engpass gerät, plötzlich genau die Entdeckung bei der Hand wäre, die allein ermögliche, dass es weitergeht mit dem Menschen. Kein Vertreter des Intelligent Design in der Evolutionstheorie wagt eine vergleichbar fantastische Annahme. Rettende Lösungen existentiell bedeutsamer Krisen werden allerdings in der Regel nur dann gefunden, wenn die Menschheit mit dem Rücken zur Wand steht. Solange das Ausweichen auf Atomenergie als Option zur Verfügung steht, ist diese Dringlichkeit nicht gegeben, die uns zu alternativen Lösungen führt. Dabei zeichnen sich inzwischen ja schon die Alternativen ab, und man spricht von der Atomenergienutzung als »Brückentechnologie«. Aber diese Brücke muss man so schnell wie möglich überqueren, und das auch unter einschneidenden Opfern an Geld und Wohlstand. Wenn ein Mensch in einer existenzbedrohenden Not das Leben seines Kindes verwettet, handelt er auch unverantwortlich, selbst wenn die Gewinnchancen bei dieser Wette für ihn 99:1 stehen. Niemand kann ja wissen, ob das Unwahrscheinliche gerade morgen geschieht. Es ist nicht von ungefähr, dass die erste Nutzung der Kernenergie ein Massenmord war, der Massenmord an den Bewohnern von Hiroshima und Nagasaki. »It was technologically so sweet«, gestand Robert Oppenheimer, um sein Engagement für die Herstellung der Bombe zu erklären, gegen die er sich später ausprach. Und Carl Friedrich von Weizsäcker erzählte, was er und mit ihm das Forscherteam, das an der Bombe arbeitete, spontan äußerte, als die Nachricht von der Vernichtung Hiroshimas bekannt wurde: »Also, es klappt tatsächlich!« So sind Wissenschaftler, wenn sie ausschließlich Wissenschaftler sind. Aber als es dann später um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging, wussten wir - die Gegner dieser Bewaffnung - denselben Carl von Weizsäcker auf unserer Seite. Auch damals hörten wir das Argument, es gebe keine Alternative. Ohne diese Waffe wäre der Westen angeblich gegenüber der sowjetischen - bis dahin noch nicht nuklearen - Bedrohung wehrlos, was natürlich nur dann zutraf, wenn man die Alternative höherer Rüstungsausgaben und höherer Militärstärken nicht in Betracht zu ziehen bereit war. Es war übrigens interessant, dass unsere fairsten Kritiker und Gesprächspartner führende Militärs waren und dass es die Zeitschrift Militärseelsorge war, die diese Kontroverse veröffentlichte. Viele Jahre später, als es dann um die Nachrüstung ging, wurde ich zum Gegner der sogenannten Friedensbewegung. (Ich habe das in einem Brief an Heinrich Böll erklärt, der jetzt in dem Band »Grenzen« dokumentiert ist.) Hier ging es nämlich nicht mehr um die Frage eines Ja oder Nein zur atomaren Bewaffnung. Diese Bewaffnung hatte ja längst stattgefunden, sondern es ging darum, das Kriegsrisiko zu senken: Das Gleichgewicht des Schreckens wollte der Westen immer wieder in dem Maße sichern, in dem die Sowjetunion dieses Gleichgewichts gefährdete. Ein amerikanisches Monopol auf Atomwaffen hielt ich damals für genauso gefährlich wie ein sowjetisches. So sah es übrigens auch Sacharow. Inzwischen ist die Zahl der Atomwaffen in der Welt ins Absurde gestiegen, sie einzusetzen aber, das heißt der atomare Erstschlag, völkerrechtlich verboten, was immer das im Ernstfall bedeuten mag. Stattdessen haben wir nun also die »friedliche Nutzung«, die wiederum angeblich alternativlos ist. Ich will hier nicht die öffentliche Debatte in Deutschland neu aufrollen, sondern nur dem bisher Geschriebenen und Gesagten einen Gedanken hinzufügen: Dass die erste Nutzung dieser Technologie die Atombombe war, ist kein Zufall. Die Entfesselung dieser Art von Energie ist selbst schon der Anfang des Unfriedlichen, wie wir zu lernen beginnen. Christliche Apologeten äußern gelegentlich, Gott habe doch diese Energie dem Menschen zur Verfügung gestellt. Aber da stimmt etwas nicht. Diese Kraft dient in der Natur dem Zusammenhalt der materiellen Welt. Wenn wir an einem windstillen, sonnigen Maimorgen durch die frühlingshafte Landschaft wandern, sind wir uns in der Regel nicht der ungeheuren Energie bewusst, die diese friedliche Gestalt ermöglicht. Wer am Rheinfall von Schaffhausen steht, kann beobachten, wie eine ruhige, fast unbewegte Wasserfläche dort, wo das Gefälle beginnt, sich im Herabstürzen in ein wildes Tosen verwandelt, um, unten aufgeprallt, dann rasch wieder zur Ruhe zu kommen, als wäre nichts gewesen. Zersprengte Atome kommen jedoch so schnell nicht wieder zur Ruhe. Genauer gesagt, sie kommen vielleicht in etwa 25 000 Jahren zur Ruhe. Es grenzt schon an Frivolität zu behaupten, Gott habe gewollt, dass wir die Bewohnbarkeit von Teilen unseres Planeten für Jahrtausende verwetten, um jetzt unseren Lebensstandard zu erhalten. Vermutlich wird es schon in 10 000 Jahren keine Menschen mehr geben, jedenfalls aber keine wissenschaftlich-technische Zivilisation mehr, in der überhaupt noch bekannt ist, worum es sich bei diesen Gefahrenquellen handelt. Die letzte große Völkerwanderung hat das Wissen der griechisch-römischen Kultur weitgehend in Vergessenheit geraten lassen. Wie es menschenmöglich war, die gewaltigen Steine in Stonehenge aufeinanderzutürmen, ist uns bis heute unbekannt. Man konnte dieses Wissen nicht über so lange Zeiträume weitergeben. Und hier handelt es sich nur um wenige Jahrtausende. Wenn es aber noch Menschen geben wird, dann tragen wir zwar für sie Verantwortung, aber keine positive Verantwortung; für ihr Glück müssen sie schon selbst sorgen. Wir haben aber die Pflicht, ihnen die elementaren Ressourcen des Lebens ungeschmälert zu übergeben. Wir müssen nicht über einen verborgenen Ratschluss Gottes spekulieren - »Du hast mir die Wege des Lebens bekanntgemacht«, heißt es im Psalm. Es genügt, unsere Vernunft zu gebrauchen, um zu wissen, was gut und was schlecht ist. Vorbemerkung Moderne Technologien auf physikalischem und biologischem Gebiet, insbesondere Atomspaltung und genetische Manipulation, werfen moralische Probleme auf, für deren Lösung traditionelle philosophische und theologische Argumentationen nur dann Hilfe bieten, wenn wir sie in ihrer abstraktesten und allgemeinsten Form heranziehen. Dies gilt insbesondere dort, wo die moralischen Probleme sich mit den politisch-rechtlichen überschneiden, das heißt mit der Frage nach der Verantwortlichkeit des Staates für die möglichen Folgen und Nebenfolgen der Anwendung dieser Technologien. Um hier zu Ergebnissen zu gelangen, die allgemeine Einsichtigkeit beanspruchen können, ist es deshalb erforderlich, sich der Grundlagen der Argumentation Schritt für Schritt zu versichern. Ich beginne daher mit einer Erörterung des allgemeinen moralphilosophischen Problems der Zumutbarkeit von Nebenwirkungen , um in einem zweiten Teil Gesichtspunkte zur Beurteilung technischer Eingriffe in die natürliche Umwelt zu entwickeln. Erschienen unter diesem Titel in: Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken, 9. Jahrgang 1979, Heft 4, 476-497. I - Zumutbarkeit von Nebenwirkungen Es liegt im Wesen menschlicher Handlungen, dass sie Nebenwirkungen hervorbringen. Dieser Satz ist nur die Kehrseite des anderen, dass Handeln auf Zwecke gerichtet ist. »Zweck« heißt jene Folge, die der Handelnde aus der Gesamtheit der Handlungsfolgen intentional heraushebt und im Verhältnis zu welcher er alle anderen Folgen zu Nebenfolgen, zu Mitteln oder zu Kosten herabsetzt. Nur durch solche Selektion wird Handeln überhaupt möglich, und nur durch sie wird es von »blinden« Naturereignissen unterscheidbar. Der Unterschied zwischen »Mitteln« und »Nebenwirkungen« liegt darin, dass Mittel selbst als diese gewollt werden müssen, also Unterzwecke sind, während Nebenwirkungen nicht gewusst, gewollt und herbeigeführt, sondern nur »in Kauf genommen« werden. So etwa ist die Zerstörung einer Kaserne im Krieg ein Mittel zur Erreichung des Kriegszieles, die Zerstörung der benachbarten Wohnhäuser aber eine Nebenwirkung, die mangels ausreichender Begrenzungsmöglichkeit der Sprengwirkung einer Bombe »in Kauf genommen« wird. Allerdings kann der Terroreffekt von Angriffen auf zivile Objekte auch selbst als Kriegsmittel beabsichtigt sein. Dass der Handelnde in der Wahl der Mittel nicht frei ist, dass also nicht »der Zweck jedes Mittel heiligt«, er gibt sich aus einer einfachen Überlegung. Die Zwecke der Menschen sind verschieden. Die Mittelwahl des einen kann für den anderen Vereitelung seines Zweckes sein. Das Recht eines jeden, jeden anderen in seiner Zweckverfolgung nach Maßgabe der eigenen Zwecke beliebig zu behindern, würde den Begriff des Rechts selbst unmittelbar aufheben. Eine solche Befugnis wäre gleichbedeutend mit dem Ende einer Rechtsordnung überhaupt. Andererseits heißt »Mittel anwenden«, oder »Kosten aufwenden« immer: die Möglichkeit der Verfolgung anderer Zwecke einschränken. Diese anderen Zwecke können sowohl die des Handelnden selbst als auch die Zwecke anderer sein. Die Kosten einer Ferienreise können den Bau eines Hauses verzögern. Und in einem sehr allgemeinen Sinne behindert auch jede Zielverfolgung eines Menschen mögliche Zielerreichungen eines anderen. Wenn die Ressourcen knapp sind, steht das Verbrauchte nicht mehr zur Verfügung, weder für den Verbraucher selbst noch für einen anderen. In beiden Fällen kann sich ein moralisches Problem stellen. Es gibt Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Wer für einen Augenblicksgenuss seine Gesundheit ruiniert, verletzt eine solche Pflicht. Dies zu begründen würde über unser Thema hinausführen. Den Pflichten gegen sich selbst korrespondieren nämlich keine einklagbaren Rechte. Das Verhältnis zu sich selbst ist kein durch Regeln der Gerechtigkeit normiertes Verhältnis. Volenti non fit iniuria . (Dem, der bekommt, was er will, geschieht kein Unrecht.) Wo es hingegen um das Verhältnis des Handelnden zu Betroffenen geht, die mit ihm nicht identisch sind, da entsteht das Problem der Gerechtigkeit, das heißt der Zumutbarkeit der Nebenfolgen des Handelns, und zwar stellen sich in diesem Zusammenhang vor allem zwei Fragen: Welches sind die Kriterien der Zumutbarkeit? Wer trägt die Verantwortung für die Zumutung von Handlungsnebenfolgen? Kriterien der Zumutbarkeit : Hinsichtlich der Frage der Zumutbarkeit gibt es zwei extreme Auffassungen. Die erste ist die anarchistische . Sie geht davon aus, dass es kein anderes Kriterium für Zumutbarkeit gibt als die wirkliche Zustimmung der Betroffenen. Dahinter steht folgende richtige Erkenntnis: Die Freiheit des Menschen besteht gerade darin, dass nicht andere über den Wert und Rang seiner Wünsche und Interessen zu entscheiden haben. Zur Freiheit gehört, dass ich den Dingen für mich die Bedeutung geben kann, die ich selbst ihnen zu geben wünsche. Der Bereich, in dem die individuellen Präferenzen ohne Bevormundung den Ausschlag geben, ist der freie Markt. Als Lösung des Gerechtigkeitsproblems stößt der Anarchismus jedoch auf einige grundsätzliche Schwierigkeiten: a) Da jedes Handeln Nebenfolgen zeitigt, durch welche andere in Mitleidenschaft gezogen werden, würde jedes Handeln vereitelt werden können, wenn nur einer der auch noch so entfernt in Mitleidenschaft Gezogenen Widerspruch erhöbe. Niemand könnte mehr bauen, wenn jeder die Beeinträchtigung seines subjektiven Wohlbefindens durch den Bau des anderen geltend machen könnte, ohne die Unzumutbarkeit dieser Beeinträchtigung nach allgemeinen Kriterien für Zumutbarkeit aufzeigen zu müssen. Unterlassung jeden Handelns aber ist erst recht unzumutbar für ein freies Wesen. b) Die anarchistische Forderung muss deshalb wenigstens eine von zwei Hilfsannahmen machen: Sie muss entweder voraussetzen, dass die menschlichen Wünsche »von Natur« mit den vorhandenen begrenzten Mitteln zu ihrer Befriedigung in prästabilierter Harmonie stehen. Oder sie muss voraussetzen, dass alle Menschen ihre Ansprüche von sich aus auf ein »gerechtes Maß« zurückschrauben. Die eine Voraussetzung macht den Menschen zum Tier, die andere zum Heiligen. Die erste Annahme wird durch die Geschichte widerlegt. Gäbe es jene prästabilierte Bedürfnisstruktur, dann hätten die Menschen nicht alles darangesetzt, durch Entfaltung der Produktivkräfte die Befriedigungsmöglichkeiten zu vermehren, und sie hätten nicht in Funktion dieser Vermehrung die Bedürfnisse selbst ausgeweitet. Die Widerlegung der zweiten Annahme folgt logisch aus der ersten. Mit der Bereitschaft zu einer »gerechten Lösung« von Interessenkonflikten könnte man nur dann mit Sicherheit rechnen, wenn sie angeboren wäre. Sie würde dann eine Art von »natürlichem Bedürfnis« sein, was wiederum durch den Gang der Geschichte widerlegt wird. Die Bereitschaft, »gerechte Lösungen« zu akzeptieren, setzt die Tugend der Gerechtigkeit voraus. Für Tugenden aber gilt das Wort Spinozas: »Alles Vortreffliche ist ebenso schwierig wie selten.« Wegen der unter a) und b) genannten Schwierigkeiten des Anarchismus ist dieser historisch selten in Reinform aufgetreten, sondern öfter in einer sozialistischen Variante, die eine vorgängige Verschmelzung von Einzelinteressen und Kollektivinteressen ins Auge fasst. So fordert zum Beispiel Proudhon, politisches Leben und private Existenz, gesellschaftliche und individuelle Interessen müssten zunächst miteinander identisch werden, dann werde deutlich, dass aller Zwang verschwunden sei und wir uns in der vollen Freiheit der Anarchie befänden. Marx hat richtig gesehen, dass eine solche Identität nur unter der Bedingung möglich ist, dass das Grundphänomen allen bisherigen Wirtschaftens beseitigt ist, das Phänomen der Knappheit. Da indessen, wie wir heute wissen, Knappheit aus ökologischen, physikalischen und anthropologischen Gründen prinzipiell unaufhebbar ist, bleibt die definitive Aufhebung des Dualismus von Individualinteresse und Allgemeininteresse eine Fiktion, der nur durch Zwang allgemeine Geltung verschafft werden kann, sodass der Anarchismus sich selbst aufzuheben genötigt ist. c) Die dritte Schwierigkeit, die der anarchistischen Lösung im Wege steht, ist die folgende: Wirklich zustimmen können den jeweiligen Handlungsfolgen nur die zur Zeit der Handlung existierenden mündigen Mitmenschen. Betroffen sind aber auch Unmündige und unter Umständen auch noch gar nicht geborene Menschen. Die Frage der Zumutbarkeit für diese muss also von anderen als von ihnen selbst entschieden werden. Die Kriterien für die Gerechtigkeit solcher Entscheidungen, also die Kriterien der Zumutbarkeit künftiger Zustimmung, müssen daher von der wirklichen Zustimmung der Betroffenen verschieden sein, oder es gibt gar keine Kriterien der Gerechtigkeit. Die zweite Lösung des Problems der Zumutbarkeit ist das konsensuelle Verfahren . Dabei wird die Frage auf eine abstraktere Ebene verlegt. Angesichts der Unmöglichkeit, in jedem Einzelfall die faktische Zustimmung der Betroffenen zu einer Handlung mitsamt ihren Folgen zu erreichen, werden Verfahren eingeführt, mittels derer die Frage nach der Zumutbarkeit im Einzelfall entschieden wird. Nicht die Einzelentscheidungen selbst, sondern diese Verfahren bedürfen nun der allgemeinen Zustimmung. Im Unterschied zu der anarchistischen Konstruktion kann daher jederzeit ein Konflikt ausbrechen zwischen der allgemeinen Zustimmung zum Verfahren und dem Widerstand eines Betroffenen gegen eine bestimmte, für ihn nachteilige Lösung, die aufgrund des vereinbarten Verfahrens zustande kam. Für diesen Fall muss eine Zwangsgewalt installiert sein, die der auf legitime Weise zustandegekommenen Lösung zur Durchsetzung verhilft. In dieser, der rechtsstaatlichen Konzeption, gilt also als zumutbar, was in einem konsensuellen Verfahren für zumutbar erklärt wurde. Auch diese Lösung stößt auf Schwierigkeiten, wenngleich nicht auf unüberwindliche. Es sind vor allem die beiden folgenden. Erstens: Der einstimmige Konsens aller bei der Einrichtung von Verfahren - also bei der Verabschiedung einer Verfassung - ist zwar nicht so unmöglich wie der Konsens bezüglich bestimmter Einzelentscheidungen. Er ist aber ebenfalls normalerweise nicht zu erwarten. Eine Diskussion des Für und Wider kann nicht so lange dauern, bis der Letzte überzeugt ist. Es kann nicht für jeden neu Hinzukommenden die Verfassungsdebatte neu eröffnet werden. Zweitens: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelne ungerecht sind, das heißt solche Verfahren begünstigen, durch die sie aufgrund bestimmter natürlicher oder sozialer Startbedingungen begünstigt werden. Zumindest kann nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne sich durch die von der Mehrheit beschlossenen Verfahren benachteiligt fühlen. Damit der rechtsstaatliche Weg, Zumutbarkeit festzustellen, seinerseits für jedermann zumutbar ist, müssen daher bestimmte zusätzliche Bedingungen erfüllt sein: a) Verfahren und Debatte über die Verfahren müssen institutionell getrennt sein. Die Verabschiedung von Gesetzen kann das Ende von Debatten nicht abwarten, sie darf dieses Ende aber auch nicht dekretieren. Der Grund ist der folgende: Es ist einleuchtend, dass Nichthandeln oft ebenso weitreichende Konsequenzen hat wie Handeln, ja, dass es manchmal schlimmere Folgen hat als falsches Handeln. Es ist ferner einleuchtend, dass Handeln meistens unmöglich wäre, wenn dem abwägenden Für und Wider nicht durch eine Entscheidung ein Ende gesetzt würde. Es ist aber damit nicht gesagt, dass die Entscheidung stets richtig ist. Es gibt keine apriorische Identität von Machthabern und Rechthabern. Gehorsam gegenüber der Entscheidung des legitimen Machthabers, also zum Beispiel auch der Mehrheit, ist also nur zumutbar, wenn es nicht mit der Zumutung verbunden ist, dem Machthaber auch in der Sache recht zu geben. Dass der Machthaber sich bei seiner Entscheidung von dem leiten ließ, was er für das Wohl der Gesamtheit hält, kann aber nur dann unterstellt werden, wenn er sich nicht weigert, in der Sache selbst weitere Belehrung zu erhalten. Daraus folgt: Die Debatte über die Richtigkeit einer Entscheidung muss weitergehen dürfen. Jeder muss das Recht haben, frei über politische Gegenstände zu sprechen, und die fortgesetzte Debatte muss die Möglichkeit haben, die Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt zu beeinflussen: Rahmenentscheidungen dürfen nicht irreversibel sein. b) Das letzte Wort, die Ordnung der Entscheidungsverfahren betreffend, muss bei der Mehrheit des Volkes liegen. Wo aber eine Minderheit die Entscheidung trifft, da muss die Mehrheit die Möglichkeit besitzen, über die Kriterien zu entscheiden, aufgrund derer jemand Mitglied dieser Minderheit ist. Dieses Recht der Mehrheit beruht nicht auf der irrigen Annahme, die Mehrheit hätte immer in der Sache recht. Sie beruht auch nicht auf der Annahme, es gäbe eine natürliche Autorität einer Gruppe von Menschen über eine andere, nur weil die erstere zahlreicher ist. Es beruht vielmehr umgekehrt auf der Abwesenheit von so etwas wie einer höheren Ermächtigung, wie wir sie etwa in bestimmten Institutionen, vor allem in Stiftungen, vor uns haben. Die Legitimität qualitativer Differenzierung kann auf verschiedene Art begründet werden. Solche Begründungen sollten normalerweise nicht voluntaristisch sein, sondern aus inhaltlichen Gesichtspunkten folgen, also aus ihrer »Vernünftigkeit«. Wo diese inhaltliche Begründung allerdings nicht einleuchtet, wo sie bestritten und wo gefragt wird, wer denn die Vernünftigkeit derer garantiere, die eine bestimmte Ordnung für vernünftig halten, da bedarf jede Legitimität letzten Endes der Verankerung in der Zustimmung der Mehrheit. Freilich kann eine Mehrheit nur dann beanspruchen, Repräsentant der Gesamtheit zu sein, wenn die Gesamtheit durch ein hohes Maß an Homogenität gekennzeichnet ist, sodass jeder prinzipiell die Chance hat, seine Meinung als Mehrheitsmeinung zu erleben. Ethnische oder religiöse Konflikte, aber auch fundamentale Gewissensfragen können nicht durch Mehrheitsentscheidungen legitimitätsstiftend gelöst werden. c) Wem die Ordnung des Verfahrens oder eine bestimmte Entscheidung über Zumutbarkeit als für ihn selbst unzumutbar erscheint, der muss die Möglichkeit haben, sich den Auswirkungen dieser Entscheidungen durch Auswanderung zu entziehen. Der Grund hierfür liegt im Folgenden: Es gehört zwar zum Menschen, in einer politischen Ordnung zu leben; aber jede bestimmte politische Ordnung und alle bestimmten Landesgrenzen bleiben deshalb doch »zufällig«. Der Aufenthalt in einem Land kann nur dann als stillschweigende Loyalitätserklärung interpretiert werden, wenn es jedem freisteht, das Land, auch unter Mitnahme seines Eigentums, zu verlassen. Der Direktion eines Gefängnisses, in das man ohne eigene Schuld geraten ist, schuldet man keine Loyalität. Aber auch wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, garantiert die Gründung der Entscheidungsprozesse auf konsensuelle Verfahren noch nicht deren Gerechtigkeit, das heißt die Zumutbarkeit für jeden, ihre Ergebnisse zu akzeptieren. Die Nebenwirkungen menschlicher Handlungen können nämlich Menschen betreffen, die an der Statuierung der Verfahren, in welcher über deren Zulässigkeit entschieden wird, prinzipiell nicht mitwirken können, weil sie zu diesem Zeitpunkt unmündig sind oder weil sie noch gar nicht existieren. Ihre Zustimmung muss also antizipiert werden. Dies kann nur geschehen, wenn wir, unabhängig von der wirklichen oder mit Gründen präsumierten Zustimmung zu den Entscheidungen oder Verfahren, über inhaltliche Kriterien verfügen, die die Grenzen des Zumutbaren markieren. Alle Theorien, die die Rechtsphilosophie aufstellt, gründen auf dem Gedanken einer diskursiven Vermittlung von Interessen; sie finden ihre Grenze erstens in dem Umstand, dass wir es in der Gesellschaft auch mit Kindern und mit Geisteskranken zu tun haben, die an diesem Diskurs nicht teilnehmen können. Auch über diese dürfen die Diskursteilnehmer jedoch nicht beliebig disponieren. Warum nicht? Warum dürfen die Menschenrechte nicht an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geknüpft werden, zum Beispiel daran, dass jemand imstande ist, die Menschenrechte überhaupt zu verstehen und geltend zu machen? Deshalb nicht, weil jede inhaltliche Definition von Menschen jene bestimmte Zahl von Menschen privilegieren würde, welche die Befugnis hätte, die Definition festzulegen und über das Vorliegen der Merkmale zu entscheiden. Es gäbe gar keine Menschenrechte, wenn es in das Belieben bestimmter Menschen gestellt wäre, darüber zu entscheiden, ob jemand Träger solcher Rechte ist oder nicht. Daher bleibt als Kriterium nur die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens . Solange Menschen nicht mit Affen gekreuzt werden können, ist die Frage, wer Träger von Menschenrechten ist, so, aber auch nur so zweifelsfrei entscheidbar. Die zweite Grenze der Diskurstheorie der Gerechtigkeit liegt in dem Umstand, dass die Nebenfolgen unserer Handlungen und also auch unserer politischen Entscheidungen Menschen treffen, die zur Zeit unserer Handlungen und Entscheidungen noch gar nicht leben. Die menschliche Gemeinschaft übergreift die Generationen. Aber kein Instinkt begrenzt unsere Handlungsmöglichkeiten auf das Maß, das durch die Lebensbedürfnisse der später Lebenden gesetzt ist. Wir müssen dieses Maß selbst setzen. Wir haben unsere Handlungen vor künftigen Geschlechtern zu verantworten. Andererseits freilich haben wir durch Erziehung, durch »Einstimmung« der folgenden Generation in unsere Wertschätzungen dafür zu sorgen, dass die künftigen Geschlechter imstande sind, in der Vergangenheit, deren Folgen sie zu tragen haben, etwas anderes als bloße Fremdbestimmung zu sehen, nämlich ihre eigene Geschichte. Diese Verantwortung gegenüber den Späteren folgt aus einer elementaren Billigkeitserwägung. Jeder Handelnde kann nur insoweit handeln, als andere zuvor ihm nicht seinen Handlungsspielraum durch exzessive Ausdehnung des ihren genommen haben. Ohne dass sich jede Generation als Glied in einer solidarischen Gemeinschaft der Generationen betrachtet - mit Schuldigkeiten nach hinten und nach vorn -, gibt es gar kein menschliches Leben auf der Erde. Um zu bestimmen, was diese Schuldigkeiten im Einzelnen bedeuten, sind freilich weitere Überlegungen erforderlich.
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