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Unsterblich sein

Reise in die Zukunft des Menschen

AutorMark O'Connell
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783446257771
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Von Ikarus bis zu da Vincis mechanischem Ritter - seit jeher träumt der Mensch davon, seine natürlichen Grenzen zu überwinden. Doch erst im 21. Jahrhundert arbeiten Utopisten daran, Mensch und Maschine tatsächlich zu verschmelzen. Mark O'Connell nimmt uns mit zur dunklen Seite des Silicon Valley - wo die Technik zur Religion geworden und alles einem einzigen Ziel untergeordnet ist: den Tod zu besiegen. In einer großen Reportage lässt O'Connell eine Welt entstehen, die einem Science-Fiction-Film zu entstammen scheint: eine Welt, in der Köpfe in Lagerhallen darauf warten, zum Leben erweckt zu werden, Menschen zu Cyborgs geworden sind und Tech-Milliardäre fieberhaft daran arbeiten, unsterblich zu werden.

Mark O'Connell, in Dublin geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und Journalist. Er schreibt für Slate, den New Yorker, die New York Times und den Observer.

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Leseprobe

Systemabsturz


Alle Geschichten nehmen ihren Anfang an unserem Ende: Wir erfinden sie, weil wir sterben. Seit wir Menschen Geschichten erzählen, handeln sie von der Sehnsucht, unserem menschlichen Körper zu entkommen und zu etwas anderem als dem Tier zu werden, das wir sind. In der ältesten schriftlich überlieferten Erzählung geht es um den sumerischen König Gilgamesch, der um einen toten Freund trauert und nicht akzeptieren will, dass auf ihn dasselbe Schicksal wartet. Daher reist er auf der Suche nach einem Heilmittel gegen die Sterblichkeit ans Ende der Welt. Kurz zusammengefasst: Er findet keines. Später taucht Achilles’ Mutter ihren Sohn in die Wasser des Styx, um ihn unverletzbar zu machen. Bekanntermaßen hat auch das nicht funktioniert.

Siehe auch: Dädalus, der sich Flügel baut. Siehe auch: Prometheus, der das göttliche Feuer stiehlt.

Wir Menschen existieren in den Trümmern einer imaginierten Herrlichkeit. Das war so nicht geplant: Wir sollten nicht schwach oder beschämt sein, leiden oder sterben. Wir hatten immer größere Pläne für uns selbst. Die ganze Konfiguration – Garten, Schlange, Apfel, Verbannung – war ein schwerer Ausnahmefehler, ein Systemabsturz. Durch einen Sündenfall, eine Vergeltungsaktion, wurden wir zu dem, was wir sind. Das ist zumindest eine Version der Geschichte: die christliche, westliche Version. Der Sinn dieser Geschichte besteht in gewisser Hinsicht darin, uns eine Erklärung für uns selbst zu liefern, warum uns so übel mitgespielt wurde, eine Erklärung für unseren unnatürlichen Naturzustand.

»Der Mensch ist ein Gott in Trümmern«, schrieb Ralph Waldo Emerson.

Die Religion erhebt sich aus diesen göttlichen Trümmern. Und auch die Wissenschaft – die entfremdete Halbschwester der Religion – befasst sich mit der Kritik am Tier. In Vita activa schrieb Hannah Arendt über die Euphorie nach dem Start des ersten Weltraumsatelliten durch die Sowjetunion, da nun der erste Schritt getan sei, »um dem Gefängnis Erde zu entrinnen«,1 wie ein amerikanischer Journalist es ausdrückte. In Arendts Text heißt es: »Dieser zukünftige Mensch, von dem die Naturwissenschaften meinen, er werde in nicht mehr als hundert Jahren die Erde bevölkern, dürfte, wenn er wirklich je entstehen sollte, seine Existenz der Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein verdanken, nämlich gegen das, was ihm bei der Geburt als freie Gabe geschenkt war und was er nun gleichsam umzutauschen wünscht gegen Bedingungen, die er selbst schafft.«2

Eine Rebellion gegen das menschliche Dasein, wie es uns geschenkt wurde: Das beschreibt die Motivation der Menschen, die ich bei den Recherchen für dieses Buch kennenlernte, sehr gut. Diese Menschen identifizieren sich überwiegend mit der Bewegung des Transhumanismus, der die Überzeugung zugrunde liegt, dass wir Technologie verwenden können und sollten, um die zukünftige Entwicklung unserer Spezies zu kontrollieren. Die Anhänger dieser Bewegung glauben, dass wir das Altern als Todesursache ausmerzen können und sollten; dass wir mithilfe von Technologie unsere Körper und unser Denken verbessern können und sollten; dass wir mit Maschinen verschmelzen und uns letzten Endes selbst nach der Vision unserer höchsten Ideale neu erschaffen können und sollten. Diese Menschen wollen ihr Geschenk gegen etwas Besseres, etwas vom Menschen Erschaffenes eintauschen. Kann das gut gehen? Das wird sich erweisen. Ich bin kein Transhumanist. Das ist wahrscheinlich auch in diesem frühen Stadium des Buches schon offensichtlich. Aber meine Faszination von der Bewegung, von ihren Ideen und Zielen begründet sich in einer grundsätzlichen Sympathie für ihre Prämisse: dass das menschliche Dasein, wie es uns geschenkt wurde, ein suboptimales System ist.

Auf abstrakte Art hatte ich das immer schon geglaubt, aber unmittelbar nach der Geburt meines Sohnes wurde daraus eine tiefe Überzeugung. Als ich ihn vor drei Jahren zum ersten Mal im Arm hielt, war ich überwältigt, wie zerbrechlich sein kleiner Körper war – ein Körper, der gerade erst schreiend, zitternd und blutverschmiert aus dem bebenden Leib seiner Mutter herausgekommen war, die ihn nach vielen Stunden fanatischer Leiden und Mühen zur Welt gebracht hatte. Ich konnte nicht glauben, dass es kein besseres System gab. Ich glaubte, dass wir in diesem fortschrittlichen Zeitalter all das überwunden haben sollten.

Eines sollte man als frischgebackener Vater, der nervös auf einem Ledersitz in der Entbindungsstation neben dem schlafenden Neugeborenen und seiner dösenden Mutter sitzt, keinesfalls tun: Zeitung lesen. Ich tat es und habe es bereut. Ich saß in der Wochenstation des National Maternity Hospital in Dublin und blätterte zunehmend schockiert durch die Irish Times. Darin fand ich eine Aufzählung menschlicher Perversitäten – Massaker und Vergewaltigungen, willkürliche und systematische Grausamkeiten: Nachrichtensplitter aus einer sündigen Welt –, und ich fragte mich, ob es weise war, ein Kind in dieses Chaos zu bringen, diese Spezies. (Ich hatte zu der Zeit eine leichte Erkältung, das verbesserte meine Stimmung nicht gerade.)

Elternschaft führt unter anderem dazu, dass man sich mit den Ursachen des Problems beschäftigen muss – die meist in der Natur der Sache liegen. Neben all den anderen Schrecken und Perversitäten, für die wir Menschen bekannt sind, werden Alter, Krankheit und Sterblichkeit plötzlich unentrinnbar real. Zumindest war es bei mir so. Und auch bei meiner Frau, deren Dasein in jenen ersten Monaten so viel enger mit der Existenz unseres Sohnes verbunden war und die in jener Zeit etwas zu mir sagte, das ich nie vergessen werde: »Ich bin nicht sicher, dass ich ein Kind hätte haben wollen, wenn ich gewusst hätte, wie sehr ich es lieben würde.« Diese Gebrechlichkeit, diese zweifelhafte Rekonvaleszenz bezeichnen wir, mangels eines besseren Begriffs, als Conditio humana, die menschliche Verfassung. Das englische Wort condition steht für Krankheit oder ein medizinisches Problem.

Staub bist du, und zu Staub musst du wieder werden.3

Rückblickend war es wohl mehr als reiner Zufall, dass ich mich in genau dieser Zeit in eine Idee verrannte, der ich zehn Jahre zuvor erstmals begegnet war und die mich nun zunehmend beschäftigte – die Vorstellung, dass diese menschliche Verfassung kein unentrinnbarer Zustand war. Dass auch sie, wie Kurzsichtigkeit oder die Pocken, durch menschlichen Einfallsreichtum korrigiert werden konnte. Diese Idee faszinierte mich aus demselben Grund, aus dem mich die Geschichte vom Sündenfall und der Ursünde immer schon angesprochen hatte: weil darin eine grundlegende Wahrheit über die größte Eigentümlichkeit des Menschseins zum Ausdruck kam, nämlich unsere Unfähigkeit, uns selbst zu akzeptieren, unser Glaube daran, dass wir von unserer Natur erlöst werden können.

Gleich zu Beginn meiner Recherchen zu diesem faszinierenden Thema – die mich bis dahin noch nicht aus dem Internet hinaus in die sogenannte »reale Welt« geführt hatten – stieß ich auf einen seltsamen und provokanten Text mit dem Titel »Ein Brief an Mutter Natur«. Wie der Name schon vermuten ließ, handelte es sich dabei um eine Art Manifest in Form eines Briefes, der an eine anthropomorphe Figur adressiert war, der aus Gründen der Anschaulichkeit die Schöpfung und Pflege der natürlichen Welt häufig zugeschrieben werden. Der Text beginnt in leicht passiv-aggressivem Tonfall mit einem Dank an Mutter Natur für ihre bisher überwiegend gediegene Arbeit am Projekt Mensch, dafür, dass sie uns von einfachen selbstreplizierenden Chemikalien zu Säugetieren mit Billionen von Zellen und der Fähigkeit für Selbsterkenntnis und Empathie erhoben hat. Dann wechselt der Brief nahtlos in einen Anklagemodus und beschreibt kurz einige der etwas minderwertig ausgeführten Aspekte der Menschlichkeit: die Anfälligkeit für Krankheit, Verletzung und Tod, zum Beispiel, oder die Beschränkung der Funktionsfähigkeit auf eng gefasste Umweltbedingungen, das begrenzte Erinnerungsvermögen, die berüchtigt mangelhafte Impulskontrolle.

Im Anschluss daran schlägt der Autor – der sich im Namen ihrer »ehrgeizigen menschlichen Nachkommen« an Mutter Natur wendet – sieben Zusatzartikel zur »menschlichen Verfassung« vor. Wir würden uns nicht länger der Tyrannei von Alter und Tod unterwerfen, sondern uns mit den Mitteln der Biotechnologie »selbst mit dauerhafter Vitalität ausstatten und unser Verfallsdatum aufheben«. Wir würden unsere Sinnesorgane und unsere Gehirnkapazität technologisch verstärken und so unsere Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten verbessern. Wir würden uns nicht mehr länger damit abfinden, die Produkte blinder Evolutionsvorgänge zu sein, sondern »nach vollständiger Wahlfreiheit bei Körperform und -funktion streben und die physischen und geistigen Fähigkeiten über das Vermögen aller Menschen, die je existierten, hinaus verfeinern und steigern«. Und wir würden uns nicht mehr länger mit den Grenzen unserer körperlichen, geistigen und emotionalen Fähigkeiten durch die Einschränkung auf eine kohlenstoffbasierte Lebensform abfinden.

Dieser »Brief an Mutter Natur« war die deutlichste und provokativste Aufstellung der transhumanistischen Prinzipien, der ich bis dato begegnet war, und im Kunstgriff der Briefform kam ein entscheidender Aspekt zum Ausdruck, der die Bewegung für mich so eigenartig und fesselnd machte – der Text war direkt und dreist und er trieb den Humanismus der Aufklärung derart ins Extrem, dass er ihn vollständig auszulöschen...

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