In der elektronsichen Zeitschrift IGW Periodical veröffentlichte IGW im Jahr 2005 den ersten Text zur missionalen Theologie. IGW führte im März und April 2009 Konferenzen in Aarau und in Essen durch. Das Thema war: Die Zukunft gestalten. Referent war Michael Frost. Die beiden Konferenzen wie auch der IGW Kongress 2008 „Missionale Gemeinde“ in Aarau führten in das Denken und Handeln einer missionalen Theologie.
In der IGW Zeitschrift VISION bereiteten verschiedene Gedankenanstöße, Aufsätze und Texte die Konferenzen vor und vertieften das Thema missionale Theologie. In diesem Kapitel werden die publizierten wie auch die unveröffentlichten Texte zugänglich gemacht. Die einzelnen Texte werden mit Autor und Quellenagaben Autoren- bzw. Quellenverzeichnis ausgewiesen.
Mike Bischoff, 2005
„Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde“ (Jes 43,19).
In der aktuellen missiologischen Diskussion im englischsprachigen Raum wird die Thematik der Gemeinde als sog. „Missional church“ heiss debattiert. Mein Essay will Einblick in diese Diskussion geben und gleichzeitig die Aktualität dieses ekklesiologischen Ansatzes für unsere mitteleuropäischen Verhältnisse aufzeigen. Ein adäquater deutscher Ausdruck existiert bislang noch nicht. Übersetzungen hören sich holprig an und es besteht die Gefahr, dass die klare Referenz zu Mission, welche das englische Adjektiv „missional“ zum Ausdruck bringt, verloren geht. Der Einfachheit halber verwende ich darum fortan den englischen Begriff.
Offensichtlich wird bei diesem Ansatz Gemeinde in Beziehung zu Mission gesetzt. Aber in welche? Wie verhalten sich die beiden zueinander? Die Antwort auf diese Frage berührt bereits den Kernpunkt einer „Missional church“. Als Einführung eignen sich Aussagen führender Denker auf diesem Gebiet. Als einer der Initiatoren gilt der bereits verstorbene UNISA-Missiologe David Bosch. In seinem Klassiker „Transforming Mission“ hat Bosch wegweisende Gedanken geäußert (1991: 493). Da schreibt er, wie sich in unserer Zeit das Verständnis von Kirche ändern soll und muss, weg von einem überheblichen und distanzierten Verhältnis zur Welt, hin zum Verständnis, dass die Kirche in die Welt gesandt ist und zum Wohl der Welt existiert. Darin folgt er dem englischen Missiologen Lesslie Newbigin, der dies bereits Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts so formuliert hat.
Mission sei, so Bosch, nicht länger nur eine Aktivität der Gemeinde, sondern Ausdruck der wahren Existenz der Kirche. Die ganze Welt wird zum Missionsfeld, was vor allem auch für die westliche Theologie bedeutet, dass sie sich in einer missionarischen Situation befindet. Bosch schließt seine Argumentation mit einer herausfordernden These: Genauso wie die Kirche aufhört Kirche zu sein, wenn sie nicht missionarisch ist, genauso hört Theologie auf, Theologie zu sein, wenn sie ihren missionarischen Charakter verliert.
Greifen wir nochmals zurück zur englischen Bezeichnung „Missional church“. Die Begriffskomposition besteht zum einen aus dem Substantiv „Mission“. Mission kommt vom lateinischen Verb mittere, was so viel wie „entsenden“ bedeutet. Substantiviert heißt Mission eigentlich schlicht Sendung und betont die Bewegung. Im christlichen Sinn bedeutet das zuerst einmal die Bewegung von Gott zu den Menschen, wie sie uns vor allem in der Inkarnation Christi (Joh 1) begegnet. Gott wird Mensch mit all seinen Konsequenzen. In der klassischen Missionsstelle in Mt 28 wird diese Aufgabe der Bewegung und Sendung in die Welt an die Jünger Jesu weitergegeben. Sehr pointiert spricht auch Joh 17, 18 über diesen Vorgang: „Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt“.
In unserem Fall ist „missional“ Adjektiv zu „church“ und deklariert, unter welcher Zielrichtung alle Aktivitäten der Gemeinde geschehen sollen. Der Gesichtspunkt der Mission soll alle Bereiche durchdringen. Gemeinde ist Mission, Mission ist der Herzschlag Gottes. Mission ist darum Zentrum und Essenz der Gemeinde. Dabei taucht natürlich unweigerlich die Frage auf, was Mission alles beinhaltet. Die Verkündigung des Evangeliums? Entwicklungshilfe? Politisches Engagement? Gemeindebau? In der Missionsgeschichte des 20. Jh. ist darüber ein heftiger Streit entbrannt, der bis heute nicht vollständig beigelegt werden konnte. Konservative Evangelikale sprachen sich vor allem für die Wortverkündigung aus. Liberale Kräfte betonten mehr die horizontale Dimension, den Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Dieser Dualismus endet meistens in einer Sackgasse und befriedigt nicht. Zum Glück gab und gibt es immer wieder Ansätze, welche diesen Graben zu überbrücken verstehen. Einen überzeugenden Weg wählt meines Erachtens der evangelikale Sozialethiker Ron Sider, weil er zum einen die zentralen biblischen Texte berücksichtigt und zum andern nicht in die Falle des Liberalismus noch die des Fundamentalismus tappt. Sider versteht Mission als Oberbegriff, der sowohl Evangelisation als auch Einsatz für soziale Gerechtigkeit umfasst. Mission wäre dann Verkündigung des Evangeliums und soziales Engagement, ausgerichtet auf den Bau des Reiches Gottes. Das heißt zuerst einmal: Evangelisation und soziale Verantwortung unterscheiden sich, vor allem auch in ihren Ergebnissen. Darum führt es zu unsauberen Resultaten, wenn wir die beiden entweder als identisch ansehen oder wenn wir sie als unvereinbar oder als sich gegenseitig ausschließend betrachten. Ein angemessener Weg zur klaren Unterscheidung der beiden (wenigstens in der Theorie. In der Praxis ist eine scharfe Abgrenzung weniger möglich und auch weniger sinnvoll) ergibt sich, wenn wir nach der Motivation und Intention fragen. In diesem Sinn umfasst dann Evangelisation diejenigen Aktivitäten, die vor allem Nicht-Christen die Botschaft vom Reich Gottes nahebringen wollen. Soziale Aktion umfasst dagegen Aktivitäten, deren vorrangiges Ziel darin besteht, die physischen, sozioökonomischen und politischen Lebensumstände der Menschen durch Notmaßnahmen, Entwicklungshilfe und strukturelle Veränderungen zu verbessern (vgl. Sider 1995:177). So verstehen auch die Vertreter der „Missional church“ Mission ganzheitlich. Mission als Sendung in die Welt, wo Evangelisation und soziale Aktion unauflöslich miteinander verbunden sind, sie sich aber unterscheiden und doch untrennbar miteinander verknüpft sind.
Seit einiger Zeit sorgt das Buch „Shaping the things to come“ der australischen Missiologen Michael Frost und Alain Hirsch für Furore. Sie präsentieren sich darin als vehemente Verfechter der „Missional church“ und definieren ihren Ansatz folgendermassen:
Eine ‘Missional Church’ ist eine Kirche, deren primäre Verpflichtung dem missionarischen Ruf des Volkes Gottes gilt. Als solche ist es eine, die sich einreiht in Gottes missionarische Absichten in der Welt. Ein ‘missional Leader’ ist einer, der Mission ernst nimmt und sie als die treibende Kraft hinter allem versteht, was die Gemeinde tut. Die ‘missional Church’ ist eine gesandte Kirche. Ein Wert, der sie beschreibt, ist die Entwicklung eines Gemeindelebens und einer Glaubenspraxis, kontextualisiert mit der Kultur, in die sich gesandt versteht (2003:225).
(A missional church is one whose primary commitment is to the missionary calling of the people of God. As such, it is one that aligns itself with God’s missionary purposes in the world. A missional leader is one that takes mission seriously and sees it as the driving energy behind all the church does. The missional church is a sent church with one of its defining values being the development of a church life and practice that is contextualized to that culture to which it believes it is sent.)
Als revolutionär neu kann man diese Gedanken nicht bezeichnen. Sie nehmen die Gewichtung und Zielsetzung auf, wie sie seit der Apostelgeschichte immer wieder dynamischen Gemeindebau ausgezeichnet haben. Ungewohnt ist dagegen die Perspektive. Frost und Hirsch schreiben nicht für Missionare in Übersee, sondern haben unsere westliche Welt vor Augen. Gerade für uns in Europa bedeutet dieser Ansatz für viele ein Umdenken in ihrer Ekklesiologie. Noch heute finden wir oft das Denken: Wir haben ja unsere Missionare in Afrika und Asien, wir unterstützen sie mit Gebet und Geld. So kürzlich gesehen in einer Kirche, deren Opferstock eine schöne Zweiteilung aufwies, der eine Teil des Kastens war mit „Gemeinde“, der andere mit „Mission“ überschrieben. Wir, christliche Schweizer oder Deutsche, schicken unsere Leute zu den Heiden. Aussendung von Missionaren nach Übersee ist auch heute noch eine notwendige und gute Sache, wenn sich auch das Verständnis über Ziel und Inhalt dieser Missionsaufgaben in den letzten Jahren verändert hat. Fatal ist aber, dass dabei übersehen wird, dass sich die Verhältnisse verschoben haben, dass wir uns im Zuge der aufklärerischen Moderne und der multireligiösen Postmoderne längst im Zustand eines quasi postchristlichen Europas befinden. Europa ist zu einem der dringendsten Missionsfelder geworden und besonders betroffen sind dabei die urbane Landschaft, die großen Agglomerationen und die Städte. Je nach Statistik sind bei uns 2-5% der Bevölkerung engagierte Christen. Ein weiterer Prozentsatz ist noch christlich angehaucht. Aber eine immer größer werdende Schicht der Gesellschaft bezeichnet sich als religionslos oder interessiert sich zwar für Spiritualität, häufig aber nicht für irgendeine...