Sie sind hier
E-Book

Ursachenforschung und Beschreibung von Sprachstörungen in der Sprachheilkunde des Nationalsozialismus

AutorConstanze Stichel
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl84 Seiten
ISBN9783638535700
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 2,0, Universität Leipzig (Insitut für Förderpädagogik), 68 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: In der Arbeit über die Ursachenforschung und Beschreibung von Sprachstörungen in der Sprachheilkunde im Nationalsozialismus ist untersucht worden, wie sich die Inhalte dieser Fachwissenschaft während der Diktatur entwickelt haben. Schwerpunkt ist besonders die Ursachenforschung und Beschreibung der drei Störungsbilder Stottern, Dyslalie und der Lippen - Kiefer - Gaumenspalte (LKG). Geographisch und politisch bezieht sich die Arbeit auf das nationalsozialistische Deutschland. Der Nationalsozialismus ist nicht soweit gegangen, dass er Menschen mit Sprachstörungen im Sinne der Euthanasie verfolgt hat. Behinderte Menschen hatten im Nationalsozialismus eine Daseinsberechtigung, wenn sie arbeitsfähig waren. Es musste sich volkswirtschaftlich lohnen, einen Menschen zu behandeln. Gegenstand dieser Arbeit ist es, herauszufinden, ob Sprachstörungen im Sinne der Rassenpflege und Erbbiologie erklärt worden sind, um dadurch z.B. Menschen mit Sprachstörungen unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fallen zu lassen. Diese Untersuchung geschieht anhand der Diskussion um Erklärungs- und Erscheinungsbilder von Sprachstörungen und soll aufzeigen, inwieweit die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus einen Weg in die Fachdisziplin Sprachheilkunde gefunden hat. Nach einem einleitenden Kapitel wird im zweiten Kapitel das Verständnis von Sprachheilkunde in jener Zeit dargestellt. Dies erscheint wichtig, da die Untersuchung der Primärquellen im Hauptteil dieser Arbeit auch einen Überblick über die inhaltliche Diskussion innerhalb der Sprachheilkunde ergeben soll und nicht losgelöst von der Fachsdisziplin Sprachheilkunde gesehen werden darf. Es werden Primärquellen von 1933 bis 1944 zu den drei Störungsbildern ausgewertet. Dabei wird hinterfragt, ob ätiologische Faktoren, die auf Erblichkeitsstheorien und Erblichkeitsforschungen basieren mehr Bedeutung gewannen und ob diese an bestehende Erklärungsbilder anknüpfen, diese verändern oder erweitern. Außerdem wird eine veränderte Beschreibung von Sprachstörungen mit beachtet. Gleichzeitig werden daraus veränderte Auswirkungen für die betroffenen Menschen mit aufgezeigt. Im darauf folgenden Kapitel werden die Auswirkungen für Menschen mit Sprachstörungen von einer anderen Seite beleuchtet, indem die Praxis des 'Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' untersucht wird. Im Schlusskapitel wird kurz zusammenfassend dargestellt, welche Ergebnisse die Untersuchung der Quellen ergeben haben.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

3.      Wissenschaft, Theoriebildung und die Frage der Vererbung im Nationalsozialismus

 

3.1       Wissenschaft und Theoriebildung im Dritten Reich

 

Um zu sehen, wie Erklärungsbilder von Sprachstörungen sich entwickelt und möglicherweise verändert haben, ist es notwendig, eine kurze Einleitung vom Verständnis und den Aufgaben nationalsozialistischer Wissenschaft zu geben.

 

Im Dritten Reich galten als oberste Ziele die Absicherung des Überlebens des deutschen Volkes, dessen Weiterentwicklung in allen Lebensbereichen, sowie die Etablierung und Festigung einer herausragenden Rolle der arischen, nordischen Rasse gegenüber allen anderen Rassen. Basis dafür war die Idee der Volksgemeinschaft. Innerhalb dieser Volksgemeinschaft sollte das reine deutsche Blut erschaffen werden (vgl. Schultze 1938, S. 12). Die Idee der Volksgemeinschaft legitimierte Vorgänge wie z.B. die Entfernung jüdischer oder politisch nicht konformer Wissenschaftler entweder durch den Zwang zur Emigration oder Verhaftung.

 

Für die Wissenschaft galt ebenso wie für andere Lebensbereiche, dass sie sich erneuern sollte im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Wissenschaft unterlag also dem Primat der Volksgemeinschaft. Die Aufgabe des Wissenschaftlers war damit die Ausführung von Forschung im Sinne der Volksgemeinschaft, es werden Probleme dieser Volksgemeinschaft erforscht und Lösungen für diese gesucht. Dabei sollte auch schon vorhandenes Wissen neu überprüft werden und lebenspraktische Probleme untersucht werden, so dass der weltfremde Wissenschaftler nicht mehr existieren sollte (vgl. Schultze 1938, S. 14f.). Daraus resultierte auch, dass der Aufbau von theoretischen Konstrukten nicht mehr erwünscht war, wenn ihr praktischer Wert nicht sofort anwendbar war: “Was nützen staatswirtschaftliche Dogmen, wenn sie den wirtschaftlichen Verfall eines Volkes nicht um eine Stunde aufhalten können?“ (vgl. Schultze 1938, S. 15) oder “Was haben juristische Lehrmeinungen und Theorien für einen Wert, wenn sie sich im praktischen Leben nicht anwenden lassen.“(vgl. Schultze 1938, S. 15)

 

Forschung darf also niemals nur Wissen produzieren, sondern muss immer für die Volksgemeinschaft anwendbar sein, im Dienste an der Nation und an der nationalsozialistischen Bewegung.

 

Wissenschaftliches Denken wird immer in Verbindung  mit dem rassischen Denken gesehen (vgl. Groß 1937, S. 43). Als “eine grundsätzlich neue geistige Einstellung zu den großen Wirklichkeiten des biologischen wie des geschichtlichen (und geistesgeschichtlichen!) Lebens“ (Groß 1937, S. 43) muss es dem Wissenschaftler dienen, um die tatsächlichen Zusammenhänge seines Fachgebiets zu begreifen.

 

Die Medizin war der Raum, in dem zum großen Teil Theorien um die Ursachen von Sprachstörungen entwickelt wurden. Für die Mediziner drückt Schultze das Arbeits- und Wirkungsgebiet der Medizin folgendermaßen aus:

 

“Heute schon sind die nationalsozialistischen medizinischen Hochschullehrer die Helfer und Berater ihrer Berufskameraden in der Praxis; sie sind mit diesen in das Gemeinschaftsleben des ganzen Volkes einbezogen und empfangen von dort ihre Aufgaben. Die nationalsozialistische Blut- und Rassenlehre hat ihnen und ihrer Wissenschaft ein Forschungs- und Arbeitsgebiet eröffnet, dessen Weite und Bedeutung sich heute nur erahnen läßt. Damit hat sich die Bewertung der wissenschaftlichen Aufgaben von Grund auf geändert. Eine Fülle von wichtigen Fragestellungen ist gegeben, von deren Lösung die Gesunderhaltung des Volkes abhängt.[...]Die Verantwortung für ein ganzes Volk hat auch das ärztliche Berufsethos geändert: vielfach ist heute Pflicht geworden, was früher als Verbrechen bezeichnet wurde.“ (Schultze 1937, S. 16).

 

Das Forschungsgebiet Blut- und Rassenlehre impliziert schon die Frage nach Verbesserung der Rasse und damit nach Untersuchungen, inwiefern Krankheiten und Eigenschaften von Menschen erblich und als Makel für die Volksgemeinschaft anzusehen sind. Stärker betont wird dies noch einmal durch Groß, der fordert, “der Erblichkeitsforschung im strengsten wissenschaftlichen Sinn die Stellung auch innerhalb der Medizin zu verschaffen, die sie verdient“ (Groß 1937, S. 44).

 

Ebenso fällt in die medizinische Forschung der Bereich, inwieweit “das krankhafte Geschehen rassische Verschiedenheiten aufweist.“ (Groß 1937, S. 44). Dass dieses Denken aus der Medizin heraus in die Pädagogik mitwirkte, zeigt sich am Beispiel um die Umerziehung nach Karl Cornelius Rothe und seiner “Beobachtung“, welche Rassen vermehrt unter Stottern leiden (vgl. Kapitel 2).

 

Theoriebildung in der medizinischen Wissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus bedeutet also, dass Themen untersucht wurden, die die Volksgemeinschaft direkt angingen. Es wurden Konstrukte entwickelt, die auf den Fragen der Rassenlehre und Erblichkeitsforschung aufbauten. Diese Konstrukte stellten ein Fundament dar, um die Gesunderhaltung des deutschen Volkes zu garantieren. Die Wissenschaft wurde zu einem Organ, das dieses Fundament zu legitimieren hatte. Im Falle der Medizin galt es, Erblichkeitsverhältnisse festzustellen sowie den Beweis zu liefern, dass die reine nordische Rasse “die“ gesunde Rasse an sich ist.

 

Um sich als Fachdisziplin im Nationalsozialismus legitimieren zu können, müsste die Sprachheilkunde also ihr Betätigungsfeld in Richtung Rassenlehre und Erbbiologie verlagert haben. Diese These soll in dieser Arbeit mit untersucht werden.

 

3.2       Erbliche Faktoren im Ursachenkomplex Sprachstörungen

 

“Der gesamte Sprechapparat als solcher ist in seiner Anlage ererbt, und zwar ebenso ererbt wie die äußere Gesichtsbildung. Der Sprechapparat, d.h. das Ansatzrohr, sind den inneren Gesichtszügen gleichzusetzen. So wie aber die äußeren sich ähneln, findet man auch im Bau des inneren Gesichts stets große Familienähnlichkeit. Daher klingt die Sprache von Geschwistern [...] ähnlich, nicht nur auf Grund der gleichen Nachahmung, sondern auch auf Grund der Ähnlichkeit im Ansatzrohr. Man sieht danach, wie wenigstens ein Teil der sprachlichen Erscheinung der Vererbung körperlicher Eigenschaften beizumessen ist. Andererseits kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Disposition zur Nervosität und Neurasthenie vererbt wird, daher dürfen wir uns nicht wundern, daß [...]Sprachstörungen ebenfalls vererbt werden können.“ (Gutzmann, H. sen. zit. n. Gutzmann 1934, S. 256)

 

Dieses Zitat setzt Hermann Gutzmann jun. an den Anfang eines Berichtes über eine Untersuchung zur Erblichkeit von Sprachstörungen, die er 1933 durchführte. Sein Interesse galt dabei besonders Stottern und Dyslalie, er traf jedoch auch Allgemeinaussagen für die Vererbung von funktionellen Sprachstörungen: “Aus unseren Untersuchungen über die funktionellen Sprachstörungen und die Möglichkeit ihrer Vererbung geht für uns deutlich hervor, dass die neuropathische Anlage, die durchaus als Basis für jede funktionelle Störung anzusehen ist, sicher vererbbar ist.“(Gutzmann 1934, S. 258). Wie bei Gutzmann sen. zeigt sich hier die Ansicht, dass eine Ursache für Sprachstörungen in einer Art Nervenleiden oder Nervosität zu sehen ist und man der Überzeugung ist, dass diese vererbt werden kann. Die neuropathische Anlage ist eine “ruhende Anlage“, die z.B. durch Trauma, psychischen Schock, Nachahmung oder körperlichen Reifeprozess aktiviert wird. Aus dieser Vorstellung heraus spricht Gutzmann jun. nicht von der Vererbung von funktionellen Sprachstörungen, sondern formuliert die Vererbung einer Anlage, dabei muss die Sprachstörung nicht auftreten, jedoch habe sich gezeigt, dass nach Auftreten einer Sprachstörung diese Anlage sehr oft nachzuweisen ist (Gutzmann 1934, S. 258).

 

Bei einem Vortrag auf der Tagung der Reichsfachschaft V und der der Deutschen Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde im Juni 1939 in Hamburg betont Gutzmann die Unterscheidung, “daß eben nur diese Sprachentwicklungshemmung vererbbar ist, aber nicht der voll ausgebildete Fehler.“ (Gutzmann 1939, S. 489).  Er verschärft seine Ansichten von 1934 und betont, dass alle Kinder für funktionelle Sprachstörungen anfällig sind, bei denen in der Familie irgendwelche neuropathischen Krankheiten vorhanden sind (vgl. Gutzmann 1939, S. 490). Daraus resultiert für ihn die Forderung: “Schafft gesunde Eltern mit gesunden Nervensystemen, und die funktionellen Sprachstörungen werden auf ein Minimum herabsinken!“ (Gutzmann 1939, S. 490).

 

Bei Gutzmann zeigt sich auch die Tendenz, Sprachstörungen bestimmten Rassen zuzuordnen. Er spricht davon, dass man vor allem Stammeln sehr oft bei jüdischen Patienten findet (vgl. Gutzmann 1934 S. 257), was später noch ausführlicher in dieser Arbeit erläutert wird (vgl. Kapitel...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Pädagogik - Erziehungswissenschaft

Weitere Zeitschriften

AUTOCAD & Inventor Magazin

AUTOCAD & Inventor Magazin

FÜHREND - Das AUTOCAD & Inventor Magazin berichtet seinen Lesern seit 30 Jahren ausführlich über die Lösungsvielfalt der SoftwareLösungen des Herstellers Autodesk. Die Produkte gehören zu ...

Berufsstart Gehalt

Berufsstart Gehalt

»Berufsstart Gehalt« erscheint jährlich zum Sommersemester im Mai mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS ist seit mehr als 25 Jahren die Fachzeitschrift für den IT-Markt Sie liefert 2-wöchentlich fundiert recherchierte Themen, praxisbezogene Fallstudien, aktuelle Hintergrundberichte aus ...

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS bringt alles über die DEL, die DEL2, die Oberliga sowie die Regionalligen und Informationen über die NHL. Dazu ausführliche Statistiken, Hintergrundberichte, Personalities ...

Evangelische Theologie

Evangelische Theologie

Über »Evangelische Theologie« In interdisziplinären Themenheften gibt die Evangelische Theologie entscheidende Impulse, die komplexe Einheit der Theologie wahrzunehmen. Neben den Themenheften ...