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Vater, Mutter, Staat

Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung - Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören

AutorRainer Stadler
VerlagLudwig
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641143343
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Die betreute Generation
Irgendwas läuft hier falsch. Wie sonst ist das wachsende Unbehagen von Eltern zu erklären, die ihre Kinder kaum noch sehen, weil sie im Büro sitzen, vorgeblich um sich selbst zu verwirklichen? Wie die Untersuchungen zu Stresshormonen bei Krippenkindern, die hier locker mit Topmanagern mithalten? Warum überlassen immer mehr Eltern die Verantwortung für ihre Kinder ganz selbstverständlich fremden Menschen? Eltern, die in ihrer Jugend noch »We don't need no education« riefen. Eltern, die ihren Kindern Pippi Langstrumpf vorlesen. Rainer Stadler, Journalist und Vater, macht sich auf die Suche nach Gründen für den Sinneswandel und erkennt ein System: Aus kühl kalkulierten ökonomischen Gründen propagiert eine Koalition aus Politik und Wirtschaft seit Jahren den massiven Ausbau der Kinderbetreuung und hat das Leben der Familien und der Gesellschaft insgesamt tiefgreifend verändert. Wer sich gegen die verordnete Ganztagsbetreuung stellt, ist auch gegen Emanzipation und Förderung, jeder leise Zweifel wird damit im Keim erstickt. Rainer Stadler stößt eine längst überfällige Diskussion an. Sie betrifft uns alle.

Rainer Stadler, geboren 1967, studierte Informatik und absolvierte die Journalistenschule in München. Er arbeitete als freier Journalist und Auslandskorrespondent (Los Angeles) und schrieb u.a. für die Süddeutsche Zeitung, den Focus und den Spiegel. Seit 2001 ist er Redakteur beim SZ-Magazin. Rainer Stadler ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Leseprobe

VORWORT – KINDER HABEN EIN RECHT AUF FREIHEIT

Zürich im Jahr 1954: Astrid Lindgren, die geistige Mutter von Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, Erich Kästner, der Schöpfer von Pünktchen und Anton und Emil und die Detektive und die Engländerin Pamela Travers, die Mary Poppins geschrieben hat, unterhalten sich über das Geheimnis gelungener Kinderbücher. Kästner schreibt später, die Frauen hätten sich erkundigt, »wie denn ich dazu käme, Bücher zu schreiben, die den Kindern in aller Welt gefielen. Und als ich sagte, bei mir läge das wohl daran, dass ich von dem Talent zehrte, mich meiner eigenen Kindheit anschaulich erinnern zu können, da stimmten beide Frauen lebhaft zu und sagten, genauso sei es bei ihnen auch.«1 Aus ihrer Sicht entstünden gute Kinderbücher nicht, weil man Kinder habe und kenne, sondern weil man, aus vergangener Zeit, ein ganz besonderes Kind kenne: sich selber.

So geht es nicht nur Kinderbuchautoren. Jeder erinnert sich an seine Kindheit, auch wenn sie lange zurückliegt. Mal sind die Erinnerungen diffuser, mal deutlicher. In meinem Fall waren sie jedenfalls so lebendig, dass ich misstrauisch wurde, als ich die öffentliche Debatte über die Betreuung von Kindern außerhalb des Elternhauses verfolgte. Wobei von Debatte kaum die Rede sein kann: Egal, ob die Familienministerin Renate Schmidt, Ursula von der Leyen oder Manuela Schwesig heißt – in der Politik herrscht seit Jahren nahezu einhellig die Meinung vor, dass Kindern nichts Besseres passieren kann, als den ganzen Tag in der Krippe, dann im Kindergarten und später in der Schule zu verbringen. Für einige Kinder stimmt das vielleicht tatsächlich, aber für alle? Ich glaube das nicht. Vieles in meiner Kindheit, woran ich mich heute gern erinnere, spielte sich jenseits von Kindergarten und Schule ab. Nicht, dass ich ungern in den Kindergarten oder die Grundschule gegangen wäre. Aber den ganzen Tag? Auf keinen Fall. Wenn es im Sommer hitzefrei gab – was heute übrigens weitgehend abgeschafft ist, weil es nur noch schwer in den eng getakteten Familienalltag passt, wenn das Kind eine Stunde eher vor der Haustür steht –, rannte ich, und alle anderen Kinder mit mir, jubelnd aus dem Schulhaus. Es gab zwar keinen speziellen Grund, denn zu Hause warteten keine Highlights, nur das Übliche: Fußballspielen, Versteckspielen, Schnitzen. Die Mädchen vertrieben sich den Tag mit Schaukeln, Gummitwist, Seilhüpfen und hundert anderen Dingen. Wir wurden nicht betreut oder gefördert, sondern waren einfach glücklich, wenn wir am Nachmittag tun und lassen konnten, was wir wollten. Manchmal war uns auch langweilig, und nicht alles, was wir dagegen unternommen haben, deckte sich mit dem, was Lehrer, Pädagogen oder Politiker unter sinnvoller Freizeitgestaltung verstehen, aber es war unsere Gestaltung. Die Soziologen haben dafür den Begriff Straßenkindheit erfunden. Für uns bedeutete das Freiheit.

Vor wenigen Jahren habe ich diese Freiheit noch einmal bei meinen eigenen Kindern erlebt. Mein Sohn war damals fünf, meine Tochter zwei, wir zogen vom urbanen München-Schwabing in den Randbezirk Trudering, von der viel zu kleinen Altbauwohnung in ein Reihenmittelhaus. Unsere Siedlung war frisch aus dem Boden gestampft worden, wärmegedämmte Fertighäuser, aus architektonischer Sicht eher prekär, aber – selten genug in München – für junge Familien mit mittlerem Einkommen gerade noch bezahlbar. In praktisch jedes der Häuser zog ein Paar mit ein, zwei kleinen Kindern. Zugegeben, die Siedlung ist ein Alptraum für Kinderlose, Individualisten und Hedonisten. Aber die Kinder waren glücklich, sie rannten in Scharen durch die handtuchgroßen Gärten und über den angrenzenden Acker, der sich im Sommer in ein riesiges Erdbeerfeld verwandelte – ein kleines Bullerbü. Ich erinnere mich noch gut an den Verantwortlichen der Baufirma, der das Treiben einmal von unserer Terrasse aus beobachtete und mit verstörendem Gleichmut meinte: »In zwanzig Jahren leben hier keine Jungen mehr, sondern nur noch Alte. Dann ist hier alles tot.« Wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann, wunderte ich mich, weil ich beim selben Anblick dachte: Wie herrlich, endlich können sich die Kinder austoben, wie sie wollen, und haben immer jemanden zum Spielen – ganz anders als in Schwabing, wo es auf einem Straßenzug von 500 Metern Länge außer uns nur noch drei andere Familien mit Kindern gab.

Doch der Mann von der Baufirma und ich, wir hatten uns beide geirrt: Die »Jungen« in unserer neuen Heimat waren nämlich viel schneller von der Bildfläche verschwunden, als wir es für möglich gehalten hätten. Ein Kind nach dem nächsten aus unserer Reihenhaussiedlung wurde in einer Betreuungseinrichtung untergebracht. Und auch am Wochenende gab es nur noch selten Bullerbü, weil die Eltern der ganztagsbetreuten Kinder sich regelmäßig zu Ausflügen oder Aktivitäten aufmachten, um am Samstag und Sonntag das Familienleben nachzuholen.

Selten gaben allein finanzielle Gründe den Ausschlag, dass sich beide Elternteile entschlossen, ganztägig zu arbeiten. Es war vielmehr der angenommene Normalfall: Nach der Geburt wird für die Kleinen ein Krippenplatz gesucht, spätestens zum ersten Geburtstag kehren die Eltern an den Arbeitsplatz zurück und alle sind glücklich. Vor lauter Organisation – welche Krippe hat wie lange offen? Ist an die Einrichtung auch ein Kindergarten angeschlossen, mit Ganztagsbetreuung? Was lernen die Kinder dort? Vielleicht Fremdsprachen? – ging die entscheidende Frage oft unter oder wurde gar nicht erst gestellt: Was ist mit den Kindern? Was halten sie von ihrem neuen Leben?

Wir wollten Pippis, keine Annikas

Der nahe liegende Gedanke, dass Kindheit eben auch darin besteht, zu tun und zu lassen, was man will, ohne Gängelung, Vorschriften und ständige Kontrolle durch Erwachsene, scheint völlig verloren gegangen zu sein. Obwohl die Frage nach dem Erleben unserer Kinder im Mittelpunkt der gegenwärtigen Diskussion für und gegen Fremdbetreuung und Ganztagsschule stehen müsste, wird sie überhaupt nicht thematisiert. Kollektiver Gedächtnisschwund? Die Kindheit, wie ich sie erlebt habe, war schließlich die Kindheit von Millionen Kindern in Deutschland und anderswo. Die Generation der heute 30-, 40-, 50-Jährigen hat in hohem Maße davon profitiert, dass ihnen ihre Eltern – in der Praxis vor allem die Mütter – diese Freiheit ermöglichten. Als Jugendliche grölten sie »We don’t need no education«, um ihren Widerstand gegen Kontrolle und Normierung durch die Schule auszudrücken. Und noch viel später lasen sie den eigenen Kindern aus Pippi Langstrumpf vor, von einem Kind also, das dem Jugendamt die lange Nase zeigt und es keine zwei Stunden in der Schule aushält, weil ihm das Korsett des Unterrichts zu eng ist. Hätte dieser Elterngeneration nicht auffallen müssen, dass sich ihre Kinder eher mit der schwer erziehbaren Pippi identifizierten als mit den streb- und gehorsamen Geschwistern Tommy und Annika? Gerade deshalb finden doch viele Eltern das Buch seit Jahrzehnten so wertvoll, weil sie insgeheim wünschen, ein wenig von Pippis ungezügeltem Freiheitsdrang und Selbstbewusstsein möge auf ihre eigenen Kinder abfärben.

Warum überlassen dann Eltern heute ihre Kinder ohne Zögern der staatlichen Betreuung? Warum vertrauen sie darauf, dass ihre Kinder in mehr oder weniger gut ausgestatteten Einrichtungen mit mehr oder weniger motiviertem Personal besser aufgehoben sind als zu Hause? Warum sind die Eltern nicht skeptischer gegenüber einer von Erziehern, Lehrern oder sonstigen Pädagogen geprägten und eingeengten Welt, obwohl sie doch selbst einen großen Teil ihrer Kindheit mit eher gemischten Gefühlen in dieser Welt verbracht haben? Warum halten sie es für erstrebenswert, dass Kinder den ganzen Tag in dieser Welt unterrichtet, gefördert, betreut, beschult, geformt, getriezt oder gelangweilt werden?

Was heißt hier familienfreundlich?

Das sind die zentralen Fragen dieses Buchs, und ich bin überzeugt, dass die Antworten nur teilweise bei den Eltern zu finden sind. Eltern lieben heute ihre Kinder nicht weniger, im Gegenteil: Umfragen und Studien zeigen, dass sie ihrem Nachwuchs emotional näher stehen, als das in früheren Zeiten der Fall war. Das gilt besonders für die Väter. Umgekehrt haben Frauen heute selbstverständlich ebenso berufliche Möglichkeiten und Ambitionen wie Männer. Trotzdem behaupte ich, dass es eben nicht in erster Linie Wunsch der Eltern ist, die Kinder möglichst früh in fremde Hände zu geben. Vielmehr gründet die Entwicklung, Kinder früh und lange von ihren Eltern zu trennen vor allem auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zwängen. Das Familienministerium ist zu einer Unterabteilung des Wirtschaftsministeriums und des Finanzministeriums verkommen, Familienpolitik dient vor allem dazu, den Sozialhaushalt zu entlasten, ausreichend Nachschub für den Arbeitsmarkt zu produzieren und mehr Steuereinnahmen zu generieren. Die Interessen und Wünsche der Familien, der Mütter, der Väter und der Kinder? Höchstens Nebensache.

Schon vor zehn Jahren betonte Bert Rürup, seinerzeit Vorsitzender der Wirtschaftsweisen, die »Notwendigkeit einer Mobilisierung der sogenannten stillen Reserve, Frauen mit kleinen Kindern«2. Im Memorandum »Familien leben....

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