OKTOBER 2015:
Paleo oder Höhlenkost ist nicht lustig!
❚ So funktioniert Paleo
Paleo ist auch als »Steinzeit-Diät« bekannt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Diät im landläufigen Sinn, sondern um eine Form der Ernährungsumstellung, die zu einem gesünderen, weil natürlicheren Essverhalten verhelfen soll. Als Vorbild dient die Ernährung, wie sie unsere Vorfahren, die Höhlenmenschen, während der Altsteinzeit (Paläolithikum, daher der Name) praktiziert haben sollen. Nach Meinung der Befürworter überfordert unsere heutige Ernährung den Organismus; »Ursprüngliches« wird als geeigneter angesehen und deshalb bevorzugt.
❚ Erlaubte Hauptlebensmittel
Fleisch, Fisch, Nüsse, Samen, Eier, Gemüse, Obst (mit einigen Ausnahmen, z.B. Ananas, Banane, Mango)
❚ Eher tabu
Getreide(-produkte), Milch(-produkte), Kartoffeln, Hülsenfrüchte, stark verarbeitete Lebensmittel (Fertigprodukte, Fertiggerichte etc.), Lebensmittel mit Zusätzen wie Geschmacksverstärkern, Farbstoffen, Konservierungsmitteln, alle Industrie-Zuckerarten
❚ Vor meinem Selbstversuch
Gewicht: 61,5kg, Fitness: okay, Gesundheitszustand: gut, Ernährung: relativ kohlenhydratlastig, viele Vollkornprodukte, Teilzeitvegetarierin (vier Tage pro Woche fleischfrei), 1x wöchentlich Fisch, mehr Obst als Gemüse. Täglich ein Stück Kuchen.
❚ Mein Plan
Ich verzichte komplett auf Kohlenhydrate und fast vollständig auf Milchprodukte. Stattdessen erhöhe ich den Fleisch- und Fischanteil deutlich und versuche, auch mehr Eier als bisher zu essen. Zusätzlich soll mehr Gemüse auf den Teller.
Für einen sanften Einstieg plane ich drei Beobachtungstage1 ein.
5. Oktober, Montag: 1. Beobachtungstag
Es geht los! Da Zeit wie immer knapp ist, versuche ich, mich in möglichst kurzer Zeit möglichst schlau über Paleo zu machen. Ich lese viel und erfahre Spannendes, aber es dauert nicht lange, bis mir auffällt, dass das, was einige Verfechter veröffentlichen, bisweilen rigorose bis fanatische Tendenzen aufzeigt. Hm, eine Ernährungsform mit Sektencharakter?
Ich beschließe, mir den Spaß nicht jetzt schon zu verderben, sondern so lange wie möglich bewertungsfrei und offen zu bleiben. Hochmotiviert lese ich weiter. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich diverse Paleo-Bücher, von denen manche einen umfangreichen Rezeptteil bieten. Das ist nicht nur praktisch, sondern auch wichtig, denn heute ist Montag und somit der Tag, an dem ich seit Jahren festlege, was ich an welchem Tag der Woche abends für die Familie kochen werde. Normalerweise stellt das kein großes Problem dar, denn ich habe mir im Laufe der Jahre ein nettes Repertoire an Rezepten zugelegt, aus dem ich immer wieder schöpfen kann. Und all diese Gerichte werden von Mann und Kindern nicht nur akzeptiert, sondern sogar auch gegessen! (Hausfrauen-)Herz, was willst du mehr?!
Aber heute ist alles anders, und ich spüre erneut ein mulmiges Gefühl in mir aufsteigen. Keines der Rezepte spricht mich besonders an – und ich ahne, dass es nicht nur schwierig werden wird, meine sechsjährige Tochter Nellie von meinem neuesten Ernährungsexperiment zu begeistern, sondern auch mich selbst.
Die meisten Rezepte strotzen logischerweise vor Fleisch. Ungünstig für Nellie und mich, denn wir kommen eigentlich prima ohne aus. Nur meinem Mann läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich ihm abends einige Menüfotos zeige. Paleo muss doch auch fleischarm oder vegetarisch gehen, denke ich mir und mache ich mich im Netz auf die Suche nach weiteren Rezepten. Ich werde fündig (z.B. unter www.paleo360.de). Aha, es gibt also eine gewisse Vielfalt, jedoch klingen viele Beschreibungen ziemlich abenteuerlich: Sardinen-Auberginen-Wrap, Süßkartoffel-Zimt-Soufflé … Na, ich weiß nicht. Aber ich wollte ja nicht allzu voreingenommen sein – ich werde schon etwas finden, das wir essen können und auch mögen. Fürs Erste schreibe ich mir fünf Rezepte heraus, die ich ausprobieren werde. Ich bin gespannt und gleichzeitig froh, dass ich mir einige Beobachtungstage gegönnt habe ... Gleich in die Vollen zu gehen, würde mich definitiv überfordern.
7. Oktober, Mittwoch: letzter Beobachtungstag
Die Tabu-Liste zeigt Wirkung. Zumindest bei mir. Ich komme bereits jetzt recht gut ohne Brot, Nudeln, Reis und Kartoffeln aus, allerdings streikt der jüngste Spross der Familie schon in dieser frühen Phase. Verständlich, denn mal ehrlich, was soll ich einer Schulanfängerin, die mit belegten Broten sozialisiert wurde, in die Frühstücksbox packen? Ein gekochtes Ei, geschnittene Salatgurke und sieben Mandeln? Habe ich heute versucht, aber sie war not amused. »Mama, ich hatte ganz doll Hunger!«, rief sie mir entgegen, als ich sie aus dem Hort abholte. »Die anderen hatten alle so leckere Brote dabei, und ich konnte mir nur ein Ei pellen!« Ihr standen Tränen der Entrüstung in den Augen, und mich quälte für den Rest des Tages mein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte ich ihr morgen drei Wiener Würstchen mitgeben? Sind die erlaubt? Steinzeitmenschen hatten sicher keine Würstchen, zumal diese Fleischprodukte zu den relativ stark verarbeiteten Lebensmitteln gehören. Also lese ich erst mal nach und finde heraus: Schinken, Bacon und (Wild-)Salami werden von den Paleo-Experten in verschiedenen Rezepten verwurstet. Seltsam. Mir scheint, auch bei diesem Ernährungsstil gibt es eine Art Freestyle. Oder wie Pippi Langstrumpf singt: Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt!
Gut zu wissen: FLEISCH UND FISCH.
Bei Paleo stellen Fleisch und Fisch die einzigen Eiweiß-Lieferanten dar, denn Milchprodukte und Hülsenfrüchte sind verpönt. Es wird empfohlen, möglichst nur hochwertiges (Bio-)Fleisch von freilebenden Weidetieren zu verzehren, weil konventionell in Massentierhaltung hergestelltes Fleisch hormonell und medikamentös (Antibiotika) belastet ist. Fisch und Meeresfrüchte sollten idealerweise frisch und aus Wildfang sein, denn Tiefkühlware stammt meist aus Fischfarmen.
DGE und WHO warnen seit Jahren vor den gesundheitlichen Gefahren eines hohen Fleischkonsums. Und auch wenn Fisch grundsätzlich gesund und empfehlenswert ist, sollte man bedenken, dass eine solche Ernährungsform sehr zur gnadenlosen Überfischung der Meere beiträgt.
Inwieweit eine stark fleisch- und fischhaltige Ernährung aufgrund der enthaltenen Purine Zivilisationskrankheiten wie Gicht und Rheuma auslösen kann, wird von Paleoanern kaum diskutiert.
8. Oktober, Donnerstag: Jetzt wird’s ernst
Der Morgen beginnt seltsam. Seit heute gibt es nämlich keinen leckeren Cappuccino mehr zum Wachwerden, denn Milchschaum ist tabu. Kaffee steht bei den meisten Paleo-Anhängern eigentlich auch auf dem Index, aber offenbar gibt es zu viele Sympathisanten, die nicht auf ihren Koffeinkick verzichten können oder wollen. Ich gehöre eindeutig dazu. Und ich mag keinen schwarzen Kaffee. Also suche ich einen milchähnlichen Ausweg und entdecke einen Tipp, bei dem sich mein Magen schon beim Lesen umdreht: »Rühren Sie etwas Kokosöl und geklärte Butter in Ihren Kaffee.« Ja, spinnen die denn? Wer trinkt denn so etwas? Fast entschuldigend steht dabei, dass sich dieses Gebräu »Bulletproof« nennt und die Fettverbrennung ankurbeln soll. Ändert nichts, bei mir kurbelt es nur Übelkeit an. So ein »Getränk« werde ich nie und nimmer herunterbringen, keine Chance! Ich spiele kurz mit dem Gedanken, das Experiment abzubrechen, verwerfe ihn jedoch gleich wieder und suche nach halbwegs erträglichen Alternativen: Kaffee doch nur noch rabenschwarz? Bäh, geht echt nicht. Künftig gar keinen Kaffee mehr und in die Teefraktion wechseln? Auch die Idee zündet nicht. Müde und leicht nervös suche ich weiter und stoße in meiner Paleo-Bibel auf einen kleinen, aber feinen Hinweis: »Rühren Sie etwas Schlagsahne in Ihren Kaffee. (…) Kaffee mit Sahne schlägt jeden Latte macchiato um Längen!« Ich danke dem Himmel für diesen Tipp, den ich natürlich sofort ausprobiere und erstaunlich passabel finde. Dass Schlagsahne ein Milchprodukt ist, nehme ich gelassen hin und rede mir ein, dass die Menge im Verhältnis zu meinem bisherigen Milchkonsum lächerlich gering ist – immerhin habe ich bis zu fünf Cappuccinos täglich getrunken, das entspricht erschreckenderweise einem dreiviertel Liter Milch. Seltsam, dass ich das vorher nie ausgerechnet habe. Paleo schürt also mein Bewusstsein und lässt mich Eingefahrenes überdenken. Begeistert genieße ich meine neue Kaffeekreation zu einem Frühstück, das aus einer mit gebratenen Hähnchenbrustwürfeln, Tomatenstücken und Baconstreifen gefüllten Avocado besteht, und sinniere darüber, welche Erkenntnisse und Geschmackserlebnisse mir dieses Experiment wohl noch bescheren wird. Als ich mich wenig später meinem Tagwerk zuwende, muss ich feststellen, dass mein »Caffè con panna« offensichtlich deutlich mehr Koffein enthält als der Standard-Cappuccino. Eigentlich logisch, denn mein wunderbarer Kaffeevollautomat füllt mir nun statt eines Espressos mit aufgeschäumter Milch einen Caffè Crema (200 ml) in meine Lieblingstasse. Dummerweise aber bekommt mir viel Koffein gar nicht gut. Ich beschließe, die starke innerliche Unruhe, mit der ich nun zu kämpfen habe, auszuhalten, bis die Wirkung nachlässt, und alle weiteren Gedanken über meine künftigen Koffeindosen auf später zu verschieben.
Gut zu wissen: MILCH.
Dass Milch und Milchprodukte gar nicht so gesund sind, wie früher gern...