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E-Book

Verhaltenstherapie mon amour (Wissen & Leben)

Mythos - Fiktion - Wirklichkeit

AutorPeter Fiedler
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl492 Seiten
ISBN9783608168440
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Ein Titel aus der Reihe Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram Geschichte fängt vorne an, es sei denn, man befindet sich mittendrin. Im Wechsel zwischen autobiografischen Notizen, kritischer Diskussion zentraler Themen der Verhaltenstherapie und illustrierenden Fallbeispielen aus der Therapiepraxis zieht Peter Fiedler eine Bilanz seiner wissenschaftlichen Laufbahn als Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und klinisch-psychologischer Forscher. Eingebettet in einen historischen Rückblick und angereichert mit Befragungen zur Person des Autors ist so ein fundiertes Lese- und Lehrbuch der besonderen Art über Psychotherapie entstanden, das den Leser von der ersten bis letzten Seite in seinen Bann zu ziehen vermag - und zwar nicht nur Verhaltenstherapeuten ... Der Gesprächspartner Die 'Nachfragen zur Person des Autors' wurden von Priv.-Doz. Dr. phil. Philipp Hammelstein, Autor wissenschaftlicher Werke und Psychotherapeut in eigener Praxis, mit Peter Fiedler durchgeführt.

Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. Peter Fiedler ist Verhaltenstherapeut und Supervisor und lehrt seit 1980 als Universitätsprofessor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Er hat zahlreiche Standardwerke der Klinischen Psychologie geschrieben und ist Mitherausgeber der Zeitschrift 'Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin'. Im November 2009 wurde Peter Fiedler durch die Dr. Margrit Egnér-Stiftung an der Universität Zürich für sein Lebenswerk mit einem der höchstdotierten Schweizer Wissenschaftspreise für 'Humanistische und Anthropologische Psychologie' ausgezeichnet.

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Leseprobe

Vorausgehende Geschichten

Ewiges Hin und Her zwischen Organmedizin und Psychologie

Die Tür zur Vergangenheit ist ohne Knarren nicht zu öffnen.

Alberto Moravia

Sucht man nach den historischen Wurzeln und Vorläufern der Verhaltenstherapie, wird man am ehesten fündig, wenn man sich zunächst – wohl fast beliebig – eine psychische Störung auswählt und sich dann auf eine Zeitreise zurück mit folgender Frage begibt: Welche Versuche wurden seitens der Wissenschaft über die letzten, eventuell mehreren Jahrhunderte unternommen, genau jene psychische Störung erfolgreich zu behandeln? Genau diese Frage stand immer im Mittelpunkt, wenn ich mich in den vergangenen Jahrzehnten aufmachte, meine Bücher über psychische Störungen zu schreiben. Immer begegnete ich dabei einem typischen Grundmuster, das die Vorgeschichte hin zur Verhaltenstherapie durchzieht.

Als erstes wird man in unterschiedlichen Epochen bei den heute als „psychisch bedingt“ angesehenen Störungen mit Erklärungsversuchen und Behandlungskonzepten der Organmedizin konfrontiert, die dem jeweiligen Zeitgeist und damit dem damaligen Stand der medizinischen Forschung entsprachen. Zumeist waren fortschrittliche Mediziner ernsthaft bemüht, den organischen Ursachen psychischer Störungen auf die Schliche zu kommen, um diese angemessen somatisch behandeln zu können. Fast immer wurden Anfangserfolge berichtet, bis es jeweils über kurz oder lang zu Krisen kam, in denen sich die empfohlenen Behandlungskonzepte als nicht hinreichend tragfähig erwiesen.

Genau in diesen Krisen des Scheiterns organmedizinischer Behandlung psychischer Störungen traten nun Personen in Erscheinung, die psychologische Erklärungen anboten und psychologische Behandlungskonzepte als Alternativen empfahlen. Auch wenn sich das Fach „Psychologie“ erst um die Wende zum letzten Jahrhundert hin etablierte, gab es in der Vorzeit immer wieder auch Ärzte sowie Philosophen, Soziologen, Theologen und Schriftsteller, die psychologische Erklärungen bemühten. Andererseits hatten sowohl die frühen organmedizinischen als auch die frühen psychologischen Ansätze wiederum bereits ihre eigene Vorgeschichte, so dass es eigentlich unmöglich ist, die Ursprünge irgendwo in der Vorzeit zu verorten. Und da es bereits in uralten Zeiten Behandlungsansätze gab, die sich immer noch in den psychologisch oder psychodynamisch begründeten Therapieansätzen der Gegenwart wiederfinden, gilt dies auch für die Verhaltenstherapie.

Um dieses Hin und Her zwischen Organmedizin und den psychologischen Alternativen als Mosaiksteine der Geschichte einmal zu illustrieren, wurde mit dem Stottern ein Störungsbereich als Beispiel ausgesucht – dies nicht nur, weil ich dieser Sprechstörung eine eigene Monographie gewidmet habe [72; 81], sondern weil wir auf dieser Reise zurück den Assozianisten begegnen werden, die als Urväter verhaltenstherapeutischen Denkens angesehen werden.

Zum Beispiel Stottern: organmedizinisch zu behandelndes Problem der Zunge?

Viele Jahrhunderte lang hatten Mediziner wiederholt vermutet, dass das Stottern auf einem Versagen der Zunge beruhe. Diese Ansicht findet sich bereits bei Hippokrates (460–377 v. Chr.) und wurde von dem römischen Arzt Galenus (129–199 n. Chr.) aufgegriffen. Sein Kollege Celsus, der zur Zeit Christi lebte, hielt die Zunge Stotternder ebenfalls für „zu schwächlich“. Die Ansicht, in Problemen der Zunge die Ursache des Stotterns zu vermuten, hielt sich bis zu Beginn der Neuzeit, angereichert durch vielfältige Annahmen, worauf denn die Schwäche der Zunge beruhen könne.

Bereits 1583 veröffentlichte Hieronymus Mercurialis ein Behandlungsprogramm für Stotternde, das eine sorgfältige Differenzialdiagnostik voraussetzte. Er empfahl operative Eingriffe bei chronischer Muskelverspannung, Gebisskorrekturen bei Dentalproblemen der Stotternden; eine zu trockene Zunge als Ursache sollte mit Flüssigkeitszufuhr, eine zu feuchte Zunge mit einer Austrocknungstherapie behandelt werden. Noch etliches mehr findet sich in einer seiner Schriften, die in Auszügen 1977 im Journal of Communication Disorders wiederabgedruckt wurde.

Ähnliche Ansichten finden sich dann erneut in den Schriften des Philosophen und Staatsmannes Sir Francis Bacon (1561–1626), der als Begründer des wissenschaftlichen Empirismus gilt und der sich gern zu medizinischen Fragen äußerte. In seiner posthum erschienen Schrift Sylva Sylvarum empfahl Bacon den Stotternden, die Zunge zur Förderung ihrer Beweglichkeit täglich mit zwei Gläschen Wein geschmeidig zu halten [11].

Irgendwann im 18. Jahrhundert nahm ganz allgemein die Bereitschaft zu, den realen oder vermeintlichen organischen Beschwerden von Patienten mit operativen Eingriffen zu begegnen. Wichtige und Mut machende Impulse dazu gingen von einem der berühmtesten Pathologen jener Zeit aus: Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) erarbeitete eine topographische Klassifikation, die er auf eine Post-mortem-Beurteilung der für Krankheitsursachen in Frage kommenden Organe gründete. 1761, bereits achtzigjährig, veröffentlichte er sein Hauptwerk, die fünf Bücher De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis (Über den Sitz und die Ursachen der Krankheiten, aufgespürt durch die Anatomie). Nach der Untersuchung verstorbener Stotternder beschrieb er darin spektakuläre Normabweichungen im hinteren Zungenbereich und stellte sie in einen Kausalzusammenhang mit der Sprechstörung.

1841: das Jahr der Operateure

Das Jahr 1841 stellt in der Medizingeschichte ein besonderes Jahr dar, weil sich mutige Chirurgen zunehmend anschickten, organische Störungen mit operativen Eingriffen zu behandeln. Narkose gab es noch nicht, sie wurde erst 1846 eingeführt. Deshalb hatte der Chirurg wegen der starken Schmerzen der Patienten möglichst schnell zu arbeiten. Aber auch noch in anderer Hinsicht kam es damals – und dies insbesondere im Jahr 1841 – zu einem regelrechten Wettlauf mit der Zeit, nämlich zu einem Wettrennen der Mediziner gegeneinander. Jeder mutige Chirurg ging sofort nach einer neuartigen Operation mit einem vermeintlich erfolgreichen Operationsergebnis an die Öffentlichkeit, um sich als Erstplatzierter im Buch der Medizingeschichte einen Eintrag zu sichern.

1841 war im Verlauf der Weltgeschichte übrigens ganz allgemein ein interessantes Jahr, weshalb wir zur besseren Einordnung der Geschehnisse einen kurzen Abstecher machen. Der Belgier Adolphe Sax erfindet das Saxophon. Die Firma Borsig liefert die erste Lokomotive aus und das Eisenbahnnetz soll noch in diesem Jahr die 500-Kilometer-Marke überschreiten. Schopenhauer veröffentlicht sein Werk über „Die beiden Grundprobleme der Ethik“ und Ludwig Feuerbach seines über „Das Wesen des Christentums“. Von Christian Friedrich Schönbein wird das Ozon entdeckt. James F. Cooper schreibt den „Lederstrumpf “ und Edgar Allen Poe an seiner Kriminalgeschichte „Der Mord in der Rue Morgue“. Gioacchino

Rossini komponiert „Stabat Mater“ und Robert Schumann seine 1. Symphonie (Frühlingssymphonie) in B-Dur. In Deutschland entstehen die ersten Arbeiterbildungsvereine und in Berlin öffnet der Zoologische Garten seine Tore. Thomas Cook arrangiert erstmals verbilligte Gesellschaftsreisen, Karl Baedeker schreibt in dieser Zeit an seinem ersten „Handbuch für Reisende“ (durch Deutschland und Österreich) und die Polka ist auf dem Durchbruch zum Gesellschaftstanz.

Genau in diesem Jahr 1841 erreichte die Zahl der Publikationen über innovative und gelungene Operationen ihren absoluten Höhepunkt. Eine dieser Neuerungen betraf die Behandlung des Stotterns. In der Annahme, Stottern hänge mit ungewöhnlichen Abweichungen der Zunge und von Muskeln im Kehlkopfbereich zusammen, empfahl der deutsche Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach zu dessen Abhilfe operative Korrekturen. Dieffenbach, der sich bereits zuvor mit der operativen Behandlung des Schielens einen Namen gemacht hatte, schlug drei Vorgehensweisen vor. Zwei Methoden beruhten auf einer transversalen Muskeldurchtrennung der Zungenwurzel, bei der dritten Methode wurden keilförmige Stücke aus der Zungenwurzel entfernt. Am 7. Januar 1841 führte er die erste Glossotomie durch, gegen Ende des Monats hatte er bereits 19 Stotternde auf die eine oder andere Art operiert. Über Dieffenbachs chirurgische Premiere wurde am 1. Februar 1841 im französischen Journal des Debats berichtet.

Tumult in der Akademie der Wissenschaften

Ein paar Tage später durchtrennte der in Paris tätige Chirurg Ch. Phillips bei zwei Stotternden den (unter der Zunge befindlichen) Musculus genioglossus, weil er glaubte, dass die Zunge Stotternder mehr Raum benötigte. Am 8. Februar informierte er die französische Akademie der Wissenschaften über seine Operation. Etwa eine Woche später durchtrennten die beiden französischen Chirurgen Velpau und Amussat den Genioglossus bei Stotternden, die Schwierigkeiten gehabt hätten, ihre Zunge zu heben. Unmittelbar nachdem Velpau am 16. Februar 1841 vor der Akademie der...

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