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E-Book

Verhandeln mit dem Teufel

Das Harvard-Konzept für die fiesen Fälle

AutorRobert H. Mnookin
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl349 Seiten
ISBN9783593416403
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Wann kann ich mit meinem Gegner verhandeln und wann muss ich kämpfen? Acht spannende Beispiele aus Politik, Wirtschaft und Privatleben zeigen, wie heiß Verhandlungen werden können. Ob es um die Taliban geht oder um eine erbittert umkämpfte Ehescheidung: Aus seiner langjährigen Beratertätigkeit kennt Robert Mnookin Konflikte in allen Größenordnungen und gibt Ihnen praxistaugliche Leitlinien an die Hand. 'Ein Manifest für Pragmatiker.' New York Times 'Eine Seltenheit in der Fachliteratur: Ein Buch, das man nicht aus der Hand legt.' Harvard Negotiation Law Review

Robert H. Mnookin ist seit 1993 Samuel Williston Professor of Law an der Harvard Law School, Chair des Program on Negotiation an der Harvard Law School und Director des Harvard Negotiation Research Project. In seinen Büchern schöpft er aus seiner langen Erfahrung als Mediator in schwierigen Konflikten aller Art.

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Leseprobe
Einleitung

Sollten Sie mit dem Teufel verhandeln?

In unserer von Terrorismus geprägten Zeit müssen sich Politiker diese Frage immer wieder stellen. Sollen sie mit den Taliban verhandeln? Dem Iran? Nordkorea? Oder mit terroristischen Geiselnehmern?

Auch in unseren Verhandlungen in Beruf und Privatleben müssen wir uns diese Frage immer wieder beantworten. Ein Geschäftspartner hat Sie hintergangen und will jetzt bessere Konditionen heraushandeln. Ihre Ehe geht in die Brüche und Ihr Partner oder Ihre Partnerin stellt erpresserische Forderungen. Ein Konkurrent hat Ihr geistiges Eigentum gestohlen. Sie sind wütend. Ihr Bauch rät Ihnen, vor Gericht zu gehen und es dem anderen so richtig zu zeigen. Wenn Sie sich mit diesem Menschen auf Verhandlungen einlassen würden, dann würden Sie ihm doch genau das geben, was er will! Sie würden ihn für seine Frechheit auch noch belohnen! Sie bestehen auf Ihrem Recht, und allein die Vorstellung, dass Sie mit dem anderen auch noch verhandeln sollen, erscheint ihnen vollkommen absurd.

In diesem Buch geht es genau um diese Konflikte und damit um die vielleicht schwierigsten aller Fragen, die sich im Zusammenhang mit Verhandlungen stellen können. Sie müssen eine Entscheidung treffen: Sollen Sie mit dem Teufel verhandeln oder nicht? Unter 'verhandeln' verstehe ich, eine Einigung zu suchen und einen Konflikt durch Kompromiss statt durch Konfrontation zu lösen. Und mit dem 'Teufel' meine ich einen Kontrahenten, der Ihnen in der Vergangenheit bewusst Schaden zugefügt hat oder dies in Zukunft noch tun könnte. Jemanden, dem Sie nicht vertrauen. Einen Gegner, den Sie womöglich sogar für 'böse' halten könnten.

Der Begriff des Bösen ist heutzutage ein wenig aus der Mode gekommen, vor allem unter Konfliktexperten. Das Wort schmeckt nach selbstgerechtem Moralismus, Fundamentalismus und religiösen Vorstellungen wie Sünde. Verhandlungsexperten weisen darauf hin, dass der Begriff nicht eindeutig definiert ist und im Grunde keinerlei Bedeutung hat. Es handelt sich um eine vollkommen subjektive Bewertung: In Konflikten halten viele Menschen ihre Kontrahenten für 'böse', doch das ist lediglich eine Wahrnehmung, die unvoreingenommene Beobachter vielleicht gar nicht teilen. Andere würden hinzufügen, dass sich die Vorstellung des Bösen je nach Ort und Epoche erheblich unterscheiden kann. Aber wir wollen an dieser Stelle keine akademische Debatte führen. Unter Verhandlungsexperten ist der Begriff 'böse' tabu. Es ist ein unklarer und gefährlicher Begriff, den religiöse und politische Führer allzu gern missbrauchen, um ihre Gegner zu diffamieren und ihre Anhänger zu mobilisieren.

Ich sehe diese Gefahren genauso und teile die Ansicht, dass Verteufelungen den Verstand vernebeln können. Trotzdem glaube ich nicht, dass der Begriff 'böse' an sich bedeutungslos ist. Wer anderen Menschen bewusst und grundlos großen Schaden zufügt, handelt meiner Ansicht nach böse. Der Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden oder der Hutus an den Tutsi, die Angewohnheit der Taliban, Mädchen, die zur Schule gehen, das Gesicht mit Säure zu entstellen - das sind nur einige Beispiele für Handlungen, die ich als böse bezeichnen würde. Genau wie die Terroranschläge des 11. September 2001, in denen Selbstmordattentäter bewusst und grundlos fast dreitausend unschuldige Menschen töteten.

Die Fragen, die ich in diesem Buch aufwerfe, beginnen mit dem 11. September 2001. Im Herbst dieses Jahres, weniger als einen Monat nach den Anschlägen, hielt das Harvard Negotiation Project, das Verhandlungsprojekt der Universität Harvard, eine öffentliche Diskussion ab, in der es um die Frage ging, ob Präsident George W. Bush Verhandlungen mit den Taliban führen sollte. Nach dieser Diskussion begann ich, mich mit einer weitergehenden Frage zu beschäftigen: Nach welchen Kriterien können wir in einem Konflikt entscheiden, ob eine Verhandlung sinnvoll ist oder nicht?

Damals ging es Schlag auf Schlag. Bush hatte der Taliban-Regierung in Afghanistan soeben ein Ultimatum gestellt: Entweder schlossen sie die Trainingslager der al-Kaida und lieferten Osama bin Laden und seine Stellvertreter aus, oder die Vereinigten Staaten würden einmarschieren. Überraschenderweise hatten die Taliban Bush daraufhin zu Verhandlungen eingeladen. Vor einem Rat von Geistlichen hatte der Mullah Mohammed Omar gesagt: 'Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten Probleme mit dem Islamischen Emirat von Afghanistan hat, dann sollten diese durch Verhandlungen beigelegt werden.'

Meine Kollege Roger Fisher und ich wurden eingeladen, um mit Präsident Bush mögliche Reaktionen zu erörtern. Roger Fisher ist vermutlich der bekannteste Verhandlungsexperte der Welt und der prominenteste Vertreter der sogenannten sachbezogenen oder 'Win-win'-Verhandlung; sein Buch Das Harvard-Konzept verkaufte sich weltweit mehr als dreimillionenmal. Ich bin sein Nachfolger als Direktor des Negotiation Project der Harvard University.

Fisher und ich sind in vielen Dingen einer Meinung. In diesem Fall waren wir es nicht. Wie vorherzusehen, vertrat Fisher die Auffassung, Bushs Ultimatum sei ein Fehler gewesen und die Vereinigten Staaten sollten das Verhandlungsangebot der Taliban annehmen. Seine Position entsprang seiner Überzeugung, Konflikte sollten durch eine problemlösende Verhandlung beigelegt werden, welche die Interessen beider Seiten berücksichtigt.

Fisher vertritt mit anderen Worten die Auffassung, dass man grundsätzlich immer zu Verhandlungen bereit sein sollte - eine Position, die heute von den meisten Konfliktexperten vertreten wird. Dahinter steckt ein so einfacher wie attraktiver Gedanke: Ehe man zu Zwangsmaßnahmen wie einem Krieg oder einem Gerichtsverfahren greift, sollte man versuchen, das Problem gütlich aus der Welt zu schaffen. Verhandeln bedeutet nicht, alles aufzugeben, was einem lieb und teuer ist. Es bedeutet nur, sich mit dem anderen an einen Tisch zu setzen und zu sehen, ob man nicht eine Lösung findet, mit der den Interessen beider Seiten besser gedient ist. Menschen und Regierungen sind veränderungsfähig. Sie können nur dann Frieden mit Ihren Feinden schließen, wenn Sie bereit sind, mit Ihnen zu verhandeln.

Aber Sie kennen auch das kategorische Gegenargument. Aus der Geschichte des Doktor Faustus lernen wir, dass es besser ist, keinerlei Händel mit dem Teufel einzugehen. Der Teufel ist schlau und skrupellos und führt Sie mit seinen verlockenden Angeboten in Versuchung. Doch egal wie verführerisch seine Versprechungen klingen, Sie dürfen aus Prinzip nicht mit ihm verhandeln, denn damit verraten Sie sich selbst und verkaufen Ihre Seele.

Ich bin kein Freund von kategorischen Begriffen wie 'immer' und 'nie'. Es gibt zu viele Beispiele, mit denen sich solche Positionen widerlegen lassen. In meiner Diskussion mit Roger Fisher erklärte ich, dass meine größten Helden des 20. Jahrhunderts Winston Churchill und Nelson Mandela sind. Beide standen vor der Frage, ob sie mit einem tyrannischen und bösen Widersacher verhandeln sollten. Im Mai 1940 lehnte der britische Premierminister Churchill jede Verhandlung mit Adolf Hitler ab, obwohl die deutsche Wehrmacht Europa überrannt hatte und im Begriff war, das geschwächte Großbritannien anzugreifen. Der südafrikanische Anti-Apartheid-Kämpfer Nelson Mandela entschied sich dagegen 1985 für Verhandlungen mit dem rassistischen Apartheid-Regime Südafrikas.

Wenn es keine einfachen, kategorischen Antworten auf die Frage gibt, wann Sie mit dem Teufel verhandeln sollten und wann nicht - wie sollten Sie sich dann entscheiden? Wie sollten Sie an diese Frage herangehen? Die große Herausforderung besteht darin, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Und genau dabei hilft Ihnen dieses Buch.

Auf den folgenden Seiten sehen wir uns acht reale und konkrete Fälle an, in denen Menschen vor der Entscheidung standen, Verhandlungen aufzunehmen oder abzulehnen. Es handelt sich um komplexe Fälle und ein breites Spektrum von Situationen. In einigen geht es um internationale Auseinandersetzungen, in anderen um Konflikte im Unternehmen und der Familie. In jedem dieser Fälle steht viel auf dem Spiel und mindestens eine der beiden Seiten ist über das Verhalten der anderen erzürnt. Verteufelungen machen die Runde. Es fällt schwer, Emotionen wie Rachegelüste von moralischen Prinzipien zu unterscheiden. Eine Seite verspürt eine tiefe Abneigung dagegen, die Interessen der Gegenseite anzuerkennen oder für ihr boshaftes Verhalten zu belohnen, denn sie verspürt ein tiefes Verlangen nach Gerechtigkeit und Bestrafung. Wie können wir angesichts dieser überwältigenden Emotionen eine vernünftige Entscheidung treffen? Die Geschichten von Winston Churchill und Nelson Mandela sind heute klassische Beispiele und werden immer wieder angeführt, um eine bereits getroffene Entscheidung zu rechtfertigen. Wer nicht verhandeln will, erzählt die Geschichte von Churchill und dem Scheitern der Appeasement-Politik. Und wer verhandeln will, beruft sich auf die Geschichte von Mandela.

Im Rückblick erscheinen beide Entscheidungen natürlich richtig. Aber was passiert, wenn wir uns ansehen, wie sich beide Entscheidungen im jeweiligen Moment selbst darstellten? Sind sie dann immer noch vernünftig?

Beide Entscheidungen waren sehr viel komplizierter, als es im Nachhinein den Anschein erweckte, weshalb wir uns jede in einem eigenen Kapitel ansehen. In Churchills Fall nahm der Krieg einen derart unglücklichen Verlauf, dass der amerikanische Botschafter befürchtete, Großbritannien könnte binnen kürzester Zeit überrannt werden. Obwohl Churchill später hartnäckig behauptete, seine Regierung habe Verhandlungen mit 'diesem Mann' nie auch nur in Erwägung gezogen, sieht die Wahrheit anders aus. Drei Tage lang diskutierte er in geheimen Sitzungen mit seinem Kriegskabinett, ob es sinnvoll sei, Friedensverhandlungen mit Hitler aufzunehmen. Dabei wurden auch durchaus überzeugende Argumente für solche Verhandlungen vorgebracht. Auch Mandela traf eine äußerst schwierige und riskante Entscheidung. Um Verhandlungen mit dem Apartheid-Regime aufnehmen zu können, musste er eine Möglichkeit finden, die Gespräche vor seinen Weggefährten geheim zu halten.

Außerdem sehen wir uns die Geschichten zweier Menschen an, die Gefangene böser Regimes waren. Beide mussten Entscheidungen treffen, von denen auch das Leben anderer Menschen abhing. Der eine weigerte sich, mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB zu verhandeln, und wurde als Held gefeiert. Der andere entschied sich, mit Adolf Eichmann zu verhandeln, und rettete Hunderte Menschenleben - nur um später als Kollaborateur der Nazis an den Pranger gestellt zu werden. Jeder der beiden war auf seine Weise ein Held. Schließlich beschreibe ich vier reale Konflikte aus Unternehmen und Familien, die ich aus erster Hand beobachtet habe. Dabei stelle ich zwei Software-Giganten vor, die um Patente streiten, ein Sinfonieorchester, das von einem Arbeitsrechtskonflikt zerrissen wird, ein Ehepaar im Scheidungskrieg und drei Geschwister in einem Erbschaftsstreit.

Diese Fälle unterscheiden sich natürlich erheblich. Der größte Unterschied liegt in der Bedeutung des Wortes 'böse'. Ich verwende das Wort 'Teufel' nicht in einem religiösen Sinn, aber ich würde Hitler und Eichmann ohne zu zögern als 'böse' bezeichnen, genau wie den KGB und das Apartheid-Regime. In den unternehmerischen und privaten Konflikten waren die verfeindeten Parteien zwar nicht in diesem Sinne 'böse', doch sämtliche Beteiligten waren der Ansicht, die jeweilige Gegenseite handelte in böswilliger Absicht und wollte ihnen bewusst Schaden zufügen.

Und natürlich stand auch unterschiedlich viel auf dem Spiel. In den hier beschriebenen internationalen Konflikten ging es um Leben und Tod vieler Menschen. In den Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Familienmitgliedern ging es dagegen um Geld und Beziehungen - wichtige Beziehungen, die vollkommen zerrüttet waren. Auch die Alternativen zu einer Verhandlung sind andere. Bei Streitigkeiten zwischen Unternehmen beziehungsweise Familienmitgliedern bleibt in der Regel als Alternative zu einer gütlichen Einigung der Gang vor das Gericht. In den internationalen Konflikten gab es diese Option nicht.

Wenn diese Fälle so unterschiedlich sind, warum sollte man sie dann überhaupt nebeneinanderstellen? Erstens, weil dies ein 'Denk-Buch' ist, mit dem ich Ihnen zeigen möchte, wie Sie kategorisches Denken überwinden können. In meinen vielen Jahren als Hochschullehrer habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Studenten neue Ideen am ehesten annehmen, wenn sie diese in unbekannten Zusammenhängen anwenden. Zweitens, weil in allen acht Geschichten mindestens ein Beteiligter verteufelt wird und das Denken mindestens einer Seite verzerrt wird. In diesen Geschichten wollen wir uns ansehen, nach welchen Kriterien Menschen in schweren Konflikten die Entscheidung treffen, mit ihrem Gegner zu verhandeln oder nicht. Welche Rolle spielen dabei die Emotionen? Welche Rolle spielt die Analyse, welche das Bauchgefühl? Gibt es so etwas wie Fallstricke, in denen sich die Beteiligten immer wieder verheddern und die eine vernünftige Entscheidung verhindern? Gibt es einen Ansatz, der uns hilft, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine vernünftige Entscheidung zu treffen?

Die letzte Frage würde ich mit Ja beantworten. In diesem Buch biete ich einen Rahmen und einen disziplinierten Ansatz, den Sie auf jede Situation anwenden können. Dazu gehören zwei verbreitete Gruppen von Fallstricken, die eine vernünftige Entscheidung verhindern können. Die 'negativen Fallstricke', allen voran die Verteufelung unseres Gegenübers, stacheln unseren Zorn an und verleiten uns dazu, uns einer Verhandlung zu verweigern, obwohl das vielleicht die klügere Option wäre. Umgekehrt können uns die sehr viel selteneren 'positiven Fallstricke' zu Verhandlungen verleiten, wenn es ratsamer wäre, diese nicht zu führen. Mithilfe des in diesem Buch vorgestellten Rahmens lernen Sie, beide Fallstricke zu vermeiden.

Wir setzen uns aber auch mit moralischen Zwickmühlen auseinander. Was, wenn Ihr Gewissen Ihnen sagt, dass Sie grundsätzlich nicht mit dem Teufel verhandeln dürfen, auch wenn es Ihnen praktische Vorteile bringt? Was, wenn Sie eine Verhandlungslösung absehen können, die Ihnen nutzt, aber anderen schadet?

Jeder der Protagonisten der folgenden Kapitel ringt mit der Entscheidung, zu verhandeln oder nicht, und jeder läuft Gefahr, in eine der Fallen zu tappen. Wir sehen uns an, wie sie ihre Entscheidungen getroffen haben und warum, und ich werde darstellen, ob ich die Entscheidung für vernünftig halte oder nicht. Sie erhalten ausreichend Information, um Ihre eigenen Schlüsse ziehen zu können. Vielleicht werden Sie in einigen Fällen anderer Meinung sein als ich, aber Sie wissen wenigstens, wo ich stehe.

Kommen wir zurück zum Verhandlungsangebot der Taliban im Jahr 2001 und meiner Debatte mit Roger Fisher.

Wir wissen, was später passierte. Präsident Bush weigerte sich, mit den Taliban zu verhandeln. Und mit Verweis auf das islamische Recht weigerten sich umgekehrt die Taliban, bin Laden auszuliefern und die Trainingslager von al-Kaida zu schließen. Nachdem Bush die Zustimmung des amerikanischen Kongresses und der Vereinten Nationen erhalten hatte, schickte er Truppen nach Afghanistan und stürzte das Regime der Taliban.

Doch war die Entscheidung, keine Verhandlungen zu führen, vor dem Hintergrund der damals bekannten Tatsachen vernünftig? In unserer Debatte vertrat ich die Auffassung, dass sie es war. Meine Argumente waren die folgenden:

Welche Interessen standen auf dem Spiel? Für die Vereinigten Staaten ging es darum, Leben zu schützen und weitere Anschläge zu verhindern. Für die Taliban ging es darum, an der Macht zu bleiben und die islamischen Gesetze aufrechtzuerhalten.

Was waren die Alternativen zu einer Verhandlung? Für die Vereinigten Staaten war die Alternative die Anwendung von Gewalt. Obwohl der Ausgang eines Kriegs immer ungewiss ist, schien ein Sturz der Taliban, eine Schließung der Ausbildungslager und eine Verhaftung zahlreicher Schuldiger möglich. Die Alternative der Taliban war dagegen deutlich schlechter. Bei einem Angriff der USA liefen sie Gefahr, die politische Macht zu verlieren; ihre beste Alternative war es, in den Untergrund zu gehen und einen Guerillakrieg zu führen.

Wie konnte eine Verhandlungslösung aussehen, welche die Interessen beider Seiten widergab? War eine solche Lösung wahrscheinlich? Eher nicht. Die Clinton-Regierung hatte bereits die Auslieferung bin Ladens und eine Schließung der Ausbildungslager von al-Kaida gefordert, und die Taliban hatten in keiner Weise reagiert. Sie schienen weder willens noch in der Lage, die Lager zu schließen und bin Laden auszuliefern. Im Gegenteil, viele Beobachter waren der Ansicht, dass bin Laden mehr Macht und Einfluss über die Taliban hatte als sie umgekehrt über ihn.

Was bedeutete eine Verhandlung für die Vereinigten Staaten? Die Kosten wären erheblich gewesen. Die Taliban waren alles andere als unbeteiligte Zuschauer. Sie hatten bin Laden und Tausenden islamistischen Terroristen aus aller Welt Unterschlupf gewährt. Die Clinton-Regierung hatte schon ein Jahr zuvor gewarnt, dass sie die Taliban für jeden Anschlag bin Ladens zur Rechenschaft ziehen würde. Verhandlungen hätten die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten ausgehöhlt, und zwar nicht nur gegenüber Terrorgruppen, sondern auch gegenüber anderen Regierungen in aller Welt, die Terroristen Unterschlupf gewährten. Eine Verhandlung hätte ein gefährliches Signal sein können. Außerdem wäre Präsident Bush dadurch kaum noch in der Lage gewesen, eine internationale Koalition zum Kampf gegen den Terrorismus auf die Beine zu stellen.

War die Alternative - der Einsatz militärischer Gewalt - legitim und moralisch gerechtfertigt? Ich meine: ja. Bin Laden hatte den Vereinigten Staaten einige Jahre zuvor öffentlich den Krieg erklärt, und die Anschläge des 11. September 2001 waren eindeutig eine Kriegshandlung. Nach internationalem Recht war der Einsatz militärischer Gewalt damit gerechtfertigt.

Aufgrund dieser Kosten-Nutzen-Analyse kam ich zu dem Schluss, dass es besser war, nicht mit den Taliban zu verhandeln. Wie die meisten Amerikaner sah ich die Anschläge des 11. September als Ausdruck des 'Bösen': Unschuldigen Opfern wurde grundlos schwerer Schaden zugefügt. Ich war der Ansicht, dass die Schuldigen bestraft werden mussten, um weitere Anschläge zu verhindern. Meine pragmatische Analyse und mein moralischer Instinkt kamen zu demselben Schluss, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Deshalb fiel mir die Entscheidung relativ leicht.

Schwieriger wird es, wenn es zu einem Widerspruch zwischen Kopf und Bauch kommt. Was, wenn Sie nach einer sorgfältigen Analyse der Situation zu dem Schluss kommen, dass eine Verhandlung die bessere Option ist, aber Ihre Prinzipien Ihnen sagen, dass dies der falsche Weg ist? Was tun Sie? Wie können Sie diesen Konflikt lösen?

Nehmen wir beispielsweise einen Streit zwischen zwei Unternehmen, wie er Sie auch treffen könnte.7 Stellen Sie sich vor, Sie haben eine kleine Forschungsfirma gegründet und finden heraus, dass Ihr Joint- Venture-Partner, der japanische Großkonzern Bikuta, insgeheim ein Konkurrenzprodukt entwickelt hat und unter eigenem Namen auf dem chinesischen Markt verkauft. Das 'neue' Produkt ist nichts als eine Kopie des Produkts, das Sie vor zwei Jahren als Lizenz an Bikuta verkauft haben; damals haben Sie den Japanern auch das zur Produktion erforderliche Know-how zur Verfügung gestellt. Sie haben keinen Zweifel, dass Bikuta gegen den Vertrag verstoßen hat, der vorsieht, dass Bikuta fünf Jahre lang ausschließlich Ihr Produkt herstellt, vertreibt und Ihnen eine Lizenzgebühr von 15 Prozent zahlt. Als Sie den Vorstandsvorsitzenden von Bikuta darauf ansprechen, zeigt dieser keinerlei Reue. Er behauptet, das ursprüngliche Produkt sei in dieser Form auf dem chinesischen Markt nicht verkäuflich, weshalb Bikuta Ihnen für die Verkäufe in China nichts schuldig sei. Außerdem will er die Lizenzgebühr von 15 Prozent nachverhandeln, da diese ihm plötzlich zu hoch erscheint.

Sie sind schockiert und fühlen sich hintergangen. Bikuta stiehlt Ihnen einfach Ihr Know-how, ignoriert seine vertraglichen Pflichten und will Ihnen auch noch weniger zahlen, als Ihnen zusteht. Außerdem sind Sie sauer auf sich selbst, weil Sie so vertrauensselig waren. Jeder Unternehmer kann sich mit dem Fall identifizieren. Der Bauch sagt, 'Auf in den Kampf!' und 'Jede Verhandlung wäre eine Beleidigung!'. Aber was ist klüger - finanziell, moralisch und rational betrachtet? Sollen Sie dem Rüpel auf die Finger klopfen oder mit ihm verhandeln?

Dieser Konflikt zwischen moralischen und pragmatischen Positionen steht im Mittelpunkt aller realen Zwickmühlen, die ich in diesem Buch vorstelle. Ich hoffe, der hier vorgestellte Rahmen bietet Ihnen eine sinnvolle Orientierung, wenn Sie vor der Entscheidung stehen, ob Sie mit dem Teufel verhandeln oder nicht.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung8
TEIL 1 Die Herausforderung18
1 Vorsicht, Falle!18
2 Verhandeln oder nicht?31
3 Wenn die Moral ins Spiel kommt44
TEIL 2 Globale Teufel62
4 Rudolf Kasztner: Handel mit den Nazis62
5 Winston Churchill: Ihre größte Stunde96
6 Nelson Mandela: Apartheid in Südafrika122
TEIL 3 Teufel im Unternehmen158
7 Der Software-Krieg: IBM gegen Fujitsu158
8 Misstöne in der Sinfonie201
TEIL 4 Teufel in der Familie238
9 Eine teuflische Scheidung238
10 Bruderkriege262
Schluss: Was wir aus diesem Buchlernen können295
Dank305
Anmerkungen309
Register344

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