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E-Book

Verschollen in der Südsee

AutorDamaris Kofmehl
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783775172561
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Proviant: 29 Kokosnüsse. Für 3 Menschen und 51 Tage. Ausgemergelt kauern die drei Freunde in einem kleinen Motorboot, als sie am 24. November 2010 schließlich gefunden werden - 1300 Kilometer entfernt vom Startpunkt ihrer Reise. Auf ihrer Heimatinsel Tokelau hatte man sie bereits für tot erklärt. Ihre Rettung geht als Wunder weltweit durch die Medien (New York Times, GQ u.a.). Doch die Jungen, 14 und 15 Jahre alt, bringen ein dunkles Geheimnis mit an Land. Auf der Suche nach ihnen reist Damaris Kofmehl rund um den Globus, stößt aber auf eine Mauer des Schweigens. Doch ausgerechnet in der Straßengang-Szene Sydneys warten Antworten auf sie.

Damaris Kofmehl ist Bestsellerautorin und erzählt wahre Begebenheiten als True-Life-Thriller, Fantasy und Biografien. Ihre Buchrecherchen führten sie unter anderem nach Brasilien, Pakistan, Guatemala, Chile, Peru, Australien und in die USA. Sie lebte lange unter Straßenkindern in Brasilien und heute wieder in ihrem Heimatland, der Schweiz. www.damariskofmehl.ch

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Leseprobe

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ETUENI


August 2010, auf Atafu, Tokelau


Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen.

Etueni unterstrich das Zitat von Martin Luther King in seinem Schulbuch mit dem Lineal. Eigentlich schrieben die sieben Schüler im Klassenraum gerade einen langen Text über die Entstehung von Atollen von der Wandtafel ab. Doch der Vierzehnjährige war längst damit fertig und langweilte sich.

Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen, las der Vierzehnjährige erneut und versuchte zu verstehen, was damit gemeint war. Martin Luther King hatte ihn schon immer fasziniert, auch wenn sie im Geschichtsunterricht noch nie über ihn gesprochen hatten. In der Matauala-Schule auf Atafu wurden andere Prioritäten gesetzt. Die Schüler lernten Mathe, Englisch und die Geschichte Tokelaus. Sie lernten, dass im 19. Jahrhundert sowohl katholische als auch reformierte Missionare das Christentum auf die drei Atolle gebracht hatten. Deswegen war Nukunonu heute katholisch, Atafu reformiert und Fakaofo teils katholisch, teils reformiert. Sie lernten, wann die letzten großen Wirbelstürme über die Inseln gefegt waren und alles verwüstet hatten.

Doch von dem, was in der Zwischenzeit in der restlichen Welt geschehen war, hatten die Schüler auf Tokelau herzlich wenig Ahnung. Etueni war so ziemlich der Einzige, der sich für so etwas überhaupt interessierte (und wahrscheinlich auch der Einzige, der jemals den Abschnitt über Martin Luther King im Schulbuch gelesen hatte). Das lag wohl daran, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen nicht immer auf Atafu gelebt hatte. Er war in Neuseeland geboren, verbrachte seine frühe Kindheit auf Atafu, ging später auf Amerikanisch-Samoa zur Schule und kam erst 2008 als Zwölfjähriger wieder zurück auf die Insel. Etueni war mittelgroß und sehr schlank. Er war ein vorbildlicher Schüler und wollte später einmal Chirurg werden.

Eine eklig feuchte Papierkugel traf ihn im Nacken und riss ihn aus seiner Gedankenwelt. Reflexartig klatschte sich Etueni an den Hals und hörte hinter sich ein Kichern. Er drehte sich um. Seine Mitschüler Samu und Filo, die nebeneinander in der hinteren Bankreihe saßen, grinsten spitzbübisch.

»Lasst das!«, ermahnte sie Etueni.

»Was denn?«, fragte Filo mit Unschuldsmiene.

»Ja, was denn?«, sagte Samu und versteckte das Plastikröhrchen, mit dem er das matschige Papierkügelchen auf Etueni geschossen hatte, unter der Schulbank.

»Ruhe!«, mischte sich jetzt der Lehrer von der Tafel aus ein. Er trug Gummischlappen, Nike-Shorts, ein buntes Hawaiihemd und einen selbst gebastelten Hut aus Blättern, die mit grünen Halmen umwickelt waren.

»Filo, könntest du uns erklären, warum der Boden auf Tokelau nicht aus Erde, sondern zu 100 Prozent aus Korallen besteht?«

»Äh …« Filo kratzte sich an der Wange. Der Fünfzehnjährige war sehr groß für sein Alter und hatte einen athletischen Körper vom vielen Rugby-Spielen. Wie alle Tokelauer hatte er braune Haut und schwarzes, leicht gekraustes Haar. Sein Haar war kurz geschnitten mit Ausnahme eines einzelnen geflochtenen Zöpfchens, das ihm bis zur Schulter reichte. Wie alle anderen Schüler in dem Klassenraum trug er ein hellblaues Schuluniformhemd, einen knielangen Wickelrock aus dunkelblauem Baumwollstoff (einen sogenannten Lavalava) sowie Flipflops. Filos Beteiligung am Unterricht beschränkte sich hauptsächlich darauf, dass er zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin und besten Kumpel Samu Streiche ausheckte oder sich mit dem Kugelschreiber maorische Kunstwerke auf den Arm malte.

»Nun?«, fragte der Lehrer und zog die Augenbrauen hoch. Er gab Filo eine letzte Chance, bevor er Etueni das Wort übergab, der kerzengerade auf seinem Platz saß und die Hand streckte.

»Unser Boden besteht aus Korallen, weil Atafu ein Atoll ist«, erklärte Etueni.

»Richtig. Und was genau ist ein Atoll?«

»Ein Korallenriff«, sagte Etueni. »Es entsteht, wenn sich um einen Vulkan ein Riff aus Korallen bildet. Wenn der Vulkan im Laufe von Jahrtausenden darunter absinkt, bleibt ein Ring aus vielen kleinen Inselchen, sogenannten Motus, zurück. In seiner Mitte, dort wo einst die Vulkanspitze aus dem Meer ragte, entsteht ein Kratersee. Das wäre dann unsere Lagune.«

»Korrekt«, lobte ihn der Lehrer.

»Streber«, murmelte Filo, worauf der Lehrer auf ihn zuschritt und ihm kurzerhand mit der flachen Hand einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzte.

»Irgendein Beitrag von allgemeinem Interesse, Filo?«

Filo rieb sich den Hinterkopf. »Ja«, sagte er. »Was nützt es eigentlich, zu wissen, woraus unser Boden besteht, wo wir sowieso eines Tages im Meer versinken werden?«

Ein Gemurmel ging durch die Klasse, und der Lehrer sah ihn etwas irritiert an.

»Ist doch so, oder?«, fuhr Filo fort und reckte mutig die Schultern. »Ich meine, ich versteh ja nicht viel von Klimaerwärmung und so. Aber der Meeresspiegel soll ja stetig ansteigen. Und wo unsere Atolle gerade mal ein paar Meter aus dem Wasser ragen, gibt das uns wohl höchstens noch ein paar Jahrzehnte. Vielleicht sollten wir uns Kiemen wachsen lassen.«

Er grinste, und Samu und er klatschten sich ab, eine Geste, die ihnen durchaus eine Ohrfeige hätte eintragen können. Doch der Lehrer mit seinem schicken Blätterhut war zu sehr damit beschäftigt, eine passende Antwort auf Filos Weltuntergangstheorie zu finden.

»Das ist blanker Unsinn«, sagte er. »Der Meeresspiegel steigt zwar pro Jahr um mehrere Millimeter an, aber deswegen besteht noch lange kein Grund zur Sorge. In der Bibel steht jedenfalls nichts von einer neuen Flut. Tokelau wird ganz bestimmt nicht untergehen.«

»Darauf würd ich nicht wetten«, meinte Filo. »Ich vertraue niemandem. Genau wie Tupac. Yeah!« Er bewegte seine Hände mit gespreizten Fingern und zusammengelegten Mittel- und Ringfingern von oben nach unten durch die Luft, wie Rapper es zu tun pflegen, und nickte lässig in die Runde. Alle sahen ihn mit großen Augen an, in stiller Ehrfurcht vor seinem Mut zur Provokation.

Filo war das pure Gegenteil eines Musterschülers. Er war ein Rebell, einer, der nichts als Flausen im Kopf hatte. Das war auch der Grund, warum der Fünfzehnjährige überhaupt auf Atafu war. Bis vor drei Jahren hatte er bei seiner Mutter in Sydney, Australien, gelebt, genauer gesagt in Mount Druitt, einem der ärmsten Vororte Sydneys. Doch als seine Noten immer schlechter wurden und er sich vermehrt auf der Straße herumtrieb, schickte seine Mutter ihn zu seinem von ihr getrennt lebenden Vater nach Tokelau. Er war sozusagen strafversetzt. Sie hoffte, das einfache Inselleben unter Kokospalmen würde ihm guttun und ihn wieder auf den rechten Pfad zurückbringen. Aber der Plan ging nicht auf. Filo brachte seine Aufmüpfigkeit einfach mit ins Paradies und steckte schon bald seinen Cousin Samu damit an.

Samu und Filo hätten unterschiedlicher nicht sein können. Filo wurde oft als Palagi, als Ausländer, und von seinen Schulkameraden als »Möchtegern-Gangster« bezeichnet. Samu – sein richtiger Name war Samuel, aber alle nannten ihn Samu – war das absolute Gegenteil davon: Er hatte Tokelau noch nie in seinem Leben verlassen und wusste nichts von der Welt außerhalb des ein paar Hundert Meter langen Korallenriffs, das sein Zuhause war. Bis zu Filos Ankunft war er eigentlich ein ganz anständiger Junge gewesen. Er lebte bei seinem Onkel Mele. Seine Familie war vor ein paar Jahren nach Sydney gezogen, doch Samu war auf Atafu geblieben, um sich um die Großmutter zu kümmern, die im selben Haus wie Onkel Mele wohnte. Es war tokelauische Tradition, dass jeweils ein Kind für die ältesten Familienmitglieder zuständig war. Und Samu übernahm diese Aufgabe gern.

Er war stämmig und hatte kräftige Arme und schwielige Hände vom vielen Fischen. Der Fünfzehnjährige war ein gemütlicher Bursche und redete nicht viel. Er benutzte oft seine Augenbrauen zum Sprechen. Hochgezogene Augenbrauen konnten eine ganze Menge bedeuten: Erstaunen, Zweifel, Zustimmung oder Misstrauen. Mit einem einzigen Zucken seiner Augenbrauen hatte er sich sein erstes Mädchen geangelt. Ihr Name war Koro, und die beiden waren seit einem Monat zusammen. Samu war ein leidenschaftlicher Fischer und ein ebenso leidenschaftlicher Rugby-Spieler. Er träumte davon, professioneller Rugby-Spieler zu werden. Das war auch Filos Traum, und deswegen verstanden sich die beiden Fünfzehnjährigen – obwohl Welten zwischen ihnen lagen – auf Anhieb prächtig.

Insgeheim bewunderte Etueni Filo und Samu. Sie waren cool, sportlich, begehrt bei den Mädchen und scherten sich nicht um irgendwelche Vorschriften. Nicht dass ihr schlechtes Benehmen keine Konsequenzen gehabt hätte. Sie waren deswegen auf der ganzen Insel unbeliebt und steckten dafür reichlich Prügel ein. Aber sie trauten sich wirklich was. Und manchmal wünschte sich Etueni, er hätte genauso viele Muskeln und genauso viel Courage wie sie. Vielleicht würden ihn dann nicht mehr alle als einen Streber bezeichnen.

Am Nachmittag nach der Schule fand ein Dorfausflug zu den Motus statt. Die Motus, die gut 40 flachen Inselchen um die Lagune herum, waren gerecht unter den Dorfbewohnern aufgeteilt. Immer freitags fuhren alle auf ihre Inseln zum Picknicken und Kokosnussernten. Da es eine gemeinschaftliche Aktivität war, funktionierte die soziale Kontrolle gut, und es war gewährleistet, dass keiner dem...

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