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E-Book

Verschwörung in Sarajevo

Triumph und Tod des Attentäters Gavrilo Princip

AutorGregor Mayer
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783701744633
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Sarajevo, 28. Juni 1914: Der serbische Gymnasiast Gavrilo Princip erschießt den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin. Das Attentat dient der Habsburgermonarchie als Anlass, um Serbien anzugreifen - und führt damit geradewegs in den Ersten Weltkrieg. Was trieb den Todesschützen von Sarajevo an, was radikalisierte ihn und ließ ihn zum Attentäter werden? Im Mittelpunkt stehen Phänomene mit verblüffendem Aktualitätsgehalt: Okkupation, gescheiterte Staaten, Terrorismus. Gregor Mayer zieht Parallelen zwischen der damaligen weltpolitischen Unübersichtlichkeit - ihren dramatischen Umbrüchen und Modernisierungsängsten - und der heutigen Zeit.

Gregor Mayer geboren 1960, studierte Philosophie und Mathematik in Graz und Wien. Seit Anfang der 1990er-Jahre berichtet er für 'profil', 'Der Standard' und die Deutsche Presse-Agentur (dpa) aus den Ländern Mittel- und Südosteuropas. In zahlreichen Reportagen beschrieb er die Kriege in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Von 2003 bis 2005 leitete er das dpa-Büro in Bagdad. Seit 2005 ist er dpa-Sonderkorrespondent u.a. für den Nahen Osten. Er übersetzte Werke des ungarischen Schriftstellers István Eörsi (1931-2005) ins Deutsche, darunter den Essay-Roman 'Hiob und Heine. Passagiere im Niemandsland' (Klagenfurt 1999). Er lebt in Belgrad und Budapest.

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Leseprobe

Erstes Kapitel


THERESIENSTADT – IM VORHOF DES TODES


Ein ungewöhnlicher Besuch


Mit einem rostigen Quietschen fiel die Zellentür hinter Dr. Martin Pappenheim ins Schloss. In der Dunkelheit des Kasemattenlochs konnten seine Augen nichts wahrnehmen. »Princip, Besuch für dich!«, hallte das gebrüllte Kommando des Aufsehers in seinen Ohren nach. Durch die vergitterte Luke oberhalb der Zellentür drang kaum etwas von dem gedämpften Licht aus dem Gefängnisgang. Pappenheims Augen folgten dem schwachen Schein, hinein ins Halbdunkel des Zelleninneren. Eine fast körperlose, in sich gekrümmte Gestalt richtete sich unter anhaltendem Husten auf der Holzpritsche auf, die ihr als Liegestatt diente – es war Gavrilo Princip, den der Besucher in diesem elenden Zustand antraf.

»Gestatten Sie, ich bin Dr. Martin Pappenheim, Privatdozent für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien«, sprach der Besucher den überraschten Häftling mit dem leicht nasalen Ton des österreichischen Akademikers an. Pappenheim stand leicht gebeugt da, und selbst in diesem Halbdunkel blieb Princip die feine Physiognomie des unverhofften Besuchers nicht verborgen. »Herr Princip, ich habe die Erlaubnis, mit Ihnen zu sprechen«, fuhr Pappenheim fort. »Über Sie, über Ihr Leben, über Ihre Motive für das Attentat.« Der Gefangene hatte seit seiner Überführung nach Theresienstadt mehr als ein Jahr lang in strikter Isolationshaft gelebt und war deshalb dem Sprechen entwöhnt. Er rang um Worte, die ihm – noch dazu in der für ihn fremden deutschen Sprache – schwer über die Lippen kamen. »Sie, Sie, Sie m-m-m-mechten m-m-m-mich aus-aushorchen!«, entgegnete er.

»Nein, ganz und gar nicht, Herr Princip. Mein Interesse ist ein zutiefst privates. Ich sichere Ihnen umfassende Diskretion zu.« – »W-w-was für ein Interesse?« – »Das wissenschaftliche Interesse. Wir jüngeren Nervenärzte betrachten die psychischen Phänomene nicht mehr isoliert. Uns interessieren die Bedingtheiten durch soziale Milieus, und wir fragen uns, wie wir mit unserem Wissen zur Befreiung der Menschheit von überkommenen Vorstellungen, Gewohnheiten und Traditionen beitragen können. Ich verschweige Ihnen auch nicht, dass die Beweggründe, die Sie zu Ihrer Tat geführt haben, wennzwar sie auch nicht meine Zustimmung finden mögen, so doch einer tiefergehenden Untersuchung wert sind.« Dr. Pappenheim erhitzte sich in dem Redeschwall, sodass sich seine große runde Brille in der eiskalten Zellenluft beschlug und er erneut nichts mehr sah. Sein blasses Gesicht mit den durchgeistigten Zügen verfehlte aber seine Wirkung auf Princip nicht. Noch mehr begann diesen die Aussicht zu verlocken, endlich wieder einmal mit jemandem richtig sprechen zu können. »D-d-der Pro-Profoss bleibt?«, fragte er, seinen gebrochenen Blick auf den Gefangenenaufseher richtend, der sich hinter Pappenheim an die Zellentür drückte. »Das Reglement können wir leider nicht ganz außer Acht lassen«, antwortete Pappenheim und rieb sich die in der Eiseskälte klamm gewordenen Hände.

Wir schreiben den 19. Februar 1916. Der Erste Weltkrieg tobt in seinem zweiten Jahr. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, liegt fast 19 Monate zurück. Der Attentäter, der bosnische Serbe, österreichische Staatsbürger, südslawische Freiheitskämpfer und Terrorist Gavrilo Princip, schmachtet seit 420 Tagen in den Kasematten der Kleinen Festung von Theresienstadt, 417 davon angekettet. Der bald 22-jährige Gefangene ist todkrank. Die barbarischen Haftbedingungen – Unterernährung, Kälte und Feuchtigkeit – haben die Knochentuberkulose, die er sich während eines entbehrungsreichen Studentenlebens in Sarajevo und Belgrad eingehandelt hatte, zum vollen Ausbruch gebracht. Princips Körper ist bis auf die Knochen abgemagert und mit handtellergroßen Geschwüren bedeckt. Den linken Ellbogen hat die Knochen-TBC zerfressen. Der Gefangene kann den betroffenen Arm kaum mehr bewegen. Seine Ärzte warten auf die Genehmigung aus Wien, um ihn zu amputieren.

Dr. Martin Pappenheim ist zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt. Als kriegsverpflichteter Arzt ist er dem Garnisonsspital in Theresienstadt dienstzugeteilt. Dem Sarajevo-Attentäter steht der aufstrebende Neurologe und Psychiater aus der berühmten Wiener Schule und Anhänger linkssozialistischer Ideen zum ersten Mal gegenüber. Die Genehmigung für dieses Gespräch hat er bei der Gefängniskommandantur erwirkt.

Den Mediziner treiben dieselben Fragen um, die sich immer wieder, auch 100 Jahre nach dem folgenschweren Anschlag auf das Leben des Thronfolgerpaares, stellen lassen: Was bringt einen knapp 20-jährigen Mittelschüler – und seine noch jüngeren Mittäter und -verschwörer – dazu, einen politischen Mord zu begehen und dabei auch den eigenen Tod einzukalkulieren? Fanatismus, Freiheitsliebe, Hass auf eine fremde Besatzungsmacht? Spielten psychische Dispositionen wie Minderwertigkeitskomplexe, Vaterhass oder sexuelle Frustrationen eine Rolle? Die Attentäter und ihre Helfer wollten die österreichisch-ungarische Monarchie zerstören, weil diese die südslawischen Völkerschaften in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Dalmatien und Slowenien daran hinderte, sich mit Serbien zu einem südslawischen Staatsverband zu vereinigen. Opferten sie sich für ein legitimes Unabhängigkeitsstreben auf oder handelten sie doch nur als blindwütige Terroristen? Waren sie von hehren Idealen beseelte Helden oder eher nur naive, ferngesteuerte Marionetten des Königreichs Serbien, dessen Eliten im Verdacht standen, unter dem Vorwand der südslawischen Vereinigung eine serbische Hegemonie auf dem Balkan errichten zu wollen?

Die Tat der Mittelschüler aus Sarajevo bildete jedenfalls den willkommenen Anlass für einen schon seit Langem erwogenen Straf- und Vernichtungsfeldzug Österreich-Ungarns gegen das viel kleinere Serbien. Die Kriegserklärung an Belgrad vom 28. Juli 1914 löste wiederum eine Kettenreaktion von bündnisbedingten militärischen Beistandshandlungen aus, die geradewegs in den Großen Krieg führten. Die Attentäter und ihre Helfer waren verhaftet worden; im Oktober 1914 wurden sie von einem österreichischen Gericht in Sarajevo verurteilt. Bis auf eine Ausnahme: den herzegowinisch-muslimischen Revolutionär Muhamed Mehmedbašić, der nach Montenegro und dann Serbien zu fliehen vermochte. Im Februar 1916, zum Zeitpunkt des Besuches Dr. Pappenheims, war nicht nur Princip in Theresienstadt eingekerkert, sondern auch sein Freund und Mitverschwörer Trifko Grabež und die wegen Mitwisserschaft verurteilten Schüler Ivo Kranjčević, Cvijan Stepanović und Lazar Djukić. Nedeljko Čabrinović, ein junger Druckereiarbeiter, war drei Wochen zuvor den Entbehrungen der Theresienstädter Kerkerhaft erlegen. Er hatte kurz vor den Schüssen Princips eine Bombe geworfen, die den Thronfolger knapp verfehlt hatte.

»Seit wann sind Sie hier?«, beginnt Pappenheim das Gespräch, das er auf einem Schreibblock mitstenografiert. »Hierher am 5. Dezember 1914.« – »Immer in Einzelhaft?« – »Ja, immer. Nicht Besuch, nicht Brief, nicht Paket. Immer an Kette. Erst vor drei Tag Kette weg.« Princip hat im Gymnasium leidlich gut Deutsch gelernt, doch ist er in der fremden Sprache ungeübt, zumal sie ihm hier meist nur in den bellenden Kommandos seiner Kerkerschergen begegnet. »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater«, sagt Pappenheim. Ein heiserer Hustenanfall, mehr einem Röcheln gleich, schüttelt Princips ausgezehrten Körper. »Mein Vater ist einfach’ Bauer. Beschäftigt sich mit Unternehmungen, nebenbei. Ist ein ruhig’ Mensch, trinkt nicht Alkohol, interessiert nicht fir Politik.« Pappenheim fragt weiter nach den familiären Verhältnissen. »Vater hat vierundfunfzig Jahre, Mutter hat funfundvierzig. Hab’ noch zwei Bruder, ganz gewohnlich’ Menschen, einer ist Kaufmann. Aber waren noch sechs Gschwistern, die alle gestorben, bevor zehn geworden. Bei uns Armut groß in Grahovo, große Armut. So ich war viertes Kind.« Routinemäßig interessiert sich Pappenheim für Kinderkrankheiten und medizinische Auffälligkeiten in der Jugend. Scharlach, kein Bettnässen, Schlafwandeln, aber nur während eines Jahres in der Gymnasialzeit, keine Anfälle von Bewusstlosigkeit. »Wann wurden Sie politisch?« – »Ich wurde erweckt, in 3. Klasse von Gimnasium.«

Das war im Jahr 1910. Kaiser Franz Joseph hatte im Februar ein Landesstatut für die 1878 von Österreich-Ungarn besetzten und seit 1908 annektierten Provinzen Bosnien und Herzegowina erlassen. Ein neu geschaffener Landtag mit begrenzten Kompetenzen diente als politisches Feigenblatt für das herrschende österreichische Militärregime. Am 15. Juni 1910 wurde dieses Scheinparlament vom Landeschef, General Marijan Varešanin, eröffnet. Als der österreichische Statthalter an diesem Tag den Landtag verließ, trat der revolutionäre...

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