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E-Book

Verstehen Sie das, Herr Schmidt?

AutorGiovanni di Lorenzo, Helmut Schmidt
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783462306293
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Neues vom Altkanzler, starker Tobak inklusive Mit ihrem Interview-Band »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« haben sie Millionen Leser begeistert, nun legen Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt ihre neuen Gespräche vor. Unter dem Titel »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?« hat der Chefredakteur den Herausgeber der ZEIT mehr als zwanzig Mal zum Zeitgeschehen befragt, seit September 2009 sind die Interviews in loser Folge im ZEITmagazin erschienen.Dass der Altkanzler für seine Analysen diesmal nicht bloß eine, sondern mehrere Zigarettenlängen braucht, hat den berühmten Schmidt-Sound nur noch verstärkt. Kein Wunder also, dass Giovanni di Lorenzo des Öfteren die »Nehmerqualitäten des wackeren Fragestellers« (Tagesspiegel) unter Beweis stellen muss.In den neuen Gesprächen geht es unter anderem um die Bilanz der schwarz-gelben Koalition und die Lage der SPD, um den Atomausstieg, die Wutbürger und die Piratenpartei, um die Tötung Osama bin Ladens und die Schuldenkrise in Europa. Immer wieder spricht Schmidt auch über ganz private Erinnerungen und liefert überraschende Einschätzungen - zum Beispiel über »diese Jungs, die da in Manhattan die Investmenthäuser belagern«.

Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und ist seit 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Schmidt ist bis heute im In- und Ausland als elder statesman und Publizist hochgeachtet, seine politischen Urteile und historischen Erfahrungen gewichtig und gefragt. Helmut Schmidt starb im Alter von 96 Jahren am 10. November 2015.

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Leseprobe

»Man muss etwas riskieren«


Über den Bundestagswahlkampf 2009

September 2009. Die Bundestagswahl steht unmittelbar bevor. Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, eben noch Partner in der Großen Koalition, kämpfen nun gegeneinander um Stimmen. Von politischer Leidenschaft oder gar Aufbruchstimmung ist in Deutschland allerdings nur wenig zu spüren. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, obwohl das Thema die Öffentlichkeit sehr bewegt.

 

Herr Schmidt, alle Welt beklagt sich, dass dieser Wahlkampf so langweilig sei. Und dann wird voller Sehnsucht an die Schlachten der alten Kämpen erinnert, als zum Beispiel Helmut Schmidt noch Franz Josef Strauß abwehren musste. Wie empfinden Sie denn den Wahlkampf?

Zunächst einmal stimmt es, dass dieser Wahlkampf relativ langweilig ist. Wenn in der Kritik aber die Vorstellung mitschwingt, zu einem ordentlichen Wahlkampf gehörten Verbalinjurien, dann kann ich das nicht teilen. Was ich an diesem Wahlkampf auszusetzen habe, ist der Umstand, dass Themen, die die Menschen sehr berühren, nicht wirklich behandelt werden.

 

Welche Themen sind das?

An erster Stelle unser militärisches Engagement in Afghanistan. Zweitens die Frage, wie wir die finanzielle Stabilität unseres Sozialstaats aufrechterhalten können. Und drittens, wie wir mit dem großen Schuldenberg fertigwerden, der nicht nur den Sozialstaat bedroht, sondern auch die politische Handlungsfähigkeit kommender Generationen.

 

Fangen wir mit Afghanistan an. Auf Ihrem Schreibtisch liegt die Regierungserklärung der Kanzlerin. Sie hat den Einsatz erneut gerechtfertigt und Bündnistreue geschworen.

Viel anderes als das, was in ihrer Erklärung steht, hätte sie nicht sagen können. Eine ganz andere Frage ist, ob es nicht schon lange vor dem Wahlkampf tief greifende wiederholte Debatten im Parlament hätte geben müssen. Viele militärische Fachleute haben diese Operation von Anfang an mit großen Zweifeln begleitet. Meistens ganz leise, um nicht als Heckenschützen dargestellt werden zu können, aber doch mit Substanz. So zum Beispiel mein Freund Volker Rühe. Und ich selbst habe vor etwas mehr als einem Jahr versucht, Frau Merkel, ihrem Kollegen Jung und dem Generalinspekteur der Bundeswehr meine Vorstellungen in einem längeren Gespräch nahezubringen. Auch sehr leise, wir sind damit nicht in eine Zeitung gegangen.

 

Was war denn Ihre Empfehlung?

Es lief darauf hinaus, sich darüber klar zu werden, was der Westen kann und was er will – und darüber, ob beides zur Deckung gebracht werden kann. Mit den bisherigen Operationen, die nun schon seit fast einem Jahrzehnt laufen, ist das immer unschärfer gewordene Ziel offenbar nicht erreichbar.

 

In Afghanistan geht es darum, so heißt es, eine stabile Demokratie aufzubauen, die Taliban zu entmachten und der zum Teil übel unterdrückten Bevölkerung, besonders den Frauen, zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen.

Das sind Ziele, die nachträglich in den Vordergrund gestellt worden sind. In erster Linie ging es darum, al-Qaida die Grundlage zu entziehen. Das war das allererste und wichtigste Ziel des UN-Beschlusses – und das hat man nicht erreicht. Zwar ist in Afghanistan nichts mehr von al-Qaida zu sehen, dafür aber im Westen Pakistans, nur ein Haus weiter. Man hätte vorher wissen können, dass man dieses Ziel mit den Mitteln, die man zur Verfügung hatte, nicht erreichen kann.

 

Hätte man noch mehr Soldaten hinschicken müssen?

Richtig. Die Sowjets hatten etwas weniger als 150000 Soldaten in Afghanistan – und mussten nach knapp zehn Jahren mit eingezogenem Schwanz wieder rausgehen. Wenn man in Afghanistan militärische, politische und soziale Stabilität herstellen will, dann reichen selbst 200000 Soldaten offenbar nicht aus.

 

Aber wo ist dann der Ausweg? Sollen die Truppen aufgestockt werden, oder ist der Einsatz sinnlos geworden?

Ich möchte erst mal wissen, was der Westen will. Denn das Ziel ist unklar geworden, das kann man auch der Regierungserklärung von Frau Merkel entnehmen; denn sie schlägt für den Herbst dieses Jahres eine UN-Konferenz vor, um Klärung herbeizuführen. Ich habe den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan von Anfang an mit Skepsis begleitet. Ich habe jedoch größten Respekt vor den jungen Männern und Frauen, die dort ihr Leben riskieren. Ich möchte nicht dazu beitragen, dass ihre Bereitschaft, das zu tun, was ihre Regierung angeordnet hat, beeinträchtigt wird.

 

Aber wie soll denn über Afghanistan diskutiert werden, wenn nicht einmal Sie eine Antwort haben?

Immerhin habe ich ein paar Elemente genannt, und ich bleibe dabei: Der Komplex von Fragen hätte im Parlament längst tief greifend diskutiert und dann im Wahlkampf zugespitzt werden müssen. Das kann man nicht von heute auf morgen mit Schlagworten nachholen.

 

Helmut Kohl, Ihr Nachfolger als Bundeskanzler, hat einmal zu mir gesagt: Wenn man selbst den Krieg erlebt hat, so wie er und Sie, dann schickt man keine Soldaten mehr in den Krieg.

Jedenfalls hat man ganz große Bedenken, wenn man weiß, was für eine schreckliche Scheiße ein Krieg ist. Da gebe ich Helmut Kohl recht.

 

Wenn man Politikern ihre Abneigung vorwirft, sich im Wahlkampf auf etwas festzulegen, dann sagen sie: Wir haben aus der letzten Wahl gelernt; die Wähler bekommen den Wahlkampf, den sie wollen; je mehr wir sagen, desto weniger Stimmen gewinnen wir.

Ich halte das für bedenkenswert, aber nicht für akzeptabel. Ich selber habe da meine Erfahrungen mit dem berühmt-berüchtigten Nato-Doppelbeschluss gemacht. Es war offensichtlich, dass mir weder meine Partei noch eine Mehrheit der öffentlichen Meinung folgen wollte. Gleichwohl habe ich gesagt: Das ist notwendig im Interesse des deutschen Volkes, und deshalb machen wir das.

 

Es hat Sie die eigene Regierung gekostet!

Das muss man riskieren. Ein Politiker, der das nicht riskieren will, taugt nichts für die demokratische Regierung.

 

Die SPD liegt derzeit in Umfragen bei etwa 25 Prozent. Würden Sie sagen, dass sie jetzt den Preis dafür bezahlt, dass sie die Agenda 2010 umgesetzt hat?

Würde ich nicht sagen, nein.

 

Warum nicht?

Jetzt wollen Sie mich in die Lage bringen, meine eigene Partei zu kritisieren.

 

Ich frage nur, ob es in Ihren Augen nicht ungerecht ist, dass die SPD zwar das Richtige für das Land getan hat, aber dafür bis heute büßen muss.

Würde ich nicht unterschreiben.

 

Sie meinen, es gibt andere Gründe für die schlechten Umfragewerte als die Agenda 2010?

Die Agenda 2010 spielt durchaus eine Rolle. Aber sie ist nicht der ausschlaggebende Grund.

 

Ist es nicht furchtbar, mitanzusehen, wie die stolze, große SPD plötzlich so klein wird?

Ich möchte mich dazu nicht äußern.

 

Was müsste eine Kanzlerin oder ein Herausforderer den Menschen jetzt im Wahlkampf sagen?

Jetzt ist es zu spät. Wir haben tief im September, an dieser Art von Wahlkampf ist nichts mehr zu ändern. Man hätte von beiden Regierungsparteien verlangen können, dass sie klar und deutlich verteidigen, was sie in den letzten vier Jahren gemeinsam getan haben. Aber das geschieht kaum.

 

Warum eigentlich nicht?

Aus Feigheit vor Meinungsumfragen.

 

Was hat denn diese Regierung gut gemacht?

Eine ganze Menge. Ich würde umgekehrt fragen: Was hat sie denn eigentlich falsch gemacht?

 

Man könnte ihren Versuch nennen, Opel zu retten. Oder die Abwrackprämie und die Gesundheitsreform.

Opel: einverstanden. Abwrackprämie: einverstanden. Gesundheitsreform: nicht einverstanden – aber das kann ich nicht ausreichend beurteilen. Abwrackprämie und Opel sind jedoch bereits Beiträge zum Wahlkampf gewesen.

 

War die Rettungsaktion nach Ausbruch der Krise gut?

Es wird Sie wundern, was für ein Wort ich jetzt benutze: Die ökonomische Rettungsaktion nach dem Bankenkrach in New York, der die Welt mit der Gefahr einer Weltdepression konfrontiert hatte, durch das Team Merkel und Steinbrück war hervorragend. Diese beiden Personen haben ihre Sache so erstklassig und glaubwürdig gemacht, dass die Deutschen erstmals nicht mit ansteckender Angst reagiert haben. Es ist ein Fehler der Journalisten, das nicht zu konstatieren.

 

Aber wie können sie mit der Schuldenlast fertigwerden?

Das ist ein wichtiges Thema, besonders weil eine der beiden Volksparteien allen Ernstes davon redet, in der nächsten Legislaturperiode die Steuern senken zu wollen. Das ist Unfug – und sollte der Opposition eigentlich eine Menge Munition liefern.

 

Die andere Regierungspartei behauptet, sie wolle die Reichen stärker besteuern. Ist das nicht auch Unfug?

Kommt darauf an, was wirklich im Detail gemeint ist. Unter Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt wurden die Reichen in Deutschland stärker besteuert als heute. Und damit sind wir sehr gut gefahren. Es ist also kein Unfug, die Wohlhabenden stärker zu besteuern. Wenn man es aber so macht, dass sie ihr Vermögen mit...

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