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E-Book

Voll aggro!

Warum Kinder immer aggressiver werden und was wir dagegen tun können

AutorMona Oellers
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492966801
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Mona Oellers, die seit vielen Jahren täglich mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, ist alarmiert: Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist brutaler geworden. Sowohl im Umgang untereinander als auch gegenüber Erwachsenen. Hierbei geht es nicht um extreme Einzeltaten, sondern um das, was sich täglich in Kindergärten, Schulen und im Internet abspielt. Eltern und Pädagogen stehen Übergriffen häufig hilflos gegenüber. Auch Mobbing nimmt im Schulalltag und im Netz zu und die betroffenen Opfer bleiben oft viel zu lange mit ihrem Problem allein. Mona Oellers erklärt die Gründe für diese Entwicklung und zeigt anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie Erwachsene durch das eigene Verhalten Situationen deeskalieren und wie sie erkennen können, ob ein Kind Opfer von Attacken oder Mobbing ist - und damit dem Trend der Verrohung etwas entgegensetzen!

Mona Oellers, geboren 1977, leitete als Heim- und Jugenderzieherin sechs Jahre lang ein Kinder- und Jugendfreizeitzentrum. Parallel dazu ließ sie sich zur Anti-Aggressivitäts-Trainerin ausbilden. Seit 2001 arbeitet sie selbstständig als Anti-Aggressivitäts-Trainerin® und cooldown®-Trainerin. Seit 2004 ist sie außerdem freie Referentin und Coach sowohl im pädagogischen Bereich wie auch in der Zusammenarbeit mit diversen Firmen. Seit 2013 hat sie einen Lehrauftrag an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Mona Oellers lebt mit ihrer Tochter in Aachen.

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Leseprobe
Vorwort   Zum Thema Gewalt bin ich rein zufällig gekommen. Das war vor etwa 15 Jahren. Damals arbeitete ich in einem Freizeitzentrum für Kinder- und Jugendliche. Ich war Berufseinsteigerin und meistens die einzige Erwachsene dort, entsprechend oft kam ich an meine Grenzen. Dann bekam ich die Gelegenheit eine Ausbildung zur Anti-Aggressivitäts-Trainerin zu besuchen. »Prima, da gehe ich hin«, dachte ich. »Aggressionen kenne ich. Es kann schon mal vorkommen, dass ich bei der Arbeit wütend werde, zum Beispiel wenn ein Jugendlicher, der ein Hausverbot hat, sich weigert, wieder zu gehen.« In dem Kurs merkte ich dann aber, dass ich das missverstanden hatte. Es ging in erster Linie gar nicht um meine Aggression, sondern um die der Personen, mit denen ich arbeitete. Ich wurde hier dazu ausgebildet, Menschen mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren und zu einem sozial verträglichen Umgang miteinander zu verhelfen. Das war für meine Arbeit noch viel besser. Je mehr ich mich mit dem Thema Aggression und alternativen Verhaltensweisen zur Gewalt befasste, desto begeisterter war ich. Plötzlich hatte ich viel mehr Möglichkeiten, den Jugendlichen und Kindern bei Grenzverletzungen zu begegnen. Das war großartig! Ich suchte immer neue Herausforderungen, arbeitete mit jugendlichen Gewalttätern und trainierte ihre Bewährungshelfer. Ich war voller Enthusiasmus und hoffte, diese Menschen dazu bringen zu können, ihre Taten zu bereuen und in Zukunft ein straffreies Leben zu führen. Aber das gelang mir natürlich nicht immer. »Aha«, dachte ich, »man muss also früher ansetzen. Ein Training dieser Art ist effektiver, wenn jemand noch keine längere kriminelle Karriere hinter sich hat.« Daraufhin entwickelte ich cooldown, ein Konzept, in dem ich Elemente des Anti-Gewalt-Trainings mit Ritualen und Symbolen kombiniere, die den Transfer in den Alltag erleichtern. So begann ich mit Schulen zu arbeiten, mit Lehrern, Eltern und Schülern, die auf die eine oder andere Weise Probleme mit Aggression hatten, später auch mit Kindergartenkindern und Erziehern. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher sich auffällig verhielt, ohne dass er bereits mehrfach straffällig geworden war, konnte ich noch viel bewegen. Ich zeigte also Kindern, die mit ihren Wutausbrüchen ihre Lehrer, Eltern und Erzieher zur Verzweiflung brachten, wie sie ihre Wut loswerden konnten, ohne sie unterdrücken zu müssen und vor allem, ohne dabei jemanden zu verletzen oder einzuschränken. Und ich zeigte Eltern, Pädagogen und Erziehern, wie sie ihrerseits mit diesen Kindern umgehen konnten. Bis heute mache ich diese Arbeit - und das sehr gerne. Aber seit ein paar Jahren bemerke ich eine Veränderung. Die Jugendlichen und auch die Kinder, mit denen ich arbeite, sind weniger kooperativ, sie brauchen immer länger, bis sie einsehen, was sie anderen antun, wenn sie bedrohen, erniedrigen und verletzen. Ich begann mich zu fragen, woran das liegt und, was man dagegen tun könnte. Als dann die Literaturagentin Marion Appelt auf mich zukam und mich bat, meine Einschätzung zum Thema »aggressive Jugendliche« aufzuschreiben, sagte ich ohne Zögern zu. So entstand dieses Buch. Die meisten Erziehenden, die zu mir kommen, berichten von einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Oft haben sie das Gefühl, von ihren Schützlingen schlichtweg ignoriert zu werden. Ein Vater sagt beispielsweise zu seiner Tochter: »Räum bitte dein Zimmer auf«, und das Kind sagt: »Nö!« Er bittet sie, sich zu waschen, sie behauptet: »Mach ich später«, und es geschieht - nichts. Er schickt sie am Abend ins Bett, aber sie bleibt stur vor dem Fernseher sitzen. Nach gefühlten zehn Aufforderungen verliert der Vater die Geduld, schreit seine Tochter an und erteilt ihr Fernsehverbot für die nächsten drei Wochen. Am nächsten Abend sitzt das Mädchen wieder vor der Glotze und der Vater ist verzweifelt. Noch schlimmer ist es, wenn andere Personen Zeugen dieser Ohnmacht werden, zum Beispiel in der Schule. Eine Lehrerin bittet während des Unterrichts einen Schüler, der aufgestanden ist, sich wieder hinzusetzen. Der sagt: »Ich muss mal zur Toilette, das können Sie mir nicht verbieten.« Alle sehen die Lehrerin an und warten, was sie tun wird. Die Frau hat das Gefühl, dass sie sich jetzt unbedingt durchsetzen muss, weil sie sonst ihre Autorität verliert. Sie redet auf den Schüler ein und droht ihm schließlich, ihn zum Direktor zu schicken - ohne Erfolg, der Junge verlässt den Klassenraum. Früher hätte es vielleicht den einen oder anderen Pädagogen gegeben, der den Schüler in einer solchen Situation beherzt am Arm gepackt und eigenhändig auf seinen Platz gesetzt hätte. Heute kann ich nur jedem Lehrer davon abraten das zu tun, denn es kann gut sein, dass solch eine Aktion eine Anzeige wegen Körperverletzung nach sich zieht. Abgesehen davon kann das körperliche Eingreifen eines Erziehenden seine Ohnmacht noch verstärken, wenn der Schüler grundsätzlich keinen Respekt vor ihm hat. Und den Respekt vermisse ich inzwischen bei immer mehr Kindern und Jugendlichen. Gegenüber den Erwachsenen und untereinander. Sie beschimpfen einander als wären sie Straßengangster, klauen und beschädigen Dinge, quälen und diskriminieren sich gegenseitig. Die Hemmschwelle zu verbalen und psychischen Übergriffen ist erschreckend niedrig und sie sinkt weiter. Wenn ich mit diesen Kindern arbeite, merke ich häufig, dass sie gar kein Unrechtsbewusstsein haben. Den Satz »Wieso, das machen doch alle«, höre ich unglaublich oft. Diese Kinder können gar nicht nachvollziehen, weshalb sie nicht schlagen, erniedrigen und quälen sollen. Sie wissen zwar, dass die Erwachsenen das nicht gut finden, aber sie haben oft kein Unrechtsbewusstsein. Sie verfahren nach dem Spaßprinzip. Solange sie niemand stoppt, tun sie einfach, was ihnen gefällt, ohne Rücksicht auf die anderen. Und sehr oft werden sie nicht gestoppt. Viele Erziehende haben aus dem oben beschriebenen Ohnmachtsgefühl heraus bereits das Handtuch geworfen. Sie haben kein Vertrauen in die eigene Erziehungsmethode und zweifeln an sich und den Kindern. Sie reagieren halbherzig oder gar nicht auf die Respektlosigkeiten der Kinder. Dabei brauchen diese dringend klare Grenzen. Mit diesem Buch möchte ich sensibilisieren und wachsam machen, und ich möchte Möglichkeiten zeigen, wie man diese Entwicklung ins Positive umdrehen kann. Es ist gar nicht so schwer, dem aggressiven Verhalten von Kindern und Jugendlichen etwas entgegenzusetzen und ihnen Respekt und Mitgefühl zu vermitteln. Alles was man braucht ist Zeit, Mut und ein wenig Vertrauen in sich selbst. Dabei möchte ich jeden ansprechen, der irgendwie mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt ist, damit meine ich nicht nur Eltern, Pädagogen und Erzieher, sondern auch Menschen, die einem Kind beispielsweise nur zufällig in der Bahn gegenübersitzen.   Eine besondere Botschaft möchte ich hier trotzdem an alle Erzieher und Pädagogen richten, die dieses Buch in die Hand nehmen: Falls Sie das Gefühl bekommen sollten, ich würde auf Ihrer Berufsgruppe herumhacken, dann möchte ich Sie ganz herzlich um Verzeihung bitten und Ihnen versichern, dass das keineswegs meine Absicht ist. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen: Ich werde ja nie zu den Fällen gerufen, in denen es gut läuft. Wenn ich gerufen werde, brennt die Hütte. Meistens geht es dann mindestens einem Menschen schon sehr schlecht. Und von diesen Fällen handelt dieses Buch. Nichtsdestoweniger lerne ich regelmäßig in meinen Ausbildungsgruppen oder in Schulungen unzählige Pädagogen kennen und schätzen, die sich durch Engagement, Sensibilität und Flexibilität auszeichnen. Vielleicht darf ich auch einmal ein Buch über diese Pädagogen schreiben. Dann werde ich das mit Begeisterung tun. Ich habe eine Vorstellung davon, wie schwierig und zeitintensiv es inzwischen ist, in Ihren Berufen gute Arbeit zu leisten, und ich habe schon viele kennengelernt, die weit über ihre Grenzen hinausgegangen sind, und dies oftmals nicht zu ihrem Vorteil. Wenn ich hier meine Sicht auf die Dinge aufschreibe, möchte ich nicht behaupten, dass ich unbedingt recht habe. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn ich mich irren würde. Denn dann wäre die Lage dieser Gesellschaft viel weniger dramatisch, als ich annehme. Es geht mir auch nicht darum, negative Entwicklungen der Gesellschaft zu bejammern oder Kinder und Jugendliche zu verdammen. Natürlich sind längst nicht alle respektlos und ohne Mitgefühl. Ich arbeite sehr gerne mit Kindern und kenne viele, die sozial kompetent und sehr einfühlsam sind. Mein Anliegen ist es, diese Eigenschaften zu stärken und einer destruktiven Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Ich würde mich freuen, wenn Ihnen dieses Buch Mut macht, sich selbst zu vertrauen und zu Ihrem eigenen, persönlichen Umgang mit Kindern zu finden, einem Erziehungsstil, der zu Ihnen passt, unabhängig von erfolgversprechenden Trends. Vielleicht wird dieses Buch Sie auch zum Nachdenken über die Zeit und über die Welt, in der wir leben, anregen. Dazu lade ich Sie herzlich ein!   Mona Oellers Frühjahr 2014      Die spielen doch bloß - Gewalt, die von Kindern ausgeht   Von dir Schlampe, lass ich mir gar nichts sagen. Milan, 2. Klasse, zur Schuldirektorin   Neulich hatte ich an einer Grundschule zu tun. Ich war gerade dabei, das Auto abzuschließen, als ich ein metallisches Geräusch hörte und dann gleich noch eins. Irgendwo kicherte jemand, dann liefen ein Junge und ein Mädchen kreischend vor Vergnügen davon und verschwanden im Pausengetümmel des Schulhofs. Die Kinder hatten offenbar Steine gegen mein Auto geworfen. Einer hatte mein Auto an der Stoßstange erwischt, aber der andere Stein hatte eine kleine Macke im Lack zurückgelassen. Als ich die Pausenaufsicht darauf ansprach, nickte sie resigniert. »Ja, ich kann mir schon denken, wer das war«, sagte sie. Das war am Morgen. Mittags kam eine Mutter zu mir, weil ihr 6-jähriger Sohn die ganze Familie terrorisierte. Er quälte seinen kleinen Bruder bis aufs Blut, warf bei den Mahlzeiten mit dem Essen um sich und reagierte auf die Ermahnungen der Eltern mit Sätzen wie: »Du kannst mir mal die Eier lecken!« Nachmittags wollte ich eigentlich im Eiscafé die ersten Sonnenstrahlen genießen, doch als ich gerade den ersten Löffel Spaghettieis zum Mund führte, hörte ich, wie jemand am Nachbartisch rief: »Bä! Was ist das denn? Das ist ja voll eklig.« Ein etwa 8-jähriger Junge schob seinen noch fast vollen Eisbecher von sich. Mit ihm am Tisch saßen eine Frau und ein älterer Mann. Im Laufe des Gesprächs identifizierte ich die beiden als Mutter und Opa des Jungen. Was ich dann hörte war Folgendes: Opa: »Du wolltest unbedingt diesen Star-Wars-Becher und jetzt isst du ihn auch auf.« Junge: »Nä!« Opa: »Paul, ich möchte, dass du das jetzt aufisst.« Junge: »Iss du ihn doch.« Mutter: »Paul!« Junge: »Ja was denn? Das ist voll eklig.« Opa: »Hör jetzt auf damit. Iss es einfach.« Junge: »Du hast mir gar nichts zu sagen.« Opa: »Schluss jetzt. Du isst das.« Junge: »Jetzt halt endlich die Klappe, du Hurensohn.«   Schlagartig verstummten die Gespräche an den Tischen um uns herum. »Jetzt reicht's!« Pauls Mutter war rot angelaufen. Sie spürte sicher, dass einige neugierige Blicke auf ihr ruhten. »Ich möchte, dass du dich bei Opa entschuldigst. Sofort!« Paul pustete nur verächtlich die Luft aus. »Du entschuldigst dich jetzt sofort bei Opa.« Die Stimme der Mutter vibrierte vor Wut. »Du kannst mich mal.« Der Junge verschränkte die Arme und starrte trotzig auf seine Füße. Der Opa sagte nichts. Sein Gesicht war unbeweglich, die Lippen schmal. Die Mutter blickte ihn besorgt an. Für eine Sekunde hatte ich den Eindruck, als könnte ich die Hitzewelle spüren, die durch ihren Körper ging. Diese Frau stand sicher massiv unter Stress. »Pass mal auf, Freund. Du entschuldigst dich jetzt sofort und du isst das Eis auf. Sonst kassier ich gleich dein Handy ein.« »Mach doch. Du findest das eh nicht.« »Und die Spielkonsole ist auch weg.« »Na und?« »Fernsehen gibt's auch nicht mehr.« »Mir doch egal.« »Ich möchte, dass du dich bei Opa entschuldigst!« »Nö.« Kurze Zeit später verließen alle drei das Café. Paul hatte weder sein Eis gegessen noch sich entschuldigt.   Nach dem Besuch im Eiscafé ging ich nach Hause. Dabei kam ich an einer Bushaltestelle vorbei. Dort standen ein paar 9-jährige Jungen und warteten. Außerdem stand dort noch ein etwa 13-jähriges Mädchen. »Guck mal, das ist voll die Bitch!«, rief einer der Jungen, sodass das Mädchen es hören konnte. Es drehte sich zu dem Jungen um und sagte: »Halts Maul, sonst reiß ich dir die Eier ab.« So sieht ein ganz normaler Tag bei mir aus. Nicht selten werde ich von früh bis spät mit Kindern konfrontiert, die mutwillig Dinge beschädigen (wie zum Beispiel mein Auto), die gegenüber anderen Kindern und gegenüber Erwachsenen keinen Funken Respekt aufbringen und Schimpfworte verwenden, die einem die Schamesröte ins Gesicht treiben. Es ist natürlich kein Zufall, dass mir auch privat Situationen auffallen, in denen Aggressionen destruktiv ausgelebt werden. Als Anti-Aggressions-Trainerin habe ich täglich mit Aggression und Gewalt zu tun. Ich trainiere Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, wenn es darum geht, mit der eigenen Wut so umzugehen, dass die Mitmenschen keinen Schaden nehmen. Und ich arbeite mit ihnen daran, sich (soweit es geht) deeskalierend zu verhalten, wenn andere aggressiv sind. Dreizehn Jahre mache ich das inzwischen schon, aber seit einiger Zeit erlebe ich die Kinder und Jugendlichen aggressiver. Situationen wie die oben beschriebenen, gab es früher auch schon, aber lange nicht so viele. Immer öfter werde ich von Eltern, Schulen und sogar Kindergärten gebeten, mit den Kindern oder auch mit den Erziehenden zu arbeiten, weil sie die Kinder mit den üblichen Erziehungsmaßnahmen nicht mehr erreichen können. Ein Kind verweigert sich und wird aus nichtigem Anlass aggressiv. Es beleidigt, verletzt und beschädigt und tut so, als sei das ganz normal. Außerdem sieht es keine Veranlassung, sein Verhalten zu ändern. Ein Junge wie Paul (der aus dem Eiscafé), hat sicher gemerkt, dass seine Mutter und sein Opa es nicht gut finden, wenn er den Opa »Hurensohn« nennt. Aber er hat auch gesehen, dass den beiden die Mittel fehlen, ihn daran zu hindern. Er sieht ihre Scham, wenn er in der Öffentlichkeit beleidigend wird, und er spürt, dass er die Macht hat, diese beiden Erwachsenen hilflos dastehen zu lassen. Durch die Szene im Eiscafé hat Paul zwei Dinge gelernt: 1. Ich bekomme Aufmerksamkeit, wenn ich beleidigend bin. 2. Ich habe eine gewisse Macht über Menschen, wenn ich sie in der Öffentlichkeit beleidige.   Fast alle Kinder, von denen ich hier berichtet habe, sind im Grundschulalter, also zwischen sechs und zehn Jahre alt. Was glauben Sie, wie die sich mit 15 oder 16 verhalten werden, wenn Grenzüberschreitungen dieser Art bereits jetzt zu ihrem Alltag gehören? Wenn niemand ihnen frühzeitig Einhalt gebietet, wird Respektlosigkeit ihr Verhalten bestimmen. Sie werden Beleidigung und Verweigerung in ihr Verhaltensrepertoire aufnehmen, sie werden andere Menschen tyrannisieren und ihnen ihren Willen aufzwingen und sie werden andere erniedrigen, um ihr eigenes Selbstbewusstsein zu stärken. Und dabei werden sie nicht einmal das Gefühl haben, etwas Falsches zu tun. Aber nicht nur Kinder empfinden Respektlosigkeiten und die damit verbundenen Grenzverletzungen zunehmend als normal, auch die sie umgebende Gesellschaft ist dickfelliger geworden, wenn es um verbale Übergriffe geht. Was in meiner Jugend noch absolut nicht geduldet wurde, ist heute längst Konsens. Erinnern Sie sich an das Lied »Jeanny« von Falco? Darin wird eine wahnhafte Liebe besungen. Der Text enthält Passagen, die gewaltverherrlichend wirken können. Er kann so verstanden werden, dass eine Vergewaltigung verharmlosend beschrieben wird. Die Gewalt wird dabei nicht konkret benannt, sondern steht als Möglichkeit zwischen den Zeilen. Dieses Lied wurde damals, Mitte der 1980er-Jahre, von vielen Radiosendern nicht gespielt und das Video wurde im Fernsehen nur ausschnittsweise gezeigt. Prominente wie Thomas Gottschalk empörten sich öffentlich, bezogen also Stellung. Heute interessiert das niemanden mehr. Texte, in denen ganz offen von Gewalt geradezu geschwärmt wird, sind überall konsumierbar. Keiner regt sich mehr auf, wenn eine Vergewaltigung in einem Lied thematisiert wird. Der Sänger Bushido, in dessen Texten ständig »gefickt« und »abgeknallt« wird, erhält sogar einen Preis für seine Leistungen im Bereich Integration. Immerhin wurde darüber debattiert, ob dieser Preis gerechtfertigt ist. Aber wohin soll das führen? Wie sollen Kinder und Jugendliche verstehen, dass es nicht richtig ist, jemanden sinnlos zu verletzen, zu beschimpfen und zu bedrohen, wenn es keine Konsequenzen zu haben scheint.
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