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Vom Film zur Literatur

Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich (Reclams Universal-Bibliothek)

AutorKlaus Maiwald
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783159608426
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
'Eine systematische Filmbildung findet an der Schule nicht statt'? Diesem Missstand will Klaus Maiwalds Band Abhilfe schaffen. Sieben Verfilmungen moderner (Schul-)Klassiker werden vorgestellt, u.a. ?Emil und die Detektive?, ?Krabat?, ?Der Vorleser? und ?Das Parfum?. Jedes Kapitel besteht aus vier Teilen, einer medienübergreifenden Zusammenfassung der Story, Hintergrundinformationen mit einer knappen Analyse zum Erzähltext und Film, einer Untersuchung einer Szene oder Sequenz und der Eröffnung von Lernperspektiven. Der Band eignet sich für eine Vorbereitung des Literaturunterrichts an allen Schultypen und für eine vertiefende Einarbeitung in das spannende Gebiet der Literaturverfilmung.

Klaus Maiwald, geboren 1960, ist Professor für die Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg.

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Leseprobe

2. Ein Verfolger erhält Hilfe –
Emil und die Detektive im Film von
Franziska Buch (2001) und im Roman von Erich Kästner (1929)


2.1 Die Story

Ein Junge fährt mit dem Zug aus seiner Kleinstadt ins große Berlin. Er trägt bei sich einen größeren Geldbetrag, den ihm jedoch ein zwielichtiger Mitreisender nach Verabreichung eines K.-o.-Mittels entwendet. Nach Ankunft des Zuges erwacht Emil aus seiner Bewusstlosigkeit und geht dem Dieb Max Grundeis nach. Alsbald gesellt sich ein Helfer dazu, der noch weitere Kinder zusammenruft. Gemeinsam organisieren Emil und die Detektive eine aufwendige Überwachung und Verfolgung des Bösewichts. Von der Kindermenge in die Enge getrieben, kann Grundeis schließlich des Diebstahls überführt und verhaftet werden. Emil und seine Freunde kommen in die Medien und erhalten zudem eine Belohnung für die Ergreifung des gesuchten Verbrechers.

2.2 Hintergrundinformationen

Mit seinen Romanen Emil und die Detektive von 1929, Pünktchen und Anton von 1931 und Das fliegende Klassenzimmer von 1933 bringt Erich Kästner (1899–1974) einen neuartigen Realismus in die damalige Kinderliteratur. Wo die Zeitschrift Jugendschriften-Warte jungen Leser(inne)n Titel wie Däumelinchen, Das Moosmännchen oder Wunderwiese anempfahl (und nebenbei Emil und die Detektive verriss),1 thematisierte Kästner in seinen Büchern Alltagserfahrungen von Kindern: Emil Tischbein ist Halbwaise, das Geld ist knapp, in der Großstadt wird er Opfer eines Diebstahls; das Freundespaar Pünktchen und Anton stammt aus sozial und wirtschaftlich extrem ungleichen Verhältnissen; in der Schulgeschichte rund um das fliegende Klassenzimmer geht es um das richtige soziale Zusammenleben. Kästner hat sich u. a. in den Vorworten bzw. Erzählrahmen der betreffenden Romane programmatisch gegen Kindertümelei und heile Welt ausgesprochen. Pünktchen und Anton versteht er ausdrücklich als »wahre Geschichte«, Das fliegende Klassenzimmer tue gerade nicht so, »als ob die Kindheit aus prima Kuchenteig gebacken sei«, und statt eines exotischen »Südseeromans« entsteht in Emil und die Detektive ein ernster Großstadtroman.2 Aus heutiger Sicht erscheint der realistische Wirklichkeitsbezug jener Kinderbücher stark idealisiert im »Mythos vom einsichtigen, hilfsbereiten, vernünftigen, sozial handelnden Kind«3 und durch die apolitische Utopie einer allein durch Menschlichkeit und Moralität zu bessernden Welt.

Der Kritiker und Aufklärer Kästner erhielt nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten Publikationsverbot und musste zusehen, wie am 10. Mai 1933 in Berlin auch seine Bücher verbrannt wurden. Kästner emigrierte jedoch nicht, sondern schlug sich mit unter Pseudonym verfassten Arbeiten, darunter das Drehbuch für den Ufa-Renommierfilm Münchhausen (1942), durch die 12 Jahre Nazi-Herrschaft. Nach 1945 gelangte er als Repräsentant eines »anderen Deutschland« zu hohen literarischen Ehren und moralischem Ansehen. Darauf deutet auch eine Reihe an Kästner-Verfilmungen in den 1950er Jahren hin: Das doppelte Lottchen (R: Josef von Báky, 1950), Pünktchen und Anton (R: Thomas Engel, 1953), Das Fliegende Klassenzimmer (R: Kurt Hoffmann, 1954). Neu verfilmt wurde 1954 auch Emil und die Detektive, in der Regie von Robert A. Stemmle. Von der seinerzeit vorherrschenden Märchenproduktion im Kinderfilm stellen diese Adaptationen eine markante Ausnahme dar;4 sie sind aber auch »Teil eines harmlos-heiteren, eskapistischen Kinos« der Wirtschaftswunderjahre.5

In Deutschland wurde Emil und die Detektive drei Mal verfilmt.6 Bereits 1931 entstand eine erste Adaptation in Regie von Gerhard Lamprecht. Diese außerordentlich erfolgreiche Produktion gilt bis heute als Meisterwerk des frühen Tonfilms und wurde 2003 in den Filmkanon der Bundeszentrale für Politische Bildung aufgenommen.7 Zeigte sich Kästner angetan vom Vorlagenbezug des von Billy Wilder erstellten Drehbuchs – »Der Film wird nun ziemlich so wie das Buch«8 –, so geht die Verfilmung durch Franziska Buch aus dem Jahr 2001 bereits mit der Übertragung in die Gegenwart des wiedervereinigten Deutschland bzw. Berlin eigene Wege.

Die Aktualisierung erfordert auf der Ebene der Figuren, der Schauplätze und der Handlung notwendige, aber auch bewusst gesetzte Differenzen zum Roman: Im Jahr 2001 hat Emil nicht nur 140 Mark dabei – 1929 noch ein Monatslohn. In der Bahn lesen kaum noch Herren »im steifen Hut die Zeitung« (S. 42), in der Jugendsprache findet man Dinge nicht mehr »kolossal« oder »knorke« (S. 76). Schon 2001 brauchte man für die Koordination keine häusliche Telefonzentrale und diktierte kein Journalist mehr einem »Fräulein in die Schreibmaschine« (S. 139). Zu solch zwangsläufigen Modernisierungen treten gezielte Adaptationen: Emil hat einen alleinerziehenden, etwas chaotischen Vater, ist aber keine Halbwaise. (Passend dazu wartet in Berlin Gustavs hübsche, alleinerziehende und ebenfalls etwas desorganisierte Mutter.) Die Fahrt von dem (fiktiven) Ostseenest Streiglitz in die Großstadt dient dazu, einen gefälschten Führerschein zu kaufen, damit der Vater den soeben erlangten Job als Vertreter nicht wieder verliert. Der Kreis der Detektive besteht nicht mehr nur aus deutschen Jungen, sondern ist bunt gemischt – dazu gleich mehr. Patchworkfamilien, Arbeitslosigkeit auf dem flachen Land im Osten, eine enorme Heterogenität im Berlin nach der »Wende« – eindeutig atmet der Film den Zeitgeist um die Jahrtausendwende.

Bei der Übertragung in die heutige Zeit geriete eine werktreue Verfilmung zum Anachronismus. Gewiss könnte man Emil eine Friseurin als Mutter geben; aber was machte man beispielsweise mit der Figur eines Polizeiwachtmeisters Jeschke oder mit der Verunstaltung eines Großherzogdenkmals? Und sollte Pony Hütchen tatsächlich die einzige Mädchen- und zudem eine Nebenfigur bleiben, deren Hauptaufgabe in der Verköstigung der »Männer« besteht? (vgl. S. 116, 154) Der Film löst die Männergesellschaft des Romans in eleganter Weise auf, indem er Pony Hütchen in die Rolle des Jungen mit der Hupe und somit zur Anführerin der Detektive avancieren lässt. In einem Interview erklärte die Regisseurin dies mit dem »Bedürfnis, einem veränderten Rollenbild Rechnung zu tragen und eine Figur zu schaffen, die für die Mädchen von heute eine Identifikationsfigur und ein Rollenvorbild zugleich ist«.9 Gustav hingegen firmiert als leicht nerdhafter (Mutter-)Sohn einer chaotischen Pastorin. Mit den graffitimalenden Zwillingen Fee und Elfe werden sowohl der Frauenanteil als auch die urbane und jugendsprachliche street credibility der Gang gesteigert: »Die haben kein Zuhause. Denen ihre Familie sind wir«, sagt Pony (30:10). Insgesamt nimmt der Film die hohen Tugendansprüche des Romans zurück zugunsten einer Lässlichkeit kleiner moralischer Verfehlungen.10 Einem gewandelten Bild von Kindheit entsprechend wirken die jungen Detektive agiler, selbständiger und gewiefter als die Erwachsenen.

Wirkungsvollen Gebrauch macht diese Produktion von genuinen Darstellungsmitteln des Films: Dazu gehört einmal die vielfältige und stimmige Musikhinterlegung. Glücklich singt Emils Vater einen beschwingten Musiktitel aus dem Autoradio mit, während zu Emils Heimfahrt aus dem Off ruhiger Instrumentalrock erklingt. Zwei musikalische Leitmotive durchziehen den Film und prägen seine Atmosphäre: Neben dem Banden-Rap ist dies eine weich auf und ab fließende Melodie, deren Tonfolge g – c – d – e eine gängige musikalische Formel für Helligkeit und Freude ist.11 In der Szene, in der Emil auf die Helferin Pony trifft, erzeugen rasch variierende Einstellungsgrößen und Perspektiven sowie eine hohe Schnittfrequenz sehr viel mehr an visueller Rasanz und Dynamik, als dies mit der schweren und schwerfälligen Filmtechnik 1931 möglich war.12

Sparsam wird hingegen Emils Ohnmacht dargestellt. Das vierte Kapitel des Romans schildert einen langen und wirren Traum (S. 48–55), in dem surreale Dinge geschehen: Eine Standuhr wird aus der Tasche gezogen, ein Mann isst seinen Hut, Pferde singen, ein Zug hüpft aus den Gleisen und jagt ein 200stöckiges Gebäude hoch, und der ohnmächtige Emil wird im Traum noch einmal ohnmächtig. Im Film gibt es lediglich einige optische und akustische Effekte wie verzerrte Gesichter sowie Musik und »Emil«-Rufe aus der Ferne. Warum zeigt der Film nicht Emils Traum aus dem Buch? Möglicherweise scheute man den (digitalen und finanziellen) Aufwand. Möglicherweise sollte auch verhindert werden, dass eine längere surreale Sequenz das Zeitbudget zu stark beansprucht und den realistischen Gestus des Films unterminiert.13

Die Szenenfolge, um die es nun detaillierter gehen soll, zeigt das Zusammenrufen der Detektive.

2.3 Transformationen: Das Zusammenrufen der Detektive

Besonders ergiebig erweist sich der Medienwechsel, wenn Gustav (im Roman und in den Filmen von 1931 und 1954) bzw. Pony (im Film von 2001) weitere Helfer zusammenruft (29:32–31:34). Pony (Anja Sommavilla) pfeift durch...

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