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Vom Raubritter zum politischen Unternehmer? - Selbstverständnis und Selbstdarstellung der russischen Oligarchen in den 1990er Jahren

Selbstverständnis und Selbstdarstellung der russischen Oligarchen in den 1990er Jahren

AutorStefan Dörig
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl123 Seiten
ISBN9783640200115
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Lizentiatsarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Kulturwissenschaften - Allgemeines und Begriffe, Note: 5,5, Universität Zürich, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Leben schreibt manchmal wunderbare Geschichten. Als Michail Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde, sass Vladimir Gusinskij am Steuer eines inoffiziellen Taxis und ärgerte sich über die Ungerechtigkeit der Welt. Zur selben Zeit träumte der Mathematiker Boris Berezovskij in seinem Labor vom Nobelpreis, während Petr Aven am Institut für Systemanalyse ökonomische Forschung betrieb. Vladimir Vinogradov arbeitete als Ingenieur im Süden Russlands, Vladimir Potanin war ein unbedeutender Beamter im Aussenhandelsministerium und Aleksandr Smolenskij verdiente sich seinen Lebensunterhalt in einem Moskauer Bauunternehmen. Michail Chodorkovskij und Michail Fridman schliesslich waren noch Studenten, als Gorbatschow an die Macht kam. Ein Jahrzehnt später kontrollierten diese acht Männer einen Grossteil der russischen Wirtschaft und im Sommer 1996 spielten sie eine entscheidende Rolle bei der Wiederwahl Boris Jelzins zum russischen Präsidenten. In der Öffentlichkeit machte ein Gerücht die Runde, wonach die gesamte russische Politik von diesen acht Personen - den so genannten 'Oligarchen' - gesteuert wurde. Der Begriff 'Oligarch' erschien im postsowjetischen Russland erstmals 1993 in einer Analyse der regionalen Elite , ehe er 1995 auf die führenden Wirtschaftsvertreter des Landes übertragen wurde. In die politische Diskussion gelangte er im Dezember 1997, als der damalige Stellvertretende Ministerpräsident Boris Nemcov dem 'oligarchischen Kapitalismus' öffentlich den Kampf ansagte. Danach verlor der Begriff weitgehend an inhaltlicher Schärfe. Heiko Pleines definiert die 'Oligarchen' als 'Unternehmer, die (1) für die russische Volkswirtschaft insgesamt von Bedeutung sind und (2) im Rahmen einer Symbiose mit der politischen Führung politische Entscheidungsprozesse in ihrem Interesse beeinflussen.' In dieser Arbeit wird die Bezeichnung 'Oligarch' (ohne Anführungs- und Schlusszeichen) nur für die acht einleitend erwähnten Personen gelten. Diese Beschränkung fusst auf der Annahme, dass die Wahlkampfunterstützung Boris Jelzins - und insbesondere der politische Pakt, der ihr zugrunde lag - der entscheidende Faktor für die Herausbildung eines 'oligarchischen Systems' war.

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Leseprobe

Prolog – Erkenntnisse aus der Vergangenheit


 

Good Russians […] simply did not that kind of thing.”[16] (Marshall Goldman)

 

1. Das russische Unternehmertum vor 1917


 

Die Geschichte des russischen Unternehmertums ist seit jeher eng mit den jeweiligen Machthabern im Kreml verbunden.[17] Die Wirtschaftspolitik diente ausschliesslich den Bedürfnissen des Staates und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts stand jegliche unternehmerische Tätigkeit unter seiner Aufsicht.[18] Trotzdem gab es einzelne Sektoren, in denen sich privatwirtschaftliche Aktivität entfalten konnte. Die Textilindustrie liefert dafür einen schlagenden Beweis. Die Anfänge der russischen Baumwollindustrie reichen auf einen Erlass von 1775 zurück, in dem Katharina II. den Bauern erlaubte, eigene Handwerksbetriebe zu führen.[19] Die neuen Manufakturbesitzer waren nicht selten Altgläubige[20], die vom staatlichen und öffentlichen Dienst ausgeschlossen waren. Die nachfolgenden Generationen schufen dann die eigentlichen Produktionsbetriebe und lösten sich gänzlich von ihrer bäuerlichen Herkunft. Im Jahr 1913 bildeten die Textilfabriken den grössten Industriezweig Russlands. Konzentriert um das Gebiet Moskau beschäftigten sie 690'124 Werktätige, was damals 29% der gesamten Industriearbeiterschaft entsprach.[21]  

 

Die bekannteste russische Unternehmerdynastie wurde vom leibeigenen Bauern Savva Morozov gegründet. Als er 1860 starb, hinterliess er ein blühendes Textilgeschäft mit mehreren Fabriken im Umland Moskaus. Savva Timofeevič, ein Enkel des Gründervaters, stieg zu einem der berühmtesten Kaufleute zur Zeit der Jahrhundertwende auf.[22] Er gehörte einer Generation von Moskauer Unternehmern an, die in der Fachliteratur als „molodoe kupečestvo[23] („junge Kaufmannschaft“) bezeichnet wird. Sie bestand aus ungefähr zwanzig Familienclans, deren Wirtschaftsimperien gerade um die Jahrhundertwende stark expandierten.[24] Neben dem traditionellen Textilgewerbe besass sie Interessen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen wie Handel, Banken, Versicherungen, Eisenbahnbau oder Immobilien. Die meisten Unternehmen waren als Aktiengesellschaften organisiert, wobei die Kontrolle über die Geschäfte gänzlich in den Händen der Familienmitglieder verblieb.[25] In ihrem Selbstverständnis unterschied sich die „junge Kaufmannschaft“ deutlich von der apolitischen Generation ihrer Väter. Einer ihrer bekanntesten Vertreter verkündete 1912: „Die Bourgeoisie als eine derart hoch entwickelte ökonomische Macht sollte nicht nur, sondern muss über entsprechenden politischen Einfluss verfügen.“[26]

 

Mit der fortschreitenden ökonomischen Modernisierung entstand seit der Mitte des  

19. Jahrhunderts eine zweite Gruppe von Unternehmern, die in kürzester Zeit zu Vermögen und Macht gelangte: professionelle Bankiers und Eisenbahntycoons. Eine Vorreiterrolle übernahm der St. Petersburger Schwer- und Rüstungsindustriekonzern der Putilovs.[27] In den frühen 1850er Jahren verliess ihr Gründer Nikolaj Ivanovič Putilov seinen Posten im Marineministerium und widmete sich der Entwicklung der Metallindustrie. Seine Kontakte zu einflussreichen Regierungskreisen verhalfen ihm zu günstigen Krediten und lukrativen Staatsaufträgen, vor allem im Eisenbahnbau und im Rüstungssektor. Im Jahr 1901 beschäftigte der Konzern 12'000 Arbeiter und war somit der grösste private Fabrikbetrieb Russlands. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Vorstandsmitglied Aleksej Ivanovič Putilov zur dominierenden Figur innerhalb des Unternehmens. Aleksej Ivanovič, der in keinem direkten verwandtschaftlichen Verhältnis zum Firmengründer stand, war Stellvertretender Finanzminister ehe er 1905 seine Karriere in der Wirtschaft lancierte. 1910 wurde er Vorstandsvorsitzender der Russisch-Asiatischen Bank, um die ein gewaltiges Firmenimperium aus 163 Aktiengesellschaften errichtet wurde.[28] Derweil die Nachkommen der „Textil-Barone“ in Moskau ansässig waren, konzentrierten sich die Schwerindustrie und der Maschinenbau in St. Petersburg.[29] Ähnlich wie in Moskau war in der Hauptstadt eine „Verquickung von Industrieunternehmen und Grossbanken“[30] zu beobachten. In den Syndikaten übernahmen die Geschäftsbanken und deren Besitzer eine dominierende Rolle.[31] Kontakte zu Regierungskreisen waren ein wichtiger Erfolgsfaktor. „As a result”, schreibt Rieber, „a small group of bankers who would chart their own course for Russia’s economic development emerged. They [...] exemplified the so-called coalescence (srashchivanie) between finance capital and the government [...]. Although they publicly disdained the oligarchic style of politics, in private they made it their own.“[32]

 

2. Der Ursprung des russischen Feindbildes „Unternehmer“


 

Was die russischen Unternehmer aller Zeiten eint, ist die Ablehnung oder gar der Hass, der ihnen von einem grossen Teil der Gesellschaft entgegenschlägt. Es gibt zwei Stereotypen, die das Bild des Geschäftsmannes noch heute prägen. Das ältere ist dasjenige des „tumben, raffgierigen“[33] Händlers, der mit allerlei Tricks und Gaunereien versucht, seine Kundschaft übers Ohr zu hauen. Er wird ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Zielscheibe beissenden Spotts, der seinen Niederschlag insbesondere in den Werken zeitgenössischer Dramatiker findet. Wie Zarubina treffend bemerkt, ist die Posse über den russischen Kaufmann nicht bloss eine Erscheinung des Theaters, sondern ein soziales Phänomen, dem es sich nachzugehen lohnt.[34]

 

2.1. Der Unternehmer als charakterloser Krämer


 


Das Stereotyp des charakterlosen Krämers wird in den Komödien Aleksandr Ostrovskijs[35] wunderbar dargestellt. Ganz nach der Devise „Wer nicht betrügt, der verdient nichts“ erklärt ein Kaufmann in der Komödie „Svoi ljudi[36] (1849) seinen Gehilfen das Tuchgeschäft: „Passt auf, Jungens, sage ich ihnen, wenn ihr seht, dass sich ein Geschäft machen lässt, wenn ein Kunde kommt, der ein bisschen blöd ist, oder ein Stoff dem Fräulein in Muster und Farbe besonders gefällt, dann schaut, dass ihr gleich einen Rubel oder zwei auf die Elle draufschlagt. […] Und beim Abmessen sage ich, muss man die Selbstverständlichkeiten beachten: zieh und strecke, nur pass um Gottes willen auf, dass der Stoff nicht platzt; nicht wir müssen ihn ja später tragen. Nun, und wenn die Kunden Maulaffen feilhalten, dann trägt niemand die Schuld, dann kann man einfach eine Elle unter die Hand verschwinden lassen.“[37] Es bleibt nicht bei den kleinen Betrügereien hinter der Ladentheke. Um den Forderungen seiner Gläubiger zu entgehen, täuscht der reiche Kaufmann in „Svoi ljudi“ einen Bankrott vor. Die Sache geht jedoch schief, weil er von seinem ehemaligen Lehrjungen übers Ohr gehauen wird. Am Schluss landen beide in einem sibirischen Straflager. Mit der Figur des hinterlistigen Tit Tityč aus dem Theater „V čužom piru pochmel'e[38] hat Ostrovskij 1855 den eigentlichen Prototypen des russischen Krämers geschaffen. Lügen, Schwindeleien und fingierte Bankrotte gehören ebenso zu seinem Tagesgeschäft wie der Vodka und das Tyrannisieren der eigenen Familienmitglieder. Dumm und ungebildet wie er ist, beschränkt sich sein Horizont auf selbige Angelegenheiten. Für seine Mitbürger und sein Land hat Tit Tityč nichts übrig. Das einzige, was zählt, ist der persönliche Profit.

 

Die Verachtung, welche den russischen Kaufleuten des 19. Jahrhunderts von weiten Teilen der Bevölkerung entgegengebracht wurde, hat ihren Ursprung im althergebrachten Ideal des bäuerlichen Lebens. Aleksandr Geršenkron schreibt dazu: „The good life which God intended man to lead implied tilling the land, which belongs to God, and receiving the divine blessings of its fruit. Good life did not mean craving for riches, laying up treasures on earth ‚where moth and rust doth corrupt.’”[39] Oder wie Goldman lakonisch bemerkt: „Good Russians (‚our kind of people’) simply did not that kind of thing.”[40] Wer seine Brötchen nicht im Angesicht des eigenen Schweisses verdiente, galt als moralisch verwahrlost und wurde von der Gesellschaft mit Verachtung bestraft.[41] Das negative Bild des russischen Kaufmanns findet seinen Ausdruck in unzähligen Märchen, Erzählungen und Liedern. Die Tradierung dieser Sichtweise führte dazu, dass „das Bewusstsein vom Unrecht des Geldes“, wie die Dichterin Marina Cvetaeva es nennt, „in der russischen Seele nicht auszulöschen ist.”[42]

 

2.2. Der Unternehmer als soziale Bedrohung


 

Wie Ruckman bemerkt, galt Ostrovskij noch in den 1890er Jahren als „still-reigning authority on the manners and mores of the Russian business community.“[43] Mit dem Auftauchen reicher Fabrikbetreiber und Bankiers, die im Zuge der Industrialisierung zu unermesslichem Wohlstand...

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