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Vom Sein zum Leben

Euro-chinesisches Lexikon des Denkens

AutorFrançois Jullien
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl344 Seiten
ISBN9783957575944
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
»Vom Sein zum Leben« versteht Francois Jullien als kritisches Resümee seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem chinesischen Denken und Sprechen. Anhand von 20 Begriffspaaren entfaltet er die Differenzen der beiden Kultur- und Denkräume: In höchst originellen Essays stellt er beispielsweise »Kohärenz« dem »Sinn« gegenüber, »Beharrlichkeit« dem »Willen«, »Zuverlässigkeit« der »Aufrichtigkeit«, »Aufschwung« dem »Stillstand«. Doch Jullien begnügt sich nicht, das eine Konzept mit Hilfe des anderen zu erleuchten und damit die zugehörige Kultur zu verstehen. Er geht in diesem Buch einen Schritt weiter, versucht von beiden Abstand zu nehmen und eine dritte Position zu gewinnen, die ihm ermöglicht eine eigenen philosophischen Entwurf zu entwickeln. Ein Buch für alle, die China verstehen, aber dabei nicht in Exotismus schwelgen wollen, und für alle, die die Lust am eigenen Denken nicht verloren haben.

François Jullien, 1951 in Embrun geboren, ist Philosoph und Sinologe. Nach einem Studium in Peking und Shanghai leitete er zunächst die Antenne Française in Hongkong. Nach langjähriger Tätigkeit als Direktor verschiedener Institute unterrichtet er heute als Professor an der Universität Paris VII und am Collège d'études mondiales. Jullien zählt zu den bedeutendsten Kennern Chinas.

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Leseprobe

I


Neigung (vs. Kausalität)


– 1 –


Wir mussten, um die Dinge zu denken, das Sein und das Werden trennen. »Wir« – sind das nur die Griechen? Und wenn ich sage: »die Dinge«, so handelt es sich selbstverständlich genauso um Lebewesen wie um Dinge, unabhängig von ihrer Natur und ihrem Verhalten – der Terminus möchte durch seine Unbestimmtheit so allgemein wie möglich sein. In einer allerersten Geste – und sie scheint durch die Vorgehensweise des Geistes geboten – unterscheiden wir zwischen dem Statischen und dem Dynamischen, zwischen stabilem und bewegtem Zustand, wobei sich Letzterer durch die Veränderung, die in ihm stattfindet, sogar als widersprüchlich erweist. Nicht dass wir die Dinge unausweichlich durch Sprachzwänge stabilisieren – in Frankreich ist das die Frage Bergsons –, aber wir betrachten einerseits die Situation und andererseits ihre Entwicklung. Von daher kommt es, dass wir die Dinge nicht in ihrer Konfiguration und zugleich in ihrer Transformation sehen können und dass wir niemals ausreichend an ein Ding herankommen – eben weil es kein in irgendeiner Weise isolierbares »es« ist –, wo wir doch wissen (wodurch wir wissen), dass Reelles vor sich geht oder sich spannt, aber eben nicht ist (res: das substanzielle »Ding«). Wir wissen nur, dass es erfolgt. Das heißt, dass wir nicht so sehr den Übergang vom einen zum anderen als vielmehr die Untrennbarkeit von beiden in einem schwarzen Loch belassen: dass die Dinge sich aus dem konstituieren, aus dem sie sich entwickeln. Was sich genauso umgekehrt lesen lässt: Sie entwickeln sich aus dem, was sie konstituiert. Um die Termini von früher wieder aufzunehmen, könnte man sagen: Das Ereignis ist in der Struktur.

Neigung [propension] scheint mir der geeignetste Terminus zu sein, um diesem Mangel abzuhelfen, nämlich diese Untrennbarkeit zu bezeichnen und einzugrenzen. Er würde diesem Undenkbaren am nächsten kommen, um zu sagen, wie die Dinge von dem, was sie »sind«, herbeigeführt werden und das »sind«, was sie herbeiführt: wie die Disposition in ihnen die Neigung impliziert und wie zugleich die Neigung selbst die Disposition konstituiert – wie die Entwicklung also nicht nur in der Konfiguration enthalten ist, sondern eins mit ihr ist und in ihr aufgeht. Dafür habe ich einige Bestätigung in einem Terminus des chinesischen Denkens der Antike gefunden, nämlich im shi. Das ist kein streng umrissener Begriff, der aber auf verschiedensten Gebieten Verwendung findet, von der Strategie bis zur Theorie der Machtausübung, von der Ästhetik bis zu grundlegenden Gedanken zur Geschichte und Philosophie, und ich war im Laufe der Lektüre der Texte erstaunt, dass er genauso oft mit »Situation« wie mit »Evolution«, mit »Bedingung« ebenso wie mit »Verlauf« übersetzt wurde.

Bis zu welchem, von der Intelligenz nie völlig geklärten, Punkt verbinden sich diese Begriffspaare miteinander, sodass sie sich als kommunizierend, ja sogar als äquivalent erweisen? »Tendenz« wäre noch zu sehr auf Seiten von Entwicklung, um brauchbar zu sein; es ließe das Situative zu wenig zur Geltung kommen; dieser Terminus wird nur allzu oft auch ins Psychologische hineingestopft, und zwar zu genetisch. Aus »Neigung« dagegen – der Terminus Propension ist eher ausgefallen, aber Leibniz hat ihn gekannt – hören wir heraus, dass die Dinge nicht »sind«, aber dass sie (sich) »neigen«, dass sie sich entsprechend ihrer Neigung spalten und dass gerade das ihr »Weiterkommen« ausmacht; dass sie durch ihre Gewichtung [pesée] (pendere) je nach Situation nicht zu kippen aufhören und durch diesen Elan und Schwung ihre Zukunft pro-duzieren; dass sie von vornherein danach streben, sich zu rekonfigurieren, aus dem einfachen Grund, weil sie stets nicht ein »Seiendes«, sondern ein Sich-Neigen sind. Stets: Die Welt besteht nur daraus, dass sich alles ständig und in gewisser Weise »nach vorne neigt« – pro-pendere – und so ihre Erneuerung produziert.

Wenn man von diesem Vokabular Gebrauch macht, hat man den Eindruck, in eine Art materialistische und deterministische Theorie zurückzufallen, wie wir sie in Europa immer wieder seit der Antike entwickelt haben. Genau das ist aber nicht der Fall – und eben hier kann uns das Denken von Neigung etwas Neues bringen, insofern es beginnt, uns von unseren Erwartungen wegzurücken. Interessant an diesem Konzept – oder besser: an dem, woraus ein Konzept zu machen wäre – ist, dass es uns von den Explikationen befreit, uns also aus dem Regime der Kausalität entlässt, das über das europäische Wissen geherrscht hat, um uns in eine beständige Implikation einzuführen. Die Griechen haben ausgehend von »Ursache« und »Prinzip« gedacht, von einer vorangehenden Ursache und einem wirkenden Prinzip (aitia αἰτία und archē ἀρχή sind die zwei einleitenden Termini des aristotelischen Vokabulars2). Wir dringen, anders gesagt, durch die »Ursache« zum »Ding« vor, dieses bezieht seine Wahrheit von jener, und wir »geben Rechenschaft« von welchem Seienden auch immer (das berühmte logon didonai der Griechen) nur durch etwas ihm Äußeres – was, zumindest auf symbolische Weise, das Ex- von Explikation verdeutlicht. »Kenntnis« ist so viel wie »die Ursachen der Dinge kennen«. Rerum cognoscere causas heißt im Lateinischen sentenziös eine Formel, die das Mysterium der Welt angeblich entschleiert, indem es dieses dem explanativen Regime unterwirft. Gott selbst – Platon sieht darin bereits eine Evidenz – wird als »erste Ursache« gesetzt, über die man nicht hinauszugehen imstande sei und von der ausgehend sich alles aneinanderreihen und »erklären« ließe (oder auch, im Phaidon, die »Idee« als »Ursache«).

– 2 –


Es liegt demnach hier, in der Kausalität, eine Wirkung der Intelligenz oder der Klarheit vor, die sich in allem fortsetzt, mit dessen Stempel die Griechen alles Wirkliche versehen haben (damit es als »wirklich« anerkannt wird, gemäß der Zweiteilung »verursachend«/»verursacht«). Die kausale Verbindung ist als solche archetypisch, so sehr trifft es nämlich zu, dass die Rolle des Verstands eben darin besteht, in einer Weise Beziehungen herzustellen und zwei Dinge zu »verbinden«, wobei das eine außerhalb des anderen behalten wird und zugleich dieses hervorruft – alles nach dem Modell: Das Feuer ist die Ursache dafür, dass das Wasser kocht. Nun hat die Kausalität das europäische Denken so sehr dominiert, dass wir diesen Rahmen und dieses große explanative Regime, diesen mächtigen Hebel vor allem des physikalischen Wissens, nicht verlassen haben und es bis in unsere Moderne nicht beargwöhnt wurde – mit Ausnahme von Hume und Nietzsche, deren Größe gerade darin liegt, es hinterfragt zu haben. Was unsere Moderne ausmacht, ist eben zum Teil der Versuch, sich von diesem Joch der Verkettungen zu lösen, indem sie den Gedanken wagt, dass dieses einzig unsere »Gewohnheit« als Rechtfertigung haben könnte. Was sie ausmacht, ist der Versuch, den Geist von der großartigen Antriebsfeder der Kausalität zu emanzipieren, und zwar bereits in der Physik, vor allem aber in der an ihr scheiternden Meta-Physik, die zu sorglos glaubte, ihr Gebäude auf diesem Kunstgriff errichten zu können.

Einige chinesische Denker am Ende der Antike (jene, die man die Späten Mohisten nannte) haben sehr wohl ebenfalls die Kausalität gedacht und sie sogar an den Beginn ihres Kanons gestellt, doch muss man sogleich bemerken, dass sie im Rahmen der chinesischen Tradition eine Sonderstellung einnehmen. Sie, die durch ihr Interesse an der Wissenschaft, der Physik und Optik, wie auch mit ihrer Forderung nach einer Definition sowie der Strenge ihrer Widerlegungsregeln den Griechen so nahe zu stehen scheinen, haben sich niemals mit dem dao, dem »Weg«, abgegeben: Wie weit haben sie sich von der Logik des Prozessualen, die unter dem Thema des »Wegs« das chinesische Denken dominiert hat, entfernt? Jedenfalls lässt sich bei ihnen die Möglichkeit eines Denkens erahnen, die die chinesische Tradition in ihrer Gesamtheit nicht entwickelt hat. Zweifellos gehörten sie selbst dem Milieu von Handwerkern oder »Technikern« an und nicht jenem der Berater des Hofes und der Literaten. Überdies wurden uns ihre Texte nur in Bruchstücken überliefert, da sie in China erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiedergefunden wurden, wiederentdeckt zur selben Zeit, in der es auch zur Begegnung mit dem europäischen Denken kam. Das reicht, um zu verstehen, weshalb das erkannte Mögliche der Kausalität nicht dazu geführt hat, sich im Kontext des chinesischen Denkens zu...

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