Sie sind hier
E-Book

Vom Sinn und Unsinn der Geschichte

Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten

AutorReinhart Koselleck
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl388 Seiten
ISBN9783518735985
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
»Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« versammelt Aufsätze und Vorträge Reinhart Kosellecks aus vier Jahrzehnten und macht die Entwicklung und die Reichweite seiner Historik eindrucksvoll sichtbar. Neben verstreut publizierten Arbeiten wie der längst in den Rang eines modernen Klassikers aufgestiegenen Studie »Wozu noch Historie?« versammelt der Band unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass. Sie erweitern das Bild von Kosellecks Theoriearbeit um wichtige Facetten, zeigen den denkenden Historiker aber auch als Meister empirisch gesättigter Analysen und Darstellungen.

<p>Reinhart Koselleck (1923&ndash;2006), Professor in Bochum, Heidelberg und Bielefeld, Mitglied zahlreicher Akademien und Kollegien. Bahnbrechende Studien zur Geschichte der europ&auml;ischen Aufkl&auml;rung, zur Theorie der Geschichte und zur Begriffsgeschichte.</p>

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

89Vom Sinn und Unsinn der Geschichte

Dieter Groh zum 65. Geburtstag

 

Wer der Geschichte einen Sinn zumutet, muß sich der Frage aussetzen, was eigentlich der Gegenbegriff sei: der Unsinn oder die Sinnlosigkeit? Mit dieser Alternative wird vorentschieden, was als »Sinn« begriffen werden soll. Denn »Sinnlosigkeit« ist ein neutraler Ausdruck, der die Sinnfrage umgeht, und ich neige dazu, diese Position für die Geschichte stark zu machen. »Unsinn« bleibt als Negation von »Sinn« auf Sinnhaftigkeit bezogen. »Sinnlosigkeit« öffnet dagegen eine andere Dimension, als sie eine Geschichtswissenschaft zu bewältigen hat, die sich herausgefordert sieht, Sinn und damit eo ipso auch Unsinn in der Geschichte zu suchen. Im folgenden wird nicht nach dem Sinn jener Wissenschaft gefragt, die sich mit der »Geschichte« beschäftigt. Also Sinn oder Unsinn der Historie als Wissenschaft steht hier nicht zur Debatte, obwohl sie sich gerne anmaßt, der sogenannten Geschichte Sinn abzuluchsen und ihn mit verschiedenen Zensuren zu dosieren.

I

Es gibt eine Briefsammlung von Soldaten aus Stalingrad, die nicht heimgekehrt sind, aber deren Nachrichten – gleichsam Nachrufe auf sich selbst – mit den letzten Postsäcken nach Deutschland verbracht worden sind.1 Goebbels hielt diese Post zurück, in der Hoffnung, eine Auswahl heroischer Briefe edieren zu können, die vom Heldentum derer zeugen sollten, die vermißt werden. Diese vier oder fünf Postsäcke, die ein paar tausend Briefe enthielten, ohne je ihre Adressaten zu erreichen, haben nun eine Fülle von Deutungen hinterlassen, die der Katastrophe vergeblich Sinn abzugewinnen suchten. Die Variantenskala reicht von der absoluten Verzweiflung über sarkastische Kommentare und ironische Bemerkungen hin zu zynischen Bonmots der dort demnächst Sterbenden und weiter über lethargische und zurückhaltende Nach10richten bis zu Zeichen der Demut oder tiefer Frömmigkeit. Verlassenheit und Hilflosigkeit dominieren, und es finden sich nur wenige Bekenntnisse zum NS-System, dessen Durchhalteparolen die offizielle Öffentlichkeit beherrscht hatten. Wir stehen also vor einem breit gestreuten Wahrnehmungsspektrum jenes wendeträchtigen Ereignisses, über das wir inzwischen aus Tausenden von Büchern, Filmen oder Videostreifen belehrt werden. Was wir heute geneigt sind, als Sinnlosigkeit oder allenthalben als Unsinn zu deuten, das wurde schon damals von den Zeitzeugen vor ihrem Tode vergeblich mit Sinnstiftungen versehen – die Wirklichkeit der Schlacht ließ dieses nicht zu. Das Ärgerliche an dieser aufregenden Quellensammlung ist nur, daß sie eine Fälschung ist. Es war ein Propagandamann im Dienst von Goebbels gewesen, der zwar Kenntnis von diesen letzten Briefen hatte – aber die, die er veröffentlicht hatte, sind offenbar aus seiner eigenen Feder geflossen. Seine Edition erreichte zwei Auflagen, seine Herausgeberschaft verblieb im Anonymen, und auch meine Versuche, dem Fälscher auf die Schliche zu kommen, blieben ergebnislos, weil der Herausgeber seit langem tot ist. Die Indizien, die die Fälschung als solche entlarven, brauchen hier nicht im einzelnen aufgeführt zu werden. Das Spannende ist nämlich, daß die Fälschung selber so großen Anklang fand. Die geschickte Fiktion der Briefe reichte hin, um bei den Lesern Zustimmung zu finden dafür, daß in Stalingrad »Sinnlosigkeit« obwaltete und von den Betroffenen auch so erfahren wurde. Der Leserkreis teilte rückwirkend offenbar denselben Erfahrungshorizont, den der Fälscher, stilistisch versiert, ausgezogen hatte. Alle ideologischen Deutungen der seinerzeitigen Propagandasprache schmolzen dahin.

Es gibt nur ein Motiv, das auch im Rückblick den »Sinn« von Stalingrad zweckrational einlösen könnte: dann handelt es sich um ein rein militärgeschichtliches Motiv. Denn durch den Untergang der 6. Armee war es möglich geworden, daß die Truppen, die sich im Kaukasus festgebissen hatten, noch rechtzeitig entkommen konnten, nämlich im Verlauf jener zwei Monate, in denen der Kessel von Stalingrad eingeschnürt und vernichtet wurde. Der Tod der Stalingrad-Soldaten sicherte in dieser Sichtweise das Überleben jener Truppen, die sich über den Don zurückretten konnten. Freilich wäre es anmaßend zu behaupten, in diesem 11sekundären Zweck des tödlichen Kampfes den primären Sinn der Stalingradschlacht zu erblicken.

Eingerückt in den gesamten Kontext des Kriegsverlaufes, wird die Schlacht von Stalingrad heute gern als Peripetie dargestellt, als der Beginn vom Ende des deutschen Weltkrieges. Freilich streiten sich die politischen und die Militärhistoriker darüber, ob denn die Peripetie nicht schon vor Moskau 1941 gelegen habe oder ob sie nicht schon längst zuvor im Entschluß zum Rußlandfeldzug selber gelegen haben muß, ohne damals schon sichtbar geworden zu sein. Die spannende Frage (besonders von Ernst Topitsch2), ob der Rußlandfeldzug auch rational begründbar war: als Präventivschlag gegen Stalins expansionistische Absichten – und das noch im Erfahrungshorizont des deutschen Sieges über Rußland im Jahre 1917 –, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Denn langfristig gesehen kann die Peripetie des Kriegsverlaufs auch schon vor dem Kriegsausbruch 1939 angesiedelt werden, weil in Anbetracht der politischen Weltkonstellation der Untergang schon im Anfang enthalten gewesen sei. Dann wäre der gesamte Krieg nicht nur in sich selbst sinnlos, sondern auch im Hinblick auf rationale Kalkulationen und Zweckverschönungen von vornherein unsinnig gewesen. Dann wird Stalingrad zum Symptom jenes utopisch motivierten Aggressionskrieges, der in seinem Verlauf schließlich zum Zweiten Weltkrieg wurde und der, aus ideologischen Gründen entfesselt, sich einer politischen oder militärischen Rationalisierung überhaupt entziehe. Das Kriterium der Sinnlosigkeit liegt dann in der Ideologiekritik an den rassischen und raumausgreifenden Plänen Hitlers beschlossen, wie er sie schon in Mein Kampf offen ausgesprochen hatte.

Daran gemessen lassen sich andere Deutungen als Sinnstiftung begreifen, wenn sie etwa theologisch begründet werden. Einmal auf den Boden theologischer Deutungen überführt, lassen sich alle Ereignisse mit Sinn befrachten, denn jedes Ereignis läßt sich dann mit Theodizee-Argumenten erklären. Wird ein Guter belohnt, ist es Gotteslohn; wird ein Guter bestraft, ist es eine Warnung. Wird der Böse belohnt, ist es ebenfalls eine Warnung, da in Gottes Ratschluß alles anders aufgehoben sein mag, als es zu sein scheint; 12wird schließlich der Böse bestraft, handelt es sich um ausgleichende Gerechtigkeit. Also theologisch läßt sich immer alles sinnvoll deuten, und es gibt dementsprechend eine Fülle ähnlicher Argumente, die alle Kriege begleiten. So sparten zum Beispiel katholische Blätter im Ersten Weltkrieg nicht mit der traditionellen Deutung, daß er als Strafe Gottes für menschlichen Übermut zu erleiden sei. Die Stimmigkeit solcher Interpretamente für Gläubige läßt sich nicht leugnen, auch wenn sie keine rationalistischen Argumente im Sinne wissenschaftlich kontrollierbarer Aussagen liefern können. Für einen Gläubigen bleiben sie unwiderlegbar; also, mit Popper zu sprechen, außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

Eine weitere Methode, rückwirkend an die Schlacht von Stalingrad die Sinnfrage zu stellen, wäre, wie bereits angedeutet, die Rekonstruktion der militärischen Gesamtplanung. Dann aber bleibt »Stalingrad« das Ergebnis einer grandiosen Fehlrechnung: nicht nur Ergebnis einer utopisch überzogenen Planung, sondern eines rationalen Irrtums, der die Schlacht von vornherein als unsinnig ausweist. Wer Friedrich den Großen und dessen Schriften kennt, der findet dort rund zwanzig Seiten über die Geschichte Karls XII. von Schweden, der in Poltawa bekanntlich sein Stalingrad gefunden hatte.3 Friedrich wies auf wenigen Seiten nach, daß ein Krieg gegen Rußland für eine europäische Macht nicht zu gewinnen sei. Und Napoleon wie Hitler hätten, wenn sie denn diesen Text von Friedrich aus dem Jahre 1759 gelesen hätten, ihre Kriege zumindest gegen Rußland niemals begonnen – trotz der gegenteiligen Erfahrung von 1917, auf die sich wenigstens Hitler und seine Generale berufen konnten. Aber Friedrich, der ja nicht ohne taktische und strategische Begabung war, hat sein Rationalisierungsargument den Nachfolgern leider nicht vermitteln können. Sonst wäre – vielleicht – Millionen von Soldaten der Tod, aber mehr noch Millionen von Zivilisten die Ermordung erspart geblieben.

Ein weiterer Aspekt in der Rezeptionsgeschichte von Stalingrad läßt sich hinzufügen, der durch den Historikerstreit eine neue 13Bedeutung gewonnen hat: Läßt sich Sinn oder Zweck der Stalingradschlacht durch die gleichzeitig laufende Judenvernichtung aufhellen? Da stellt sich die Frage: Hat Stalingrad die Judenmorde eher gesteigert oder gebremst? Offensichtlich handelt es sich um eine Steigerung der Vernichtungsexzesse, denn das Menetekel von Stalingrad hat die parallel laufenden Aktionen in Maidanek, Treblinka, Auschwitz und ihresgleichen nirgends...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Pädagogik - Erziehungswissenschaft

Weitere Zeitschriften

Berufsstart Gehalt

Berufsstart Gehalt

»Berufsstart Gehalt« erscheint jährlich zum Sommersemester im Mai mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

BMW Magazin

BMW Magazin

Unter dem Motto „DRIVEN" steht das BMW Magazin für Antrieb, Leidenschaft und Energie − und die Haltung, im Leben niemals stehen zu bleiben.Das Kundenmagazin der BMW AG inszeniert die neuesten ...

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler ist das monatliche Wirtschafts- und Mitgliedermagazin des Bundes der Steuerzahler und erreicht mit fast 230.000 Abonnenten einen weitesten Leserkreis von 1 ...

Deutsche Hockey Zeitung

Deutsche Hockey Zeitung

Informiert über das nationale und internationale Hockey. Die Deutsche Hockeyzeitung ist Ihr kompetenter Partner für Ihren Auftritt im Hockeymarkt. Sie ist die einzige bundesweite Hockeyzeitung ...

DHS

DHS

Die Flugzeuge der NVA Neben unser F-40 Reihe, soll mit der DHS die Geschichte der "anderen" deutschen Luftwaffe, den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA-LSK) der ehemaligen DDR ...