Sie sind hier
E-Book

Vom Sog der Massen und der neuen Macht der Einzelnen

AutorGünter Gebauer, Sven Rücker
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641212407
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Wie funktioniert eine Masse?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Massen ein beherrschendes Thema der Politik und Gesellschaft Europas. Im Zeitalter des Individualismus scheinen sie ihre Anziehungskraft und Gefährlichkeit verloren zu haben. Ein Irrtum. Von neuem bewegen Massen große Teile der Gesellschaft. Sie entstehen mit Hilfe moderner Medien in der Popkultur, in Sport und Konsum, in Protestbewegungen und Revolten, in neuen politischen Formationen und in Flüchtlingsströmen. Im Unterschied zu den Massen der Vergangenheit bieten sie den Individuen die Möglichkeit, sich eine imaginäre Größe, ihren Äußerungen und Schicksalen eine Öffentlichkeit zu geben.

Gunter Gebauer und Sven Rücker entwerfen eine neue Theorie der Massen, indem sie Romane und Erzählungen, Filme und Musik auswerten.

Gunter Gebauer, 1944 in Timmendorfer Strand geboren, ist einer der profiliertesten Philosophen Deutschlands, im TV und in den Tageszeitungen wird er regelmäßig zu den wichtigen Themen befragt. Seit 1978 hält er den Lehrstuhl für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin inne, 1993 wurde er Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt bei Pantheon »Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs' (2016).

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Einleitung

Wir leben in einer Gesellschaft der Individuen. Gegenüber den subjektiven Lebensentwürfen der Einzelnen erschien der Begriff der Masse lange Zeit wie ein Überrest aus der Vergangenheit. Die Zeiten, als Massen mobilisiert wurden, sich auf den Straßen versammelten und mit Macht historische Veränderungen herbeiführten, schienen endgültig vorbei zu sein. Das Zeitalter des Individualismus hatte begonnen. In den Sozialwissenschaften wandte man sich den Individuen in ihrer Einzigartigkeit zu. Mittlerweile wissen wir, wie voreilig diese Annahme war. Von den »Occupy«-Protesten über die Revolten des Arabischen Frühlings bis zu den Demonstrationen in Kiew, Istanbul, Seoul, in letzter Zeit London und Berlin war das letzte Jahrzehnt geprägt von vielfältigen Massenbewegungen. Tatsächlich sind die Massen, entgegen der gängigen Annahme eines neuen Zeitalters des Individualismus, nie verschwunden. Seit Langem sind jedoch neue Massen entstanden, die man nur nicht als Massen wahrgenommen hat – vermutlich weil sie so gar nicht dem Bild glichen, das die klassischen Theorien Gustave Le Bons und Gabriel de Tardes von der Masse gezeichnet haben. Die neuen Massen haben sich überall in der Kultur, in der Politik, in Pop und Sport, im Konsum verbreitet. Hier treten sie nicht als zerstörerische Masse und wütender Mob auf, sondern als protestierende, enthusiastische oder hedonistische Massen. Ihre Mitglieder nehmen sich als selbstbestimmte Individuen, wenn nicht sogar als »Singularitäten«[1] wahr.

Seit der »Flüchtlingskrise« 2015 sind die Menschen in den europäischen Staaten wieder mit Massen konfrontiert worden, die den alten Vorstellungen zu entsprechen scheinen. Im Angesicht der Flüchtlingsströme aus Syrien, Afghanistan und den Krisengebieten Afrikas sind die alten Ängste vor den Massen zurückgekehrt. Emotionale Abwehr gegen Massen haben schon die frühen Theoretiker dieses Phänomens zu Anfang des 20. Jahrhunderts angetrieben. Gustave Le Bon befürchtete in seiner 1895 erschienenen Psychologie der Massen, sie würden jede Form der Kultur und Zivilisation zerstören.[2] José Ortega y Gasset warnte 1929 vor einem »Aufstand der Massen«.[3] Die frühen Massenbeschreibungen setzten den Ton, der in der gegenwärtigen Wahrnehmung von Massen nachhallt. Gerade weil die Massen so lange aus dem theoretischen Blickfeld geraten waren, trifft die Wucht ihres Erscheinens die Gesellschaft und Politik unvorbereitet. Insbesondere in Ostdeutschland richten sich populistische Massen unterschiedslos gegen Massen, die von außen kommen, gegen Flüchtlinge, Ausländer, Muslime, Nicht-Deutsche. Jede Gelegenheit ist recht, um etliche Tausend Protestierer (aus Ost und West) auf die Straße zu treiben, die sich aggressiv gegen Überfremdung, Bevormundung, Islamisierung wenden. Als im letzten Sommer bei einem Stadtfest in Chemnitz ein Deutsch-Kubaner unter bisher nicht geklärten Umständen erstochen wurde, woraufhin zwei Flüchtlinge in Verdacht gerieten, rief noch »bevor es die erste offizielle Mitteilung« der Polizei gibt, (…) die Hooligan-Gruppe ›New Society 2004‹ auf Facebook zum Protest auf«. Der Slogan der sofort losmarschierenden Ansammlung von 800 Menschen lautet: »Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat!«[4] Am nächsten Abend mobilisiert das rechte Bündnis »Pro Chemnitz« 6000 Menschen. Neben den neuen Massen, die wir kaum als solche wahrnehmen, scheint es eine Rückentwicklung zu populistischen Massen zu geben, die sich von ihnen deutlich unterscheiden.

Bisher sind kaum neue sozialwissenschaftliche Theorien entwickelt worden, die diesen Wandel beschreiben. Wir stehen vor dem doppelten Problem, mit Massenereignissen konfrontiert zu sein und keine adäquate Theorie zu ihrer Beschreibung zu haben. Uns fehlt es an analytischen Instrumenten, um die gegenwärtigen Massenphänomene theoretisch zu erfassen. Die klassischen Massentheorien lassen sich nur begrenzt auf sie anwenden. »Die Mehrheit der Soziologen«, schreibt Peter Sloterdijk, lässt sich von den veränderten Erscheinungsformen der Masse »zu der Meinung verführen, dass das Zeitalter der Massen abgelaufen sei, in dem die Regie der Masse das Zentralproblem moderner Politik und Kultur darstellte. Nichts könnte falscher sein als diese Ansicht. Allerdings sind die Medienmassen unter dem Einfluss der Massenmedien zu bunten oder molekularen Massen geworden.«[5]

Unter der Bezeichnung »Massen« fassen wir die alten und die neuen Erscheinungen zusammen, unterscheiden aber zwischen neuen und populistischen Massen. Wir heben jedoch für beide hervor, dass sie sich auf besondere Aggregatzustände menschlicher Gemeinschaften beziehen. Sie entstehen dann, wenn viele Menschen an einem (wirklichen oder virtuellen) Ort zusammenkommen und ein gemeinsames Ziel ihres Handelns verfolgen, das sie hier und jetzt erreichen wollen. Aus dieser Situation des gerichteten Miteinanders entsteht eine Übereinstimmung von Aktion, Haltung, Stimmung und Spontaneität. Die neuen Massen unterscheiden sich von den populistischen durch die unterschiedliche Rolle der beteiligten Individuen: Diese lösen sich nicht, wie von den früheren Theorien behauptet, in einem Kollektivsubjekt Masse auf. Die Vorstellung einer bewusstlos agierenden Masse muss heute zurechtgerückt werden. Der Subjektbegriff hat sich zu einem Handelnden mit beschränkter Autonomie verändert, auf der anderen Seite lassen sich die neuen Massen nicht als epidemisches Geschehen zwischen Menschen ohne Bewusstsein auffassen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Massenphänomen diversifiziert. Zum einen ist es aus dem Bereich des Politischen in die meisten Felder der Lebensstile vorgedrungen. Nahezu überall, in Freizeit, in Mode, Kunst, hat sich eine »Massenkultur« entwickelt,[6] die mit Selbstbewusstsein jetzt jene Orte besetzt, die zuvor nur wenigen vorbehalten waren. Neue Massen entstehen zum anderen im Zusammenwirken von digitalen Medien und realer Aktion. Mithilfe der neuen Medien können Massen spontaner agieren, mobiler handeln, schneller wachsen als die klassischen Massen; sie können zeitgleich an verschiedenen Orten erscheinen. Manchmal blitzen sie nur flüchtig auf wie ein flashmob, manchmal nehmen sie mit Wucht die Straßen ein, wie bei politischen Demonstrationen von Radikalen.

Wie können die gesellschaftliche Rolle und politische Bedeutung dieser veränderten Massen beschrieben und beurteilt werden? Antworten auf diese Fragen können bei der Entstehung von Massen ansetzen. Dass die frühen Massentheorien bis heute nachwirken, liegt nicht zuletzt daran, dass Aufstände und Revolten in der Gegenwart nach ähnlichen Schemata zu verlaufen scheinen wie von Le Bon und Tarde angegeben. Diese Auffassung werden wir am Beispiel der Entstehung von realen Massen in unserer Zeit prüfen: Wie entstehen aus unscheinbaren Anfängen große Massenbewegungen, die historische Veränderungen herbeiführen? Die klassischen Theoretiker sind in dieser Frage unzuverlässig – sie projizieren ihre Vorurteile auf das Massengeschehen. Es stellt sich daher die Aufgabe, die Entstehung und das Funktionieren von Massen neu zu beschreiben, insbesondere unter dem Aspekt der veränderten Beziehung zwischen der Masse und den Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt.

Historische Einteilung


Zum Zweck unserer Darstellung unterscheiden wir drei Zeiträume, in denen sowohl die Massen als auch deren theoretische Konzeptionalisierung unterschiedlich ausgeprägt sind. Ausgangsereignis der Theorien der Masse ist die Französische Revolution, gefolgt von den späteren Revolutionen in Frankreich. Auf sie beziehen sich die frühen Theoretiker Gustave Le Bon und Gabriel Tarde. Ihre Überlegungen zielen auf ihre aktuelle Gegenwart um 1900 und die prognostizierte weitere Entwicklung. – Eine grundlegende Veränderung des Massenkonzepts tritt in den USA in den 1930/40er-Jahren ein, die sich im Europa der 1950er-Jahre unter den Bedingungen der Nachkriegszeit auf ähnliche Weise vollzieht. Massen werden nicht mehr als Kräfte von gewaltsamen Umstürzen, sondern als kulturelle Dominanz von Durchschnittsmenschen gesehen, die in friedlichen Verhältnissen eine konformistische Existenz führen. – Ab Mitte der 1960er-Jahre entstehen insbesondere in studentischen Milieus der USA und einer Reihe europäischer Länder neue Massenbewegungen. Sie richten sich gegen die vermeintlich konformistische Existenz der »Massengesellschaft« und organisieren sich als jugendlicher Protest gegen Politik, Konservatismus und Enge der gesellschaftlichen Spielräume. Es geht ihnen um die Suche nach neuen Lebensformen, die über eine längere Lebensspanne hinweg erhalten und weiterentwickelt werden können.

Die Aufeinanderfolge dieser Phasen ist nicht so zu verstehen, dass die eine die andere vollständig ersetzt. In den 50er-Jahren, inmitten der Massengesellschaft amerikanischer Prägung, gab es Jugendrevolten, deren ziellose destruktive Energie den umstürzlerischen Massen der ersten Phase ähnelten. Zur selben Zeit, als in den USA die moderne Konsummasse entstand, formierten sich in Europa die faschistischen Massen. Im Sinne einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) können frühere und spätere Phasen nebeneinander existieren. Im Folgenden werden die drei Phasen kurz gekennzeichnet.

Die erste Phase: Die große Zeit der klassischen Massen und ihrer Theoretisierung war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Masse Gegenstand der Theoriebildung wurde, beschleunigten und...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Berufsstart Bewerbung

Berufsstart Bewerbung

»Berufsstart Bewerbung« erscheint jährlich zum Wintersemester im November mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

Card Forum International

Card Forum International

Card Forum International, Magazine for Card Technologies and Applications, is a leading source for information in the field of card-based payment systems, related technologies, and required reading ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...