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Vom Sprechen zum Schreiben (Konzepte der Humanwissenschaften)

Sprachentwicklung zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr

AutorHelga Andresen
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783608104370
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Die Vorschuljahre sind durch tiefgreifende Veränderungen in der sprachlichen, sozialen und kognitiven Entwicklung geprägt: Kinder entdecken andere Kinder als Spielgefährten, Rollenspiele eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten in vorgestellten Welten, Wörter regen zum Nachdenken über Sprache an, und Schriftzeichen wecken Neugier auf Geschriebenes. Das Buch beschreibt, wie sich Interaktion und Sprache entwickeln, wie Rollen- und Sprachspiele entstehen und die ersten Annäherungen an Schrift erfolgen. Ausgehend von konkreten Handlungssituationen zeigt die Autorin, wie die Kinder sich mit ihrer sozialen Umwelt auseinandersetzen. Sie verbinden dabei häufig rationale Einsichten mit höchst subjektiven, von anderen Menschen kaum nachvollziehbaren Sichtweisen. Die entwicklungsspezifischen Ursachen dieser Besonderheit des Denkens und Handelns von Vorschulkindern werden anschaulich dargestellt. Die Autorin lenkt ihren Blick auch auf die beginnende Schulzeit. Sie erklärt, wie und warum die zuvor beschriebenen Entwicklungsprozesse die Grundlagen für das Lesen- und Schreibenlernen schaffen und welche neuen Anforderungen auf die Kinder zukommen.

<p>Helga Andresen, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik am Institut für Germanistik der Universität Flensburg.</p>

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Leseprobe
Kapitel 8: Über Schrift, Schreiben und Lesen Repräsentation sprachlicher Zeichen durch Schrift und der vorgestellte Andere Sven, Tina und Nikolai sind sechs Jahre alt und werden in ein paar Monaten in die Schule kommen. Im Kindergarten sitzen sie mit Wachsmalstiften vor einem großen Blatt Papier und Sven schreibt (oder malt): Tina: Das ist ne Schlange. Nikolai: Das sieht aus wie ne Schlange. Sven hat unterdessen weitergeschrieben: Er erläutert: Zet! Zet wie Ferkel! Tinas und Nikolais Kommentare leuchten unmittelbar ein, ähnelt das zu Papier gebrachte Zeichen doch erkennbar dem Bild einer leicht gekrümmten Schlange. Die Erläuterung von Sven, dem Zeichenproduzenten, jedoch verblüfft und entzieht sich einer schnellen Deutung, obwohl (oder vielleicht auch weil?) er im Gegensatz zu den beiden anderen bereits mit Buchstaben operiert. Die Benennung zet zeigt, dass er die Absicht hatte, einen Buchstaben zu schreiben und dieses ist ihm auch gelungen, da man das »Z« trotz der - für ein Vorschulkind völlig unbedenklichen - Seitenverdrehung erkennen kann. Häufig führen gerade merkwürdig, unerklärlich erscheinende Äußerungen und Verhaltensweisen zu tieferen Einsichten als solche, die unmittelbar nachvollziehbar sind. Das gilt auch für Svens Äußerung; denn sie kann bei näherer Betrachtung einen Einblick in charakteristische Merkmale von Schrift und von Wegen der Annäherung an Schrift durch Kinder gewähren. Bevor ich jedoch Svens rätselhaften Kommentar zu entschlüsseln versuche, soll die gesamte Situation zwischen den drei Kindern in Augenschein genommen werden. Zeichen und Schriftzeichen Beide zu Papier gebrachte Zeichen, das Z wie das Schlangen-S, sind eindeutig an Buchstaben orientiert. Sven benutzt den Wachsstift nicht, um ein Bild zu malen oder etwas zu zeichnen, sondern als Schreibgerät. Er will offensichtlich Buchstaben produzieren. Diese Absicht liegt durch den Situationskontext nahe, da an dem Morgen, an dem sich die wiedergegebene Interaktionsszene abspielt, einige Studentinnen im Kindergarten zugegen sind, um mit den Kindern über ihre Erwartungen für die nahe Schulzeit zu sprechen. Die Kinder thematisieren daraufhin sofort Lesen, Schreiben und Rechnen als die Tätigkeiten, die in ihrer Vorstellung mit Schule verbunden sind. Tina lenkt jedoch die Gedanken mit ihrer Bemerkung Das ist ne Schlange zunächst in eine andere Richtung. Für sie steht die Ähnlichkeit des Zeichens mit dem Tier im Vordergrund; sie deutet Svens Produkt als ein ikonisches Zeichen. Für ikonische Zeichen ist charakteristisch, dass sie über eine wahrnehmbare Ähnlichkeit mit dem, wofür sie stehen, verbunden sind, in diesem Beispiel also die charakteristische Krümmung einer Schlange. Es ist anzunehmen, dass der sechsjährigen Tina sehr wohl bewusst ist, dass sie ein Zeichen und keine Schlange vor sich hat, auch wenn sie wörtlich sagt: Das IST eine Schlange. Damit übernimmt sie einen Sprachgebrauch Erwachsener, den sie vermutlich schon von klein auf kennt, wenn z.B. beim gemeinsamen Bilderbuchbetrachten auf Abbildungen mit den Worten Guck, was ist das? Das ist ein großer Elefant hingewiesen wird. Nikolai nimmt Tinas Deutung auf, differenziert sie aber. Mit dem Wort wie verweist er explizit auf den Zeichencharakter der Linie auf dem Papier, die aussieht wie eine Schlange. Sven äußert sich zur Deutung dieses Zeichens nicht, sondern fährt mit seiner Produktion fort und gibt für das neu entstandene Zeichen klar die Deutung als Buchstabe vor.Wo mag aber der Zusammenhang zwischen dem Buchstaben Z und einem Ferkel, oder genauer: dem Wort Ferkel, liegen? Svens willkürliche und für Außenstehende kaum nachvollziehbare Verbindung zwischen Buchstabe und Wort wirft ein Licht auf ein wesentliches Charakteristikum von Schrift: Denn anders als ikonische Zeichen, die durch eine wahrnehmbare Ähnlichkeit mit dem, wofür sie stehen, verbunden sind, gehören Schriftzeichen zu den symbolischen Zeichen. Nach dem amerikanischen Semiotiker Charles Sanders Peirce, auf den die hier angewandte Klassifizierung von Zeichen zurückgeht, sind symbolische Zeichen mit ihren Referenten - also dem, was sie bezeichnen - nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch Konvention verbunden. Das bedeutet, dass die Zeichenbedeutung auf einer inhaltlich willkürlichen, sozial konstituierten und tradierten Festlegung beruht. In einer Alphabetschrift stehen die Schriftzeichen, also die Buchstaben, für Phoneme. Insofern ist die Beziehung zwischen den Buchstaben des geschriebenen Wortes zu dem gesprochenen Wort keineswegs willkürlich. Das Zet passt deswegen nicht zum Wort Ferkel, weil das Phonem /ts/ in diesem Wort nicht vorkommt. Aber - anders als z.B. die Schlangenlinie mit ihrer Ähnlichkeit zur Form einer Schlange - weist weder der Buchstabe eine Ähnlichkeit mit dem Phonem, das er repräsentiert, auf, noch ist es überhaupt zwingend, dass Schriftzeichen die Lautung eines Wortes wiedergeben. Chinesische Schriftzeichen beispielsweise stehen für Wortbedeutungen, andere für Silben. In logografischen Schriften wie dem Chinesischen steht also ein Zeichen für ein ganzes Wort, in Silbenschriften repräsentiert ein einziges Zeichen die Laute, die in einer Silbe enthalten sind. Wenn Kinder eine Alphabetschrift erlernen, müssen sie sich diese willkürlichen Festlegungen aneignen; sie müssen erkennen, dass die Buchstaben für Phoneme des gesprochenen Wortes stehen und lernen, welche Buchstaben welchen Phonemen zugeordnet sind. Genau dieses hat Sven noch nicht vollzogen und das ist typisch für den Umgang mit Schrift von Vorschulkindern und Schulanfängern. Seine auf den ersten Blick rätselhafte Äußerung tset wie Ferkel zeigt, dass er sich die Schrift und das Schreiben schon in Teilaspekten und in Teilhandlungen angeeignet hat. Denn er kann - wenn auch noch seitenverkehrt - einen Buchstaben schreiben und ihn richtig benennen. Wahrscheinlich hat er auch schon gehört, wie Erwachsene buchstabieren, z.B. ha wie Heinrich, er weiß also, dass Buchstaben auf etwas anderes, ein Wort oder Personen oder Tiere, verweisen. Diese Teilhandlungen bringt er zusammen. Er weiß aber noch nicht, welcher Art die Beziehung zwischen Buchstaben und Wort ist, dass nämlich der genannte Buchstabe den Anlaut des zugeordneten Wortes repräsentiert, und so kommt er zu der zitierten Erläuterung des von ihm geschriebenen Buchstaben. Auf den zweiten Blick erweist sich seine Äußerung also als nachvollziehbar und - auf der Basis seines für ein Vorschulkind durchaus bemerkenswerten Wissens über Schrift - vernünftig. Ich habe offen gelassen, ob Sven den Buchstaben zu dem Wort Ferkel oder aber zu dem Tier, das das Wort bezeichnet, in Beziehung setzt. Seine Äußerung gibt darüber keine Auskunft. Tina und Nikolai sprechen eindeutig über die Schlange, ordnen das Zeichen auf dem Papier also nicht dem Wort zu, sondern dem, wofür dieses steht. Auch das ist typisch für Vorschulkinder und Schulanfänger. Durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen ist gut belegt, dass noch Erstklässler Probleme damit haben, Wörter nach bestimmten Kriterien zum Gegenstand ihres Denkens und Handelns zu machen (Andresen 1985). Fragt man sie z.B., welches Wort länger sei, Straße oder Straßenbahn, so antworten viele Straße. Sie urteilen nicht über das Wort, sondern über das vom Wort Bezeichnete. Das gilt auch für die auf eine entsprechende Frage gegebene Antwort, der Geburtstag heiße Geburtstag, weil es dann viel Kuchen zu essen gebe. Die Kinder gehen von der Wortbedeutung aus und denken bei ihren Antworten an Eigenschaften des Bezeichneten und an ihre Erfahrungen, die sie damit verbinden. Anders als die erwachsenen Frager sprechen die Kinder gar nicht über Wörter. Dieses wird z.B. in der Reaktion eines Kindergartenkindes deutlich, das die Frage einer Studentin, wie man Judo schreibe, zurückwies mit der Begründung: Judo schreibt man nicht, Judo macht man. In einer Übergangsphase, während sie schon lesen und schreiben lernen, verfolgen einige Kinder die Strategie, Wörter nach wie vor vom Inhalt her zu beurteilen, in ihren Begründungen jedoch auf formale, durch die Schrift dargestellte Eigenschaften abzuheben. Sie nennen dann beispielsweise Straße als das längere Wort, begründen dieses aber damit, dass das Wort mehr Buchstaben habe als das Wort Straßenbahn (vgl. Januschek u.a. 1978). Die Orientierung der Kinder auf den Wortinhalt und ihre damit verbundenen Erfahrungen ist völlig einleuchtend, wenn man sich bewusst macht, dass ihr Denken in der Oralität, d. h. der mündlichen Sprache wurzelt. Die zentrale Funktion von Sprache liegt darin, Bedeutungen zu vermitteln und Handlungsintentionen zu verwirklichen. Im 3. Kapitel wurde dargestellt, dass Kinder mit ca. 9 Monaten die Intentionalität menschlichen Handelns erfassen und dass damit eine entscheidende Voraussetzung für den Spracherwerb geschaffen wird. In den darauf folgenden Jahren lernen sie, Sprache grammatikalisch korrekt, bedeutungshaltig und ihren Handlungszielen angemessen zu verwenden. Die Analyse der sprachlichen Mittel, des Codes, mit dem sie kommunizieren, ist dafür nicht notwendig. Die Fähigkeit, beispielsweise den Anlaut eines Wortes zu bestimmen oder die Länge eines Wortes zu erkennen, wird erst beim Lesen- und Schreibenlernen relevant.
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