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E-Book

Wachstum neu denken

Was die Wirtschaft aus den Krisen lernen muss

AutorJames K. Galbraith
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783858697011
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Der renommierte US-amerikanische Wirtschaftsprofessor James K. Galbraith setzt die jüngste Finanz- und Schuldenkrise in einen größeren zeitlichen Rahmen - vom Nachkriegsboom über die Dotcom-Blase bis hin zum Immobiliencrash - und zeigt, dass der Wachstumsglaube de facto ein historischer Irrtum ist. Schon längst sind die Ausnahmen die Regel. Fundiert und anschaulich legt er in diesem Buch dar, warum es keine Rückkehr zur »Normalität« geben wird und was das für die globale Wirtschaft und die Politik bedeutet.

James K. Galbraith, geboren 1952, Sohn von John Kenneth Galbraith, ist Wirtschafts-professor an der University of Texas in Austin. Er gehört zu den schärfsten Kritikern der amerikanischen Wirtschaftspolitik, schreibt u.?a. für The Nation und The Progressive und ist Autor von mehreren Büchern über Finanzwirtschaft und ökonomische Ungleichheit. Im Rotpunktverlag erschienen: Der geplünderte Staat oder Was gegen den freien Markt spricht (2010).

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Leseprobe

Teil I
Im Garten der Optimisten


 

Kapitel 1
Das unendliche Wachstum


Um zu verstehen, weshalb die Weltöffentlichkeit den Ausbruch der Großen Finanzkrise mit solcher Fassungslosigkeit verfolgte, muss man sich die Mentalität jener Leute vor Augen führen, die unsere Erwartungen in den Jahren vor der Krise formten: die Führungsriege der akademischen Wirtschaftswissenschaften. Die meisten Spitzenökonomen von heute absolvierten ihre Ausbildung in der Zeitspanne von den späten 1960er- bis zu den 1980er-Jahren. Aber ihre Gesinnung geht weiter zurück: in die Nachkriegszeit und die Anfänge des Kalten Kriegs, betrachtet aus den Cockpits von Cambridge, Massachusetts, und Chicago. An den dortigen Universitäten entstanden damals die modernen Grundsätze der amerikanischen Ökonomie, die noch heute vorherrschen.

Diese Lehren führten das Konzept des ökonomischen Wachstums in die Volkswirtschaftslehre ein; im Lauf mehrerer Jahrzehnte gelang es ihnen, die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner vom Glauben zu überzeugen, dass Wachstum nicht nur wünschenswert, sondern auch normal, konstant und voraussehbar sei. Wachstum wurde zur Lösung für die meisten (wenn auch nicht für alle) alltäglichen ökonomischen Probleme, insbesondere Armut und Arbeitslosigkeit. Wir lebten in einer Kultur des Wachstums; es zu hinterfragen war, naja, Ausdruck von Gegenkultur. Die Funktion des Staates bestand darin, das Wachstum zu erleichtern und zu fördern, und darüber hinaus vielleicht die zyklischen Schwankungen abzuschwächen, die sich von Zeit zu Zeit über den zugrunde liegenden Trend legen mochten. Dass das Wachstum ausbleiben könnte, lag jenseits der Vorstellungskraft. Zuweilen traten zwar Abschwünge auf – man nannte sie jetzt Rezessionen – aber auf eine Rezession folgte stets der Aufschwung und letztendlich die Rückkehr zum langfristigen Trend. Dieser Trend war definiert als der potenzielle Output, der langfristige Trend bei hoher Beschäftigung, der damit zum Richtwert wurde.

Um zu sehen, was daran neu war, ist es sinnvoll, diese Periode sowohl von der viktorianischen Mentalität des 19. Jahrhunderts abzugrenzen, wie sie Karl Marx oder John Maynard Keynes beschrieben hatten, als auch von der alltäglichen Erfahrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im viktorianischen England bestand das höchste Ziel für die Gesellschaft nicht im Wirtschaftswachstum, wie wir es verstehen. Ziel war vielmehr die Investition oder die Kapitalakkumulation. Wie Marx es ausdrückte: »Akkumuliert, akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!« Keynes formulierte es in Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles (1919 erstmals unter dem Titel The Economic Consequences of the Peace in London erschienen) folgendermaßen:

»Europa war sozial und ökonomisch so organisiert, dass eine maximale Kapitalakkumulation möglich war. […] Hierin lag in der Tat die hauptsächliche Berechtigung des kapitalistischen Systems. Hätten die Reichen ihren neuen Reichtum zum eigenen Vergnügen ausgegeben, hätte die Welt schon vor langer Zeit eine solche Ordnung unerträglich gefunden. Doch sie sparten und horteten wie die Bienen, was der gesamten Gesellschaft zugute kam – auch wenn sie selbst damit engere Ziele verfolgten.« (Keynes 2014, S. 51)

Aber Akkumulieren wofür? Im Prinzip für Profit, Macht und sogar fürs Überleben. Es war etwas, zu dem sich die Kapitalisten aufgrund ihrer ökonomischen und sozialen Stellung verpflichtet fühlten. Es war nicht der Zweck der Akkumulation, den breiteren Interessen der Allgemeinheit zu dienen oder eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards herbeizuführen. Überhaupt machten sich die Ökonomen des 19. Jahrhunderts keine großen Hoffnungen auf einen Anstieg des Lebensstandards: Die »Malthusianische Falle« (bei der das Bevölkerungswachstum das Ressourcenwachstum übersteigt) und das eherne Lohngesetz von Ferdinand Lassalle zählten damals zu den Leitmotiven. Letzteres besagte, dass der Lohn zwangläufig das Existenzminimum nicht über längere Zeit übersteigen könne. Und selbst als die Ressourcen zunehmend im Überfluss vorhanden waren, untermauerte die von Marx formulierte Dynamik – die Aneignung von Mehrwert durch die Kapitalbesitzer – die Botschaft, dass die Arbeiter keine anhaltenden Gewinne zu erwarten brauchten. Die Konkurrenz unter den Unternehmern, die auch die Einführung von Maschinen umfasste, hielt die Nachfrage nach Arbeitskraft und den Wert der Löhne gering. Marx schreibt:

»Gleich jeder andren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit soll sie [die Maschinerie] Waren verwohlfeilern und den Teil des Arbeitstags, den der Arbeiter für sich selbst gebraucht, verkürzen, um den andren Teil seines Arbeitstags, den er dem Kapitalisten umsonst gibt, zu verlängern. Sie ist Mittel zur Produktion von Mehrwert.« (Marx 1968, S.391)

Doch der Lebensstandard verbesserte sich tatsächlich, wenn auch sehr langsam. Weshalb dies so war, war den damaligen Ökonomen ein Rätsel. Die Verbesserung konnte auf die Expansion der Kolonien zurückzuführen sein, genauer gesagt auf die Erschließung neuer Gebiete für die Landwirtschaft und den Bergbau, was die Bedeutung des Kolonialismus in jener Ära erklärt. Doch im 19. Jahrhundert lehrte die Ökonomie, dass solche Gewinne kurzlebig sein mussten: Bald würde das Bevölkerungswachstum und die kapitalistische Konkurrenz die Löhne wieder nach unten drücken. Auch in einer wohlhabenden Gesellschaft würden letzten Endes tiefe Löhne gezahlt werden, und die Arbeiter würden in der Armut verharren. Diesem düsteren Fatalismus – der im Widerspruch stand zur Entwicklung in Europa und Amerika – ist es zu verdanken, dass die Volkswirtschaftslehre als »trübsinnige Wissenschaft« bezeichnet wurde.

Dann kamen die zwei großen Kriege des 20. Jahrhunderts, dazu die Russische Revolution und die Große Depression. Die menschlichen und technischen Möglichkeiten weiteten sich dramatisch aus, und mit dem Beginn des Ölzeitalters entfiel das Problem des Rohstoffmangels. Aber das zivile Leben erfuhr trotz dieser Veränderungen keine Verbesserung: Abgesehen vom kurzen Boom in den 1920er-Jahren stagnierten die materiellen Lebensumstände in den meisten Industrieländern, oder sie nahmen sogar ab oder wurden durch die Zwänge des Kriegs beschränkt. Die Große Depression, die Mitte der 1920er-Jahren in Großbritannien und 1929 in den Vereinigten Staaten begann, schien das Ende des viktorianischen Systems der Akkumulation zu markieren – und damit auch das Ende der von Spannungen gekennzeichneten Symbiose zwischen Arbeit und Kapital, die die Vorkriegsjahre gekennzeichnet hatte. Jetzt war das System selbst in Gefahr.

Für viele stellte sich die Frage: Könnte der Staat die nötige Akkumulation übernehmen? Dies war die Herausforderung des Kommunismus, der unweit in einem parallelen Universum nebst militärischer Macht auch die Fähigkeit demonstrierte, die Armen zu begeistern und die industrielle Entwicklung voranzutreiben. In einigen nichtkommunistischen Ländern wurden die demokratischen Institutionen gestärkt – wie es meist der Fall ist, wenn der Staat Soldaten braucht –, die den wirtschaftlichen Hoffnungen der Bevölkerung Ausdruck verliehen. Für Sozialdemokraten und Sozialisten wurde die Planung zur neuen Alternative – eine Vorstellung, die Friedrich von Hayek mit Schrecken erfüllte; der österreichische Ökonom hatte 1944 argumentiert, dass Planung und Totalitarismus ein und dasselbe seien.

In den 1950er-Jahren beherrschte der Kommunismus fast die halbe Welt. Im nichtkommunistischen Teil ging es nicht mehr darum, den Weg zu ebnen für eine bessere Zukunft in weiter Ferne. Alle Bevölkerungsgruppen fühlten sich berechtigt, hier und jetzt an der verfügbaren Prosperität – etwa in Bezug auf Schulbildung, Autos oder Eigenheime – teilzuhaben. Ihnen diese vorzuenthalten, wäre gefährlich gewesen. Gleichzeitig konnte man jedoch die Zukunft nicht vernachlässigen, und niemand in der »freien Welt« war der Meinung, dass es keinen Bedarf mehr gab an neuen Investitionen und weiterem technischem Fortschritt (besonders angesichts der kommunistischen Gefahr). Deshalb ging es darum, gleichzeitig zu konsumieren und zu investieren, sodass sich ein höherer persönlicher Verbrauch in der Gegenwart mit der Möglichkeit noch größeren Verbrauchs zu einem späteren Zeitpunkt verbinden ließ. Hierin bestand für die Kalten Krieger die intellektuelle Herausforderung und auch der Charme und Nutzen der neuen Wachstumstheorie.

Die Goldenen Jahre

Von 1945 bis 1970 erfreuten sich die Vereinigten Staaten einer wachsenden und weitgehend stabilen Wirtschaft und einer Vormachtstellung in der Welt. Vierzig Jahre später erscheint dies als eine kurzlebige Periode in einer fernen Vergangenheit, aber damals hielten die Amerikaner sie für...

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