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Wahrheit und Lüge in der Politik

Zwei Essays

AutorHannah Arendt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783492964449
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Essays der weltberühmten Philosophin haben nachhaltig das politische Denken in Europa und den USA bestimmt. Der vorliegende Band enthält unter dem Titel »Die Lüge in der Politik« eine kritische Analyse der berühmt-berüchtigten Pentagon-Papers, die 1971 in den USA veröffentlicht worden sind, sowie den umfangreichen grundsätzlichen Essay über »Wahrheit und Politik«.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

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Leseprobe

Wahrheit und Politik


I


Der Gegenstand dieser Überlegungen ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, daß es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet er für das Wesen und die Würde des politischen Bereichs einerseits, was für das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits? Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen? Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in der uns gemeinsamen öffentlichen Welt als ohnmächtig erweist, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit garantiert, weil er ihnen verbürgt, daß es eine Welt gab, bevor sie kamen, und geben wird, wenn sie wieder aus ihr verschwunden sind? Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann? Dies sind unbequeme Fragen, aber sie ergeben sich notwendig aus unseren landläufigen Meinungen in dieser Sache.

Daß Wahrheit und Politik miteinander auf Kriegsfuß stehen, läßt sich immer noch am besten an dem alten lateinischen Wort erläutern, das sagt: Fiat iustitia, et pereat mundus, »Es herrsche Gerechtigkeit, möge auch die Welt darüber zu Grunde gehen«. Wiewohl der vermutliche Autor dieses Spruches – Ferdinand I., der Nachfolger Karls V. – genau meinte, was er sagte, kennen wir ihn eigentlich nur in der Form der rhetorischen Frage: Wer kann sich noch um Gerechtigkeit kümmern, wenn die Existenz der Welt auf dem Spiel steht? Der einzige große Denker, der wagte, die geläufige Redensart gleichsam gegen den Strich zu bürsten und wieder so zu verstehen, wie sie ursprünglich gemeint war, ist Kant, der kurzerhand erklärte: »Der zwar etwas renommistisch klingende ... aber wahre Satz ... heißt zu deutsch: ›es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen‹«. Gewiß, Kant tröstete sich: »Die Welt wird keineswegs dadurch untergehen ... Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unabtrennliche Eigenschaft, daß es ... sich selbst zuwider und zerstörend ist«; aber er meinte auch, daß es sich nicht lohnen würde, in einer aller Gerechtigkeit baren Welt zu leben, daß daher »das Recht dem Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten« und daß vor ihm »alle Politik ... ihre Knie ... beugen (muß)«.[1] Aber ist diese Position nicht unhaltbar? Ist es nicht offenbar, daß die Sorge um die schiere Existenz allem anderen vorangehen muß, daß keine Tugend und kein Prinzip bestehen bleiben, wenn die Welt selbst, in der allein sie sich manifestieren können, in Gefahr gerät? War das siebzehnte Jahrhundert nicht völlig im Recht, wenn es nahezu einmütig erklärte, das höchste Gesetz des Staates sei seine eigene Sicherheit, so daß etwa »der Inhaber der Regierung geradezu ein Verbrechen begehen würde, wollte er zum Schaden seiner Regierung Versprechungen halten«?[2] Nun kann man natürlich eine ganze Reihe von Prinzipien an die Stelle der Gerechtigkeit setzen, und wenn wir im Sinne unserer Überlegungen den alten Spruch abwandeln und sagen: Fiat veritas, et pereat mundus, so scheint es noch einleuchtender, daß niemand dies behaupten kann, es sei denn als rhetorische Frage, die das Gegenteil beweisen soll. Teilen wir zudem noch die landläufige Meinung, die politisches Handeln in der Zweck-Mittel-Kategorie begreift, so werden wir sehr schnell den nur scheinbar paradoxen Schluß ziehen, daß das Lügen sehr wohl dazu dienen kann, die Bedingungen für die Suche nach Wahrheit zu etablieren oder zu bewahren. So jedenfalls lesen wir es bei Hobbes, auf dessen unbeirrbare Logik man sich immer verlassen kann, wo es darum geht, Argumente in die ihnen inhärenten Extreme zu treiben, wo ihre Unsinnigkeit offenbar wird.[3] Und da Lügen oft als Ersatz für gewalttätigere Mittel gebraucht werden, gelten sie leicht als relativ harmlose Werkzeuge in dem Arsenal politischen Handelns.

Bei näherem Zusehen jedoch zeigt sich erstaunlicherweise, daß man der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern kann als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wir können uns ohne weiteres eine Welt vorstellen, die weder Gerechtigkeit noch Freiheit kennt, und wir können uns natürlich weigern, uns auch nur zu fragen, ob ein Leben in solch einer Welt der Mühe wert sei. Mit der so viel unpolitischeren Idee der Wahrheit ist das merkwürdigerweise nicht möglich. Es geht ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, die kurze Lebensspanne der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, das zu tun, was Herodot als erster bewußt getan hat – nämlich legein ta eonta, das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.

Der Streit zwischen Wahrheit und Politik hat eine lange und vielfach verschlungene Geschichte, die durch Moralisieren oder Simplifizieren weder einfacher noch verständlicher wird. Seit eh und je haben die Wahrheitssucher und die Wahrheitssager um das Risiko ihrer Unternehmung gewußt: solange sie sich abseits der Welt halten, sind sie nur dem Lachen der Mitbürger preisgegeben, wie Thales dem Lachen der thrakischen Bauernmagd; sollte aber einer versuchen, seine Mitbürger aus den Fesseln des Irrtums und der Illusion zu lösen, so würden sie, »wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, auch wirklich töten« – wie Plato im letzten Satz des Höhlengleichnisses sagt. Dieser platonische Konflikt zwischen dem Wahrheitssucher und seinen Mitmenschen ist weder mit dem lateinischen Spruch noch mit den Staatsräson-Theorien zu erklären, die das Lügen rechtfertigen, um den Bestand der Welt vor Feinden zu schützen. In Platos Gleichnis ist kein Feind erwähnt; die Gesellschaft, aus der sich der Wahrheitssucher löst, lebt friedlich in ihrer Höhle, betrachtet die Schattenbilder der vorbeigetragenen Gegenstände und handelt überhaupt nicht, ist also auch von niemandem bedroht. Die Mitglieder dieses Gemeinwesens haben keinerlei Grund, mit der Wahrheit auf dem Kriegsfuß zu stehen und den Wahrheitssager töten zu wollen, und Plato sagt uns mit keinem Wort, was denn nun eigentlich der Grund für diese erbitterte Feindschaft oder für diesen verzweifelten Hang zur Täuschung und Unwahrheit ist. Hätte er Hobbes gekannt, der meint, daß »Menschen Wahrheit nur willkommen heißen, wenn sie niemandes Vorteil oder Gefallen (pleasure) beeinträchtigt« – eine Selbstverständlichkeit, die Hobbes immerhin für wichtig genug hielt, um sie ans Ende seines Hauptwerks, des Leviathan, zu stellen –, so hätte er wohl damit übereingestimmt, aber nicht mit der weiteren Behauptung, daß es Wahrheiten gibt, die alle Menschen anzunehmen bereit sind. Im Unterschied zu Plato tröstet Hobbes sich mit der Existenz gleichgültiger Wahrheiten, welche Gegenstände betreffen, an denen Menschen kein Interesse haben, und zu ihnen rechnet er mathematische Sätze, die »niemandes Ehrgeiz, Vorteil oder Gefallen zuwiderlaufen«. »Denn«, sagt Hobbes, »wäre der Satz: ›Die drei Winkel eines Dreiecks sind zwei rechten Winkeln gleich‹, etwas, wodurch die Herrschaft oder das Interesse von Machthabern bedroht wird, so zweifele ich nicht, daß diese Lehre wenn nicht bestritten, so doch durch Verbrennung aller Lehrbücher der Geometrie unterdrückt worden wäre, soweit dies im Vermögen der Betroffenen gelegen hätte.«[4]

Zweifellos unterscheiden sich Hobbes’ mathematische Grundsätze entscheidend von den Wahrheiten, die Platos Philosoph von seinem Aufstieg zum Himmel der Ideen in die Höhle der Menschen zurückbringt, wiewohl Plato selbst, der meint, mathematische Wahrheit eröffne die Augen des Geistes für alle Art Wahrheit, diesen Unterschied nicht macht. Hobbes’ Beispiel erscheint uns relativ harmlos; wir nehmen an, daß es im Wesen des menschlichen Verstandes liegt, solche mathematischen Lehrsätze zu produzieren und nachzuvollziehen, und wir schließen daraus, daß »die Verbrennung aller Lehrbücher der Geometrie« den Machthabern auf die Dauer nichts helfen würde. Die Sache liegt bereits erheblich anders mit wissenschaftlichen Entdeckungen; wir können uns durchaus vorstellen, daß die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft von Galilei bis Einstein nicht stattgefunden hätte, wenn die Machtvollkommenheit der katholischen Kirche...

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