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E-Book

Warum Demokratien Helden brauchen.

Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus

AutorDieter Thomä
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783843721523
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Demokratie steckt in der schwersten Krise ihrer Geschichte.  Menschen sehnen sich seit jeher nach Lichtgestalten. Passt das heute noch in unser aufgeklärtes Weltbild? Ja, sagt Dieter Thomä. Er wendet sich gegen diejenigen, die sich in einer postheroischen Gesellschaft einrichten, und zeigt, wie leblos eine Demokratie ist, in der alle gleich sind.  Thomä erklärt, warum heute Menschen gefragt sind, die über sich hinauswachsen und andere motivieren, es ihnen gleich zu tun. Die Demokratie tut gut daran, das Heldentum nicht denen zu überlassen, die autoritär oder fundamentalistisch denken. Denn sie wird nicht nur von Institutionen zusammengehalten, sondern auch von Individuen, die sich für eine Sache einsetzen, die größer ist als sie selbst. Sie machen aus der Kampfeslust eine Tugend und wagen neue Wege. In der Suche nach den richtigen Helden - und im Streit um sie - schärft eine demokratische Gesellschaft ihr Profil. Gerade in Zeiten, in denen sie unter Druck steht, ist dies unverzichtbar.

Dieter Thomä, geboren 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und leitet dort das Masterprogramm 'Management-Organisation-Kultur'. Er war u. a. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Institute for Advanced Study in Princeton sowie Gastprofessor an der Brown University/USA. Er schreibt regelmäßig für die 'FAZ' und andere Zeitungen und Zeitschriften. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen 'Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds', 'Der Einfall des Lebens' und 'Väter. Eine moderne Heldengeschichte'.

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Leseprobe

Einleitung


Heldenplatz


In vielen Städten gibt es Heldenplätze. In Brüssel und Rom dienen sie der Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, in Krakau dem Gedenken an den jüdischen Widerstand gegen die Naziherrschaft. Auf dem Wiener Heldenplatz stehen Statuen von Prinz Eugen, »dem ruhmreichen Sieger über Österreichs Feinde«, und Erzherzog Karl, »dem heldenmüthigen Führer der Heere Österreichs«. Jede Zeit wählt ihre Helden, aber an denen, die verewigt werden sollen, nagt der Zahn der Zeit. Die kürzeste Verweildauer eines Nationalhelden im Pariser Panthéon war fünf Monate.1 Während der rund hundert Jahre seines Bestehens ist auf dem Heldenplatz in Budapest ein Drittel der Denkmäler ausgetauscht worden. Vor wenigen Jahren wurden die faschistischen Symbole auf der Plaza Héroes de España in Melilla beseitigt. Seit einiger Zeit wird in amerikanischen Städten darum gestritten, ob Statuen von Südstaaten-Generälen demontiert werden sollen: Fünfzig von knapp 800 solcher Denkmäler sind zwischen 2015 und 2018 entfernt worden.2

Neben der Umbesetzung oder Absetzung der Helden kommt auch die Umbenennung des ihnen gewidmeten Platzes infrage. Die Bemühungen, den Wiener Heldenplatz in »Platz der Demokratie« umzubenennen, sind freilich im Sande verlaufen. Gegen diese Umbenennung wäre ich auch gewesen – und zwar deshalb, weil sie nahegelegt hätte, dass Helden durch Demokratie ersetzbar wären und in ihr nichts mehr zu suchen hätten. Das stimmt nicht. Nicht jeder Held ist demokratisch, aber jede Demokratie braucht Helden. Welchen Platz Helden in unserer Gesellschaft einnehmen, möchte ich in diesem Buch herausfinden.

Die Helden, die ich suche, sind quicklebendig – anders als jene, derer an Heldenplätzen oder anderen Erinnerungsorten gedacht wird. Und doch lohnt es sich, diese Orte aufzusuchen, an denen Gesellschaften ihre Vorbilder versammeln und ihre Selbstbilder bestimmen. An ihnen wird nämlich deutlich, was für unseren Umgang mit Helden überhaupt gilt: Wenn wir mit ihnen zu tun haben, sind wir immer spät dran.

Nicht immer werden Helden erst von der Nachwelt gekürt, nicht immer kommt der Tod der Ehrung zuvor. Manchmal werden Helden live und in Farbe gefeiert. Aber immer geschieht dies nachträglich, nach ihrer Großtat. Die zu ihnen passende Zeitform ist das Futur zwei: Sie werden Helden gewesen sein. Sie sind früher dran als andere, machen den ersten Zug im Spiel, tun etwas, was nicht erwartet, eingefordert oder angeordnet werden kann. Sie kommen nicht oft, aber unverhofft. Menschen, die Helden gewesen sein werden, gehen in Vorleistung, und die Umwelt, die zur Nachhut wird, schenkt ihnen erst später Aufmerksamkeit und Bewunderung. Helden werden nicht geboren, sie werden gemacht – und zwar rückwirkend.

Der – mehr oder minder große – zeitliche Abstand zwischen einer Großtat und ihrer Heroisierung spiegelt sich in einem – mehr oder minder großen – räumlichen Abstand zwischen Helden und dem Rest der Welt. Gerne stellt man sie auf ein Podest, auf dass sie sich von der Menge abheben. Erkaltet schauen sie auf uns herab. Diese Erhöhung kann aber auch in Form eines spielerischen Rituals erfolgen. So werden Sportler, denen eine vermeintliche Heldentat gelungen ist, von Teammitgliedern oder Fans auf Händen getragen und hoch in der Luft balanciert. Man hebt sie heraus – und zugleich demonstriert man auf diese Weise Verbundenheit mit ihnen.

Das genau ist spannend am Umgang mit Helden: Sie laden ein zu einem Spiel mit Nähe und Ferne. Wir sagen zu ihnen nicht: »Hallo, Nachbarn!« Sie verziehen sich aber auch nicht in den Himmel oder verrammeln sich in Palästen. Helden stehen in der Öffentlichkeit. Sie drücken sich nicht. Zur Not nehmen sie es mit der ganzen Welt auf. Im Glücksfall ziehen sie die ganze Welt auf ihre Seite.

Riesengroß und klitzeklein


Wie geht unsere Gesellschaft mit Helden um? Prominent sind zwei Strategien: Verfremdung und Verniedlichung. Man versetzt Helden in die Ferne oder zieht sie in die nächste Nähe. Man lässt sie nur in Randgrößen zu: entweder riesengroß oder klitzeklein.

XXL-Helden gibt es in rauen Mengen – freilich nur im Film. Die wundersame Vermehrung der Superhelden belegt nicht nur die Geschäftstüchtigkeit von Marvel & Co., sondern auch, dass in den Zuschauern – also in uns – ein unstillbares Bedürfnis nach Heldentum steckt. Dieses Bedürfnis schnellt deshalb in die Höhe, weil Helden außerhalb der Traumfabrik einen schweren Stand haben. Wenn sie in der Wirklichkeit auftreten, machen sie sich klein. Eine Berliner Webseite stellt »Kiezhelden« vor, die zum Beispiel Naturkosmetik oder Secondhand-Mode verkaufen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sucht in einer Anzeige »echte Alltagshelden«, die »Nerven aus Stahl und Herzen aus Gold« haben. Eine Spielzeugfirma verkauft vier Plastikfiguren – Polizistin, Sanitäterin, Feuerwehrmann und Bauarbeiter – als Set von »Alltagshelden« für zwanzig Euro.

Liebling, sie haben die Helden geschrumpft – oder aufgeblasen. Das Heldentum versickert in der Alltagswelt oder verzieht sich in die Scheinwelt. Diese Aufteilung ist bequem für die Seele. Auf der einen Seite erscheint das alltägliche Heldentum nah und greifbar – so, als ob man es sich im Handumdrehen aneignen könnte. Auf der anderen Seite sieht man die Superhelden in einer anderen Liga spielen, lässt sich von ihnen auf eine fantastische Reise mitnehmen und feiert Urlaub vom Ich. Heldentum ist entweder ganz nah oder ganz fern, allgegenwärtig oder nicht von dieser Welt. So haben wir uns das zurechtgelegt ‒ falsch zurechtgelegt.

Unsereins sieht Helden nicht auf Schritt und Tritt und auch nicht morgens im Spiegel. Sie sind keine Menschen wie du und ich, aber Menschen sind sie durchaus – nicht Wunderwesen. Das ist auch gut so, denn deshalb kann man mit ihnen echt etwas anfangen – wenn, ja, wenn man sie denn antrifft.

Krise der Helden


Gerade hieß es: Jede Zeit wählt ihre Helden. Wirklich jede Zeit? Es sieht so aus, als lebten wir in einer Zeit der Heldendämmerung.3 Wenn die moderne Gesellschaft Helden im Alltag verniedlicht oder in eine Scheinwelt abschiebt, dann scheint sie mit ihnen ein grundsätzliches Problem zu haben. Es gibt eine ziemlich große Koalition von Intellektuellen, die glaubt, dass es zurzeit schlecht um Helden bestellt und ihre Existenzgrundlage gefährdet sei. Das Wort »postheroisch« geht immer wieder frisch gezapft über den Tresen der Ideen – wahlweise bezogen auf Politik, Wirtschaft, Kunst, Kriegsführung oder (was wohl nicht das Gleiche ist) Erziehung.4

Die Vertreter dieser großen Koalition können sich nicht recht entscheiden, was vom besagten Verschwinden der Helden zu halten sei. Sie schwanken zwischen Verlusterfahrung und Gewinnerwartung. Mal führt ihr Befund, wir lebten in einer postheroischen Gesellschaft, dazu, dass sie sich trotzig in Heldensehnsucht ergehen, mal finden sie es gerade gut, dass die Welt angeblich in eine postheroische Phase eingetreten ist. Der Abgesang auf den Helden ertönt also in einer traurigen oder einer fröhlichen Version, mit einem Seufzer der Sorge oder einem Seufzer der Erleichterung. Die zwei Arten von Seufzern sind oft kaum auseinanderzuhalten – und das ist kein Zufall.

Die Unschlüssigkeit ist nämlich typisch für alle Zeitdiagnosen, die mit der Vorsilbe »Post-« operieren. Über diese Vorsilbe muss ich ein paar Worte verlieren, denn bei ihr handelt es sich um eine der erfolgreichsten und schlechtesten Erfindungen der neueren Geistesgeschichte. Das Postheroische gehört auf eine Kette, auf der auch Postmoderne, Posthistorie, Postmaterialismus, Poststrukturalismus, Postkolonialismus, Postdemokratie, Posthumanismus, Postkapitalismus, Postdramatisches, Postfaktisches und anderes mehr aufgefädelt sind. Offenbar ist die Menschheit – oder nur ein kleiner, vorwiegend aus Intellektuellen bestehender Teil von ihr – darauf versessen, sich in eine Nachzeit zu versetzen.

Bevor das »Post-« populär wurde, hatte es einen schlechten Ruf. Man erinnere sich an den Spruch Post coitum omne animal triste: Unabhängig davon, ob Tiere oder Menschen nach dem Geschlechtsverkehr wirklich traurig sind, ist jedenfalls klar, dass sie zum »Post«-Zeitpunkt den Höhepunkt hinter sich haben. Warum ist die Vorsilbe »Post-« gleichwohl so attraktiv? Und warum ist diese Attraktion fatal?

Eigentlich ist mit »Post-« nicht furchtbar viel gesagt. Bezeichnet wird damit allgemein eine Phase nach einem Einschnitt oder Ereignis. So spricht man zum Beispiel von postnataler Medizin. Manchmal ist die Verwendung von »Post-« auch Ausdruck einer gewissen Verlegenheit – so etwa, wenn man die disparaten Entwicklungen in der bildenden Kunst um 1900 unter der Überschrift »Postimpressionismus« zusammenfasst.

Die Anziehungskraft des »Post«-Gefühls wächst, wenn Menschen von der schieren Tatsache, dass etwas vorbei ist, ergriffen sind. Es ist kein Zufall, dass die Karriere des »Post-« in einer Nachkriegszeit begann, nämlich in der post-war period nach 1945. Dass der Krieg vorbei war, wurde...

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