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E-Book

Warum uns der Medizinbetrieb krank macht

Warum uns der Medizinbetrieb krank macht

AutorSonia Mikich
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641105082
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Kritischer Report zu einem hochbrisanten gesellschaftlichen Thema
Im deutschen Gesundheitssystem kann man nur mit Glück gesund werden. Dieses Fazit steht am Ende eines mehrmonatigen Leidenswegs, der die renommierte Journalistin Sonia Mikich in lebensgefährliche Situationen bringt. Auf der Basis dieser Erfahrung unterzieht sie die Prozesse im Krankenhaus, die Kommunikationsstrukturen, die Arbeitsverhältnisse und das Selbstverständnis des medizinischen Personals einer vorbehaltlosen Analyse. Warum werden Patienten auch heute noch entmündigt, warum hören Ärzte so wenig zu, warum weiß der eine nicht, was der andere tut, warum werden Patienten mit gedankenlos hingeworfenen Szenarien geängstigt? Warum hat sich nach jahrelangen Debatten über den Medizinbetrieb, der Milliarden Euro verschlingt, so erschreckend wenig verändert? Antworten sucht sie in Gesprächen mit Insidern, die nicht mehr schweigen wollen und die Ursachen der Misere klar benennen. Ein ernüchternder Report aus dem Innern eines kranken Systems, in dem der Notrufknopf längst überall rot leuchtet.

Sonia Seymour Mikich wuchs in London auf, studierte Politologie, Soziologie und Philosophie in Aachen und war für den WDR ab 1992 als Korrespondentin tätig, zunächst in Moskau, ab 1998 in Paris als Leiterin des dortigen ARD-Studios. Von 2002 bis 2012 Redaktionsleiterin von MONITOR, ist sie nunmehr Leiterin der Programmgruppe Inland des WDR. Ihr Buch »Planet Moskau. Geschichten aus dem neuen Rußland« erschien 1998.

Jan Schmitt ist MONITOR-Autor sowie Autor großer TV-Dokumentationen mit Schwerpunkt Gesundheit, Pflege.

Ursel Sieber ist MONITOR-Autorin und Autorin von TV-Dokumentationen sowie des preisgekrönten Buches 'Gesunde Zweifel'.

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Leseprobe

Die Kämpferin
Oberärztin Dr. M. R., Chirurgin

Kritik am System – eine Sache der Männer? Dr. M. R. ist die einzige Ärztin, die mir schreibt, mit mir telefoniert. Kämpferisch, hellwach, bestimmend. Ihre ersten Mails sind knapp formuliert, unterstreichen aber, dass ich die Perspektive des Arztes, der Krankenschwester ebenfalls zu berücksichtigen habe. Sie kritisiert kühl meine Kurzsichtigkeit: Dass ich mich, wie die meisten Menschen, erst dann mit dem System Krankenhaus beschäftige, wenn ich selbst krank werde. Damit trifft sie ins Schwarze. Denn Kritik an den Defiziten im Gesundheitssystem kannte ich, kennen die meisten Menschen nur aus Artikeln oder Fernsehsendungen. Mal sorgen Statistiken über unnötige Hüftgelenk-Operationen für Schlagzeilen. Mal ist es der Organspende-Skandal, mal mangelnde staatliche Aufsicht. Mal gruselt sich die Republik vor Staphylococcus Aureus, dem Krankenhauskeim, der dem Kranken eine gefährliche Infektion bescheren kann: MRSA – inzwischen eine geläufige Vokabel.

Rund 15,4 Millionen Eingriffe wurden 2011 in deutschen Krankenhäusern vorgenommen. Dr. R. ist eine erfahrene Chirurgin, die den Stoff, der zu Statistiken gerinnt, tagtäglich mit ihren Händen bearbeitet. So gerne würde sie mich mitnehmen in diesen Mahlstrom der OP-Tische. Eine Woche lang, dann würde ich genug sehen und sammeln können. Aber externe Augenzeugen? Das bleibt Wunschdenken. Da müsste es Mitspieler geben, auch Klinikchefs, die eine hautnahe Reportage, über längere Zeit hinweg, ermöglichten. Das journalistische Anliegen, ein so komplexes System wie den Krankenhausbetrieb nachvollziehbar abzubilden, müsste begrüßt werden. Dazu müsste mein Fernsehgesicht unbekannt sein. Nun gut, Dr. R. kann sehr genau und lebendig beschreiben. Ich werde zuhören.

Ich fahre ein paar hundert Kilometer weit zu einem kommunalen Krankenhaus mittlerer Größe. Fast konspirativ ist das Treffen. Ich sitze im Eingangsbereich, unauffällig angezogen, ungeschminkt, verstecke mich unter meinem Schal und schaue zu Boden. Schnelle Schritte. Eine Frau winkt mir zu, ich folge ihr in den Oberarzt-Raum. Als Erstes sehe ich ihren Dienstplan und bin erschrocken über die vielen Stunden. Viel eigenes Leben bleibt ihr nicht.

Ihre Augen blitzen – trotz der langen Schicht, trotz der Arbeitsstunden, die noch vor ihr liegen. Kein Zögern unterbricht ihre Erzählung, sie weicht den Fragen nicht aus, Gefühl und Härte sind im Gleichgewicht. Dr. M. R. hat ein klares, schönes Gesicht, sie hat einen klaren, schönen Wunsch: Kranke Menschen sollen nicht mehr »Kunden« oder »Relativgewichte« sein, sondern wieder Patienten.

Alle arbeiten bis zum Anschlag, wir müssen dagegen kämpfen
Protokoll einer Ernüchterung

Meine schwärzeste Stunde erlebte ich, als einer meiner besten Kollegen rausgeschmissen wurde. Er hatte spätabends bei einer alten Dame mit schweren Durchblutungsstörungen und Geschwüren das falsche Bein amputiert. Nicht wieder gutzumachen, so ein Fehler. Aber das Bein hätte später ohnehin abgenommen werden müssen. Ihm war das am Ende eines langen Tages passiert, nach fünfzehn Jahren als Oberarzt. Er war immer ansprechbar gewesen, manchmal zwanzig Stunden am Tag. Eigentlich unglaublich, was er leistete. Ein exzellenter Arzt, ein Top-Operateur, ein charakterlich einwandfreier und guter Mensch. Doch wegen eines einzigen Fehlers gefeuert. Hatte dabei eine Rolle gespielt, dass er sich der ständigen Personalreduktion im Krankenhaus widersetzt und der Geschäftsführung immer wieder die Stirn geboten hatte?

Ich erwarte keine übertriebene Dankbarkeit der Menschen, die ich täglich in unserer Chirurgischen Notaufnahme versorge. Aber ich will fair behandelt und in meinem Beruf als Ärztin anerkannt werden. In letzter Zeit muss ich mir jedoch immer öfter anhören, dass Ärzte Schmarotzer des Systems sind. Und die schrecklich langen Wartezeiten! Als ob ich, als ob unsere Krankenschwestern nur Däumchen drehen und Kaffee trinken! »Straffen Sie die Organisation«, sagen uns die schlauen Unternehmensberater im Krankenhaus. »Geben Sie das Geld besser für Ärzte und Pflegekräfte aus statt für diese Schlaumeier«, sage ich der Geschäftsführung. Es arbeiten eben höchstens zwei Ärzte gleichzeitig in der Ambulanz, die in einer Schicht bis zu hundert Patienten versorgen müssen. Und zwischendurch bringen die Rettungsdienste uns die echten Notfälle, die Schwerverletzten. Da kommt es automatisch zu langen Wartezeiten.

Die meisten Leute wissen nicht, dass wir die Hausarztpraxis nicht ersetzen dürfen, weil wir dafür im Krankenhaus keine Zulassung haben. Wir dürfen bei Notfällen nur in den ersten 24 Stunden oder bei Einweisungen durch einen Facharzt tätig werden. Wenn wir beispielsweise eine zwei Tage alte Wunde behandeln, bekommen wir Probleme mit den Krankenkassen. Sie zahlen dann nicht und sind damit juristisch im Recht. Aber was soll ich einer alten Frau sagen, die seit Tagen Schmerzen im Bein hat und sich kaum bewegen kann? Soll sie erst zum Hausarzt gehen, der keine Zeit hat und sie gleich zum Chirurgen weiterschickt, der sie wiederum an den Radiologen verweist? Drei Termine, das schafft sie doch gar nicht mehr. Und das ganze, teils irrwitzige System versteht sie sowieso nicht. Bei uns wird sie sofort versorgt. Das kostet ihre Krankenkasse übrigens nur zirka 18 Euro. Aber wir bekommen vielleicht sogar noch Ärger mit den niedergelassenen Kollegen: Wie können Sie im Krankenhaus es wagen, uns unsere Patienten wegzunehmen?

Die Arbeit in der Chirurgischen Notaufnahme ist dennoch spannend, dort lässt sich der Tagesablauf in der Regel nicht planen. Vom genervten Geschäftsmann, der mit einer Bagatellverletzung am Finger in die Notaufnahme kommt (»Ich bin Privatpatient und möchte sofort behandelt werden!«) bis zum schwerverletzten Kind, das mit dem Hubschrauber gebracht wird und sofort im Schockraum versorgt werden muss, ist alles möglich. Wir sind hier organisatorisch, körperlich und psychisch oft sehr gefordert. Dass fast 90 Prozent unserer Patienten das Krankenhaus nach unserer Behandlung zufrieden wieder verlassen, hinterlässt ein gutes Gefühl.

Mein Arbeitstag? Ich muss 40 Kilometer zu meinem Dienstort fahren, deshalb stehe ich morgens um Viertel nach fünf auf. Um zwanzig vor sieben bin ich in der Klinik, ziehe mich um und fange an. Zurzeit betreue ich einen Studenten im Praktischen Jahr. Wir gehen morgens noch vor dem offiziellen Dienstbeginn ein Thema durch, später habe ich dazu meistens keine Zeit mehr. Um sieben Uhr gehe ich auf meine Station und mache mit zwei Assistenzärzten eine kurze Visite. Wir haben eine halbe Stunde Zeit für 25 bis 30 Patienten. Weniger als eine Minute pro Patient. Aber es geht bei uns fast immer nur um schnell fassbare Probleme, etwa um einen Knochenbruch, der operiert werden muss, oder um eine Nachblutung nach der Operation oder um Beschwerden, die von einer anderen Fachabteilung mitbetreut werden müssen. Um das seelische Befinden der Patienten können wir uns nicht kümmern, dafür fehlt die Zeit. Früher haben Schwestern und Pfleger das übernommen, jetzt kommen sie wegen ihrer knappen Personalbesetzung nicht mehr dazu. Personalnot bedeutet auch, dass immer weniger Ärzte in Krankenhäusern arbeiten wollen. Wir müssen sie importieren. Sie kommen zunächst für ein Jahr; viele gehen dann in ihre Heimat zurück, weil sie unter den hiesigen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Ich kenne einige, die kaum ein Wort Deutsch konnten, als sie zu uns kamen, und es auch in dem einen Jahr nicht gelernt haben. Gut kommunizieren – wie soll das dann gehen?

Nach der Visite haben wir eine Viertelstunde, um Entlassungsbriefe zu korrigieren und zu unterschreiben, außerdem zeichnen wir die Medikamentenbestellungen ab. Briefe diktieren wir entweder im Nachtdienst oder nebenbei, wenn ein paar Minuten Zeit ist. Wenigstens haben wir Schreibkräfte, so dass ich nur ins Diktafon sprechen muss. In kleineren Häusern werden die Schreibkräfte mittlerweile eingespart, weil die Geschäftsleitung meint, dass ein Arzt den Brief selber in den PC tippen kann (»Nicht umsonst haben Sie studiert«). So kommt es zu manchmal drolligen Briefen aus Textbausteinen, damit es schneller geht.

Vieles im Krankenhaus läuft heute über Computer, was Zeit spart, wenn Rechner und Software schnell sind. Doch für neue Programme und aktuelle Hardware haben die Krankenhäuser oft kein Geld. Unser IT-Support geht übrigens um 16 Uhr nach Hause. Wenn wir, die wir die Rechner ja 24 Stunden am Tag nutzen, ein technisches Problem haben, ist das Pech. Kommt leider öfter vor. Außerdem müssen wir uns wegen des Datenschutzes alle zwei Minuten neu anmelden, wenn wir in dem gerade geöffneten Programm nicht gearbeitet haben. Wir verlieren am Tag unnötig viel Zeit nur mit diesem sinnlosen, kurz getakteten Einloggen. Zeit, die uns für andere wichtige Dinge verloren geht. Auch der Patient erlebt, wie die Bilder, die ich ihm gerade erklären will, alle zwei Minuten vom Bildschirm verschwinden …

Um 7.45 Uhr beginnt die gemeinsame Morgenbesprechung mit den anderen chirurgischen Abteilungen. Wir tauschen aus, was in der Nacht passiert ist, wie viele neue Fälle wir aufgenommen haben, und gehen die Röntgenbilder durch. Ab 8 Uhr haben wir eine Viertelstunde Besprechung, in der die Problemfälle auf Station, die Operationen und der weitere Tagesablauf kurz berichtet werden. Spätestens um 8.20 Uhr müssen wir im OP sein. Jede Minute zählt.

Auf dem OP-Plan stehen meistens vier bis sechs Operationen. Nicht selten müssen wir von diesem Plan abweichen, weil zum Beispiel ein schwerverletzter Patient dazwischenkommt, der sofort operiert...

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