Ein neuer Ansatz:
Nicht das Ergebnis leitet uns, sondern der Prozess!
Der Ansatz von „Sehnsucht und Hunger“ ist im Vergleich zu herkömmlichen Strategien, die sich mit Essproblemen befassen, prozessorientiert – und nicht ergebnisfixiert. Dies sind zwei vollkommen verschiedene Herangehensweisen, sich dem Problem des emotionalen Essens zu nähern. Manchmal werde ich deshalb gefragt, ob das prozessorientierte Vorgehen denn eine Zielsetzung ausschließe. Nein, das tut es ganz und gar nicht!
Der entscheidende Unterschied zwischen einer ergebnisfixierten und einer prozessorientierten Herangehensweise ist, dass bei der ergebnisfixierten das Erreichen des Ziels – also eine Zahl auf der Waage – wichtiger ist als der Weg dorthin. Das hat zur Folge, dass wir Persönlichkeitsseiten in uns, die diesem Vorhaben im Weg stehen, ignorieren, ablehnen oder abwehren müssen.
Ein Beispiel: Wir haben den Wunsch, Gewicht zu verlieren und halten uns dafür an einen Sport- oder Ernährungsplan. Warum wir trotz unserer großen Sehnsucht abzunehmen, einen Essdruck verspüren, ist uns beim ergebnisfixierten Ansatz nicht wichtig. Hauptsache wir erreichen das Ziel, Hauptsache wir nehmen ab! Ereilt uns der Drang, ohne hungrig zu sein essen zu wollen, reißen wir uns zusammen oder wir greifen zu kalorien- oder „punktearmen“ Nahrungsmitteln, wie z. B. Karotten oder Kohlrabi. Unser Denken ist allein auf das Ergebnis in der Zukunft ausgerichtet. Die Gegenwart interessiert uns in Bezug auf unser Gewicht nicht, denn in ihr sind wir ja noch so, wie wir nicht sein möchten.
Wenn Essen nicht mehr nur satt machen soll
Das Problem dabei ist: Wenn wir mehr essen, als unser Körper benötigt, dann nutzen wir die Nahrungsaufnahme nicht nur, um genussvoll unseren physischen Hunger zu stillen. Für emotionale Esser ist Essen mehr als nur Essen. Schokolade oder andere Lebensmittel dienen ihnen über die Nahrungsversorgung hinaus auch als wichtige Helfer in schwierigen Situationen.
Das führt beispielsweise dazu, dass wir eine Mahlzeit zwar hungrig beginnen, aber dann – trotz körperlicher Sättigung – nicht mehr mit dem Essen aufhören können. Unser Magen mag ab einem bestimmten Punkt genug haben, aber unsere Seele noch lange nicht. Wir müssen weiteressen, bis auch die psychologische Wirkung, die wir uns von der Nahrungsaufnahme erhoffen, eingetreten ist: z. B. Ruhe oder Trost.
Bei einem ergebnisfixierten Ansatz wird diese Kopplung von Essen und Emotion nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Und das führt dazu, dass wir am Zielpunkt – dem Erreichen des angestrebten Gewichtes – noch immer von denselben Denk- und Fühlstrukturen beherrscht werden wie in den Startblöcken, als wir uns auf den Weg machten abzunehmen.
Äußerlich mögen wir uns durch eine ergebnisfixierte Gewichtsabnahme verändert haben – wir sind nun dünner –, aber innerlich sind wir noch immer emotionale Esser. Bildlich gesprochen könnte man auch sagen: Mit dieser Art des Abnehmens haben wir den Übergewichtigen in uns nur in ein Korsett gesteckt. Die Verbindung von Essen und Emotion ist nach wie vor in uns aktiv. Früher oder später wird diese dafür sorgen, dass wir dem Essdruck wieder nachgeben und uns erneut wie Versager fühlen werden.
Auf zu neuen Ufern!
Beim prozessorientierten Ansatz von „Sehnsucht und Hunger“ gibt uns das Ziel wie ein Kompass die Richtung vor – ich möchte abnehmen bzw. ich möchte aus meinem leidvollen Essverhalten aussteigen. Das Wichtige dabei ist aber nicht die Fixierung auf das Ziel, sondern das Entscheidende ist der Weg dorthin! Auf ihm erfahren wir, dass in unserem Essproblem – so seltsam es klingen mag – gleichzeitig auch die Lösung liegt. Denn beginnen wir, unseren Konflikt zwischen dem Wunsch abzunehmen und dem Drang, essen zu wollen, in seiner Tiefe zu erforschen, entdecken wir dabei zwangsläufig auch das Fundament unseres emotionalen Essens: unsere biografisch geprägte, individuelle Art des Denkens und Fühlens. Erst indem wir diese tiefer liegenden Strukturen in uns kennenlernen und bearbeiten, eröffnet sich uns eine wirkliche Handlungsalternative. Vorher haben wir keine Wahl, unser Essverhalten nachhaltig zu ändern.
Dass wir emotional essen, kann man nicht von unserer Persönlichkeit trennen. Zu sagen „Der Essdruck gehört nicht zu mir! So bin ich nicht!“ wäre so, als würden wir sagen: „Mein Arm gehört nicht zu mir. Ich möchte ihn nicht haben!“ Dass wir etwas, worunter wir leiden oder von dem wir genervt sind, loszuwerden versuchen, ist sehr verständlich. Aber zu wem sollte der emotionale Essdruck gehören, wenn nicht zu uns? Es ist unsere Hand, die die übermäßigen Mengen an Nahrung zum Mund führt. Auch wenn wir das Empfinden haben, im Moment des Essens nicht mehr der Regisseur in unserem eigenen Film zu sein, sind es dennoch wir, die diese Handlungen vollziehen.
Die interessante Frage, die sich dann stellt, ist doch: Welche Seite in uns übernimmt bei diesem Essensautomatismus die Regie und warum tut sie das? Der Versuch, diese Seite in uns einfach nur abzuwehren, lässt sie nur weiter im Untergrund agieren – machtvoll und dennoch für uns nicht nachvollziehbar.
Flucht ist keine Alternative!
Wenn wir uns von etwas verabschieden möchten, setzt dies voraus, dass wir es vorher erst einmal bewusst in Empfang genommen haben. Das bedeutet nicht, dass wir unser Essproblem gutheißen müssen. Für viele Betroffene ist ihr Gewicht oder ihre Essstörung eine schwere Last. Wie respektlos wäre es da, von einer Akzeptanz ausgehen zu können. Vielmehr bedeutet es, dass wir die Emotionen, die mit unserem Essproblem einhergehen, ganz bewusst an uns heranlassen, und zwar mit allem, was damit einhergeht: mit all den Widerständen, der Ablehnung, der Traurigkeit, der Wut, der Angst usw.
Es mag banal klingen, aber ohne diese Ehrlichkeit im Umgang mit uns selbst werden wir die Verantwortung für unsere Situation nicht übernehmen können. Stattdessen würden wir weiterhin vergeblich vor unserem eigenen Schatten davonzulaufen versuchen. Und dieses innere Fliehen kostet uns unendlich viel Kraft.
Dass wir sind, wie wir sind – dafür gibt es gute Gründe. Diese Gründe aufzuspüren, öffnet uns völlig neue Türen.
Wenn wir uns aber erlauben, nicht an der vielleicht abschreckend wirkenden Oberfläche unseres emotionalen Essens stehenzubleiben, sondern weiterzugehen, werden wir entdecken, was in uns tatsächlich vor sich geht. Wir werden sehen, dass es gute Gründe gibt für das, was wir tun. Wir werden erfahren, dass mit uns alles in Ordnung ist. Solange Essen für uns (noch) eine emotional bedingte Notwendigkeit darstellt, kann unsere Situation nicht anders sein, als sie im Augenblick ist.
Um die prozessorientierte Herangehensweise noch ein wenig stärker zu verdeutlichen, würde ich gerne noch einmal auf das oben genannte Beispiel zurückkommen: Nehmen wir erneut an, wir haben den Wunsch abzunehmen, verspüren aber dennoch den Drang, ohne Hunger essen zu wollen. Bei dem „Sehnsucht und Hunger“-Ansatz bleibt der Fokus nun auf die Gegenwart gerichtet. Wir versuchen nicht, aus diesem Augenblick zu fliehen! Wir lenken uns nicht ab, sondern erkunden, wie es zu diesem widersprüchlichen Verhalten kommen kann. In diesem Moment, in dem wir emotional essen möchten, haben wir die Chance, jene Persönlichkeitsseiten in uns kennenzulernen, die das Essen (noch) als psychologische Hilfe benötigen.
Erst durch diese Kontaktaufnahme, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr vertiefen lässt, können wir das Essen von seiner ernährungsübergreifenden Funktion Schritt für Schritt befreien. Erst wenn wir lernen, uns mehr um uns selbst zu kümmern, können wir das Essen von dieser Aufgabe entbinden.
Innere Impulse und Abläufe – wie auch der Essdruck einer ist – werden bei dieser Herangehensweise also nicht verneint oder ignoriert, sondern ganz im Gegenteil: Der Drang, essen zu wollen, wird auf dieser inneren Forschungsreise ganz bewusst mit einbezogen. Nicht indem wir uns ihm hingeben und wahllos essen, sondern indem wir ihn als Hinweisschild nutzen, um der eigentlichen Ursache für die Kopplung von Essen und Emotion auf den Grund gehen zu können.
Dass dabei die bloße Erkenntnis der Existenz innerer Muster noch keine Wandlung bringt, kennen vermutlich viele Leser. Wir mögen wissen, dass wir das Käsebrötchen essen möchten, damit es uns innere Kraft für die bevorstehenden Aufgaben gibt. Aber dieses Wissen allein nützt uns noch nicht viel.
Ohne den inneren Körper geht nichts
Damit wir nicht auf der Erkenntnisebene steckenbleiben, bezieht „Sehnsucht und Hunger“ den inneren Körper stark mit ein. Die Arbeit mit dem inneren Körper ist eine umfangreiche Vorgehensweise, die ich vor vielen Jahren auf meinem eigenen Weg für mich...