Sie sind hier
E-Book

Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

AutorHannah Arendt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783492992688
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wie handelt man richtig, wenn das moralische »Richtig« dem gesetzlichen »Richtig« widerspricht? Wie reagiert man auf Missachtungen der Menschenrechte durch höchste Regierungsinstanzen? Wie können wir urteilen über die, in deren Haut wir nicht stecken? Mit diesen Fragen, die Hannah Arendt bereits vor über 50 Jahren beschäftigten, werden wir heute wieder verstärkt konfrontiert. Damals wie heute gilt: Persönliche Verantwortung muss sich von politischer Verantwortung unterscheiden. In Arendts klarer und bestechender Sprache gibt dieser wiederentdeckte Aufsatz Antworten auf die häufigsten Fragen unserer Zeit.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?


Vortrag, 1964/65

Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich mit zwei persönlichen Bemerkungen beginne. Wie Sie wissen, verdanke ich die Einladung, hier zu sprechen, der reichlich wilden Kontroverse, die mein Buch über den Eichmann-Prozess ausgelöst hat. Ich sage hier ganz bewusst »ausgelöst« und nicht »verursacht«, denn – und darauf habe ich schon früher hingewiesen – ein Großteil der Kontroverse galt einem Buch, das nie geschrieben wurde. Anfangs wollte ich das Ganze mit einem berühmten österreichischen Bonmot abtun: Nichts ist so unterhaltsam wie der Streit über ein Buch, das niemand gelesen hat. Als dies alles jedoch weiterging und immer mehr Stimmen laut wurden, die mich nicht nur angriffen wegen etwas, das ich nie gesagt hatte, sondern mich im Gegenteil genau für dieses nie Gesagte zu verteidigen begannen, da dämmerte mir, dass es sich bei diesen etwas unheimlichen Darbietungen um mehr als um bloße Sensation und Unterhaltung handeln könnte; dass es um mehr als um »Emotionen« ging, das heißt um mehr als um aufrichtige Missverständnisse, die bereits des Öfteren die Verständigung zwischen Autor und Leser gestört hatten, und auch um mehr handelte als um die üblichen Verzerrungen und Verfälschungen durch Interessengruppen, die viel weniger mein Buch als solches fürchteten als vielmehr, dass es eine unparteiische und eingehende Untersuchung der zur Diskussion stehenden Geschichtsperiode anstoßen könnte.

Was bei den vielen die Kontroverse begleitenden öffentlichen und privaten Diskussionen so sehr ins Auge sprang, war die Tatsache, dass ich eine ganze Reihe der strikt moralischen Fragen, die aufgeworfen wurden, nie gestellt und andere nur beiläufig erwähnt hatte. Ich hatte einen Tatsachenbericht des Prozesses verfasst, und selbst dessen Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« stimmte in meinen Augen so offenkundig mit den Fakten des Falles überein, dass ich jede weitere Erklärung auf faktischer Ebene für unnötig hielt, auch wenn ich natürlich wusste, dass jede von diesem Phänomen abgeleitete Theorie im Widerspruch zu bestimmten traditionellen Vorstellungen vom Charakter des Bösen und vom Wesen menschlicher Gemeinheit stehen würde. (Zu meinem Glück lenkt der Titel des heutigen Vortrags unsere Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.)

Obwohl ich mich, abgesehen von dem Epilog, in dem es mehr um juristische als um moralische Fragen ging, und mit Ausnahme gelegentlicher Nebenbemerkungen, die aber eher politischer denn moralischer Natur waren, strikt an die Tatsachen gehalten hatte und obwohl einige Vertreter des unlauteren Disputs versuchten, die Fakten selbst anzuzweifeln, kamen die meisten aufrichtigen Disputanten sofort auf theoretische Fragen zu sprechen, auf allgemeine Probleme der Moralphilosophie, und zwar ganz so, als stünden diese Probleme nicht nur bei den Lesern, sondern bei jedem, der sich auch nur entfernt mit diesen Dingen beschäftigt, an vorderster Stelle. Mit einigem Entsetzen hörte ich Leute Sätze sagen wie: »Jetzt wissen wir, dass in jedem von uns ein Eichmann steckt«; oder: »Liegt es nicht am modernen Leben, dass wir alle bloße Rädchen in irgendeiner Maschinerie geworden sind?« oder: »Opfer sind eigentlich immer hässlich, kein Wunder, dass Eichmann ›so viel besser wegkommt … als seine Opfer‹«, ein Argument, das umso aufschlussreicher ist, als es nicht das Geringste mit dem zu tun hat, was ich je gesagt oder geschrieben habe, und deshalb zeigt, in welchem Ausmaß Menschen tatsächlich glauben, es sei besser (schöner?), Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden, auch wenn diese Überzeugung ihnen dann doch zu schaffen macht. Oder, auf einer höheren Ebene: »Durch die Leiden wurden die Juden unerträglich, und diesen Krieg haben die Nazis gewonnen«, womit etwas ganz Naheliegendes übersehen wird, nämlich dass, wenn dies wahr wäre, niemand sich zwanzig Jahre später um all diese Dinge kümmern würde; oder: »Wenn das allertragischste Ereignis der Moderne der Mord an den sechs Millionen europäischen Juden ist, dann ist der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem das interessanteste und bewegendste Kunstwerk der letzten zehn Jahre« (wenn dieser oder irgendein anderer Prozess ein »Kunstwerk« ist, dann möchte ich wissen, um was es sich bei einem Gemälde von Picasso oder einem Roman von Faulkner handelt); oder: »Die Banalität des Bösen ist ›als Theorie schwer zu widerlegen‹, weil sie alles ›plausibel‹ erklärt.« (Ich hatte auf eine Tatsache hingewiesen, die ich für schockierend hielt, weil sie unseren Theorien über das Böse widersprach, und von daher auf etwas möglicherweise Wahres, aber doch nicht Plausibles hingewiesen.)

Dabei war ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir alle es noch immer mit Sokrates halten, der gesagt hat, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Diese Annahme erwies sich als Irrtum. Viele waren überzeugt, dass man unmöglich jeglicher Versuchung widerstehen könne und dass man, wenn es hart auf hart komme, keinem von uns trauen solle; dass Versuchung und Zwang ziemlich dasselbe seien. Es war Mary McCarthy die als Erste auf diesen Trugschluss hingewiesen hatte: »Wenn jemand ein Gewehr auf dich richtet und sagt: Töte deinen Freund, oder ich töte dich, dann handelt es sich um eine Versuchung und nichts anderes.« Und während dort, wo das eigene Leben auf dem Spiel steht, eine Versuchung juristisch vielleicht ein Verbrechen entschuldigen mag – eine moralische Rechtfertigung ist sie dennoch nicht. Mir fiel in diesem Zusammenhang nachträglich ein Vorfall ein, der sich vor einigen Jahren im Kontext eines Fernseh-Quiz-Betrugs ereignet hatte. Hans Morgenthau hatte im New York Times Magazine ganz selbstverständlich geäußert, dass es Unrecht sei, um des Mammons willen zu betrügen, dass es doppelt Unrecht sei, in intellektuellen und geistigen Angelegenheiten zu betrügen, und dass es dreifach Unrecht sei, wenn ein (akademischer) Lehrer betrog. Die Reaktionen auf diesen Artikel waren überwältigend negativ: Eine solche Verurteilung sei mit christlicher Nächstenliebe unvereinbar, denn nur Heilige könnten der Versuchung von so viel Geld widerstehen.

Schließlich – und das war in gewisser Weise am erstaunlichsten, da wir es ja doch mit einem Gerichtsverfahren zu tun hatten, dessen Ergebnis in der Regel in einem Urteil besteht, wurde mir vorgehalten, dass es falsch sei, überhaupt urteilen zu wollen; niemand könne urteilen, der nicht dabei gewesen sei. Dies war im Übrigen Eichmanns eigenes Argument gegen den Urteilsspruch des Jerusalemer Landgerichts, welcher besagte, dass es Alternativen gegeben habe und Eichmann sich seinen mörderischen Pflichten hätte entziehen können; er aber bestand darauf, dass es sich dabei um Nachkriegslegenden handle, um Ansichten, die im Nachhinein geschaffen worden seien und von Leuten vorgebracht würden, die nicht wüssten oder vergessen hätten, wie es damals gewesen sei.

Aus zahlreichen Gründen berührt die Debatte darüber, ob es überhaupt möglich und rechtlich zulässig ist zu urteilen, die wichtigste moralische Frage. Es geht hierbei um zwei Dinge: Erstens, wie kann ich Recht von Unrecht unterscheiden, wenn die Mehrheit oder meine gesamte Umgebung die Frage schon vorentschieden hat? Wer bin ich, dass ich richte? Und zweitens, in welchem Umfang, wenn überhaupt, können wir vergangene Ereignisse und Vorfälle beurteilen, bei denen wir nicht zugegen waren? Was das Letztere betrifft, so liegt auf der Hand, dass weder Geschichtsschreibung noch Gerichtsverfahren überhaupt möglich wären, wenn wir uns diese Fähigkeit absprächen. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und feststellen, dass wir in den meisten Fällen, wo wir von unserer Urteilsfähigkeit Gebrauch machen, nachträglich urteilen, und dies gilt gleichermaßen für die Geschichtsschreibung wie für den Richter, der aus gutem Grunde den Berichten von Augenzeugen ebenso misstraut wie dem Urteil von Dabeigewesenen. Und da schließlich die Frage (ob urteilen darf, wer nicht dabei gewesen ist, MLK) für gewöhnlich den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit mit einschließt, möchte ich hinzufügen: Wer hat je behauptet, dass ich, indem ich ein Unrecht verurteile, unterstelle, dass ich selbst davor gefeit wäre, es zu begehen? Selbst der Richter, der einen Menschen wegen Mordes verurteilt, kann danach nur sagen: »And there, but for the grace of God, go I!«

Dies alles sieht also auf den ersten Blick wie ausgemachter Unsinn aus, doch wenn viele Leute – darunter auch intelligente – ohne erkennbare Manipulation Unfug von sich zu geben beginnen, dann geht es gewöhnlich um mehr als bloß um Unfug. Es gibt in unserer Gesellschaft eine weitverbreitete Furcht zu urteilen, was überhaupt nichts zu tun hat mit jenem »Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet«, und wenn diese Furcht meint, niemand solle »den ersten Stein werfen«, dann trifft es die Sache nicht. Denn hinter der Abneigung, über die Taten anderer zu urteilen, lauert der Verdacht, dass eigentlich niemand ein frei handelndes Wesen ist, und somit der Zweifel, ob überhaupt jemand für sein Tun verantwortlich ist oder zumindest für seine Taten einstehen kann. Jeder, der auch nur beiläufig moralische Fragen aufwirft, findet sich sofort konfrontiert mit einem erschreckenden Mangel an Selbstvertrauen und Stolz und mit einer vorgetäuschten Bescheidenheit, die mit »Wer bin ich, dass ich richte?« sagen will: Wir sind alle gleich, gleichermaßen schlecht, und jene, die versuchen oder vorgeben zu versuchen, halbwegs anständig zu bleiben, sind entweder Heilige oder Heuchler, und beide sollten uns...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS ist seit mehr als 25 Jahren die Fachzeitschrift für den IT-Markt Sie liefert 2-wöchentlich fundiert recherchierte Themen, praxisbezogene Fallstudien, aktuelle Hintergrundberichte aus ...

elektrobörse handel

elektrobörse handel

elektrobörse handel gibt einen facettenreichen Überblick über den Elektrogerätemarkt: Produktneuheiten und -trends, Branchennachrichten, Interviews, Messeberichte uvm.. In den monatlichen ...

VideoMarkt

VideoMarkt

VideoMarkt – besser unterhalten. VideoMarkt deckt die gesamte Videobranche ab: Videoverkauf, Videoverleih und digitale Distribution. Das komplette Serviceangebot von VideoMarkt unterstützt die ...