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Was ist der Mensch?

Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten

AutorEric Kandel
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641228590
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Was heißt es, Mensch zu sein? Nobelpreisträger Eric Kandel über die Grundlagen unserer Identität
Was geschieht, wenn unser Gehirn nicht mehr »normal« funktioniert? Wenn es durch Störungen oder Krankheiten wie Alzheimer und posttraumatischen Stress in Unordnung geraten ist? Eric Kandel, einer der führenden Experten der Gehirn- und Gedächtnisforschung, hat sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern komplexe menschliche Verhaltensweisen biologische Ursachen haben. In seinem Buch zeigt er, von Angstzuständen bis zur Schizophrenie, von Sucht bis Bipolarität, wie sehr biologische Prozesse unsere Identität prägen. Denn gerade die Störungen machen auf beeindruckende Weise sichtbar, was es heißt, Mensch zu sein.



Eric Kandel, geboren 1929 in Wien, ist einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 1939 emigrierte er mit seiner jüdischen Familie in die USA. Kandel studierte Geschichte und Literatur an der Harvard University und danach Medizin an der New York University. Seit 1974 ist er Professor an der Columbia University in New York. Für seine Forschung erhielt Eric Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Unter dem Titel »Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes« erschien Kandels Lebens- und Forschungsgeschichte, die zwei Jahre später unter dem gleichen Titel auch verfilmt wurde. Für »Das Zeitalter der Erkenntnis« kehrte der begeisterte Kunstsammler und weltbekannte Naturwissenschaftler zurück in die Stadt seiner Kindheit.

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Leseprobe

Einleitung

W ährend meiner ganzen Berufslaufbahn habe ich mich darum bemüht, die innere Funktionsweise des Gehirns und die Motive des Verhaltens von Menschen zu verstehen. Nachdem ich als kleiner Junge kurz nach der Besetzung durch Hitler aus Wien geflohen war, faszinierte mich eines der größten Rätsel im Dasein der Menschen: Wie kann eine der am höchsten entwickelten und kultiviertesten Gesellschaften auf Erden sich so abrupt dem Bösen zuwenden? Wie treffen Einzelne ihre Entscheidungen, wenn sie vor einem moralischen Dilemma stehen? Lässt sich das gespaltene Ich durch geschickte Interaktionen mit anderen Menschen heilen? Ich wurde Psychiater, weil ich hoffte, solche schwierigen Fragen zu verstehen und entsprechend handeln zu können.

Als mir jedoch bewusst wurde, wie schwer die Probleme des menschlichen Geistes zu fassen sind, wandte ich mich Fragen zu, die mit wissenschaftlicher Forschung eindeutiger zu beantworten waren. Ich konzentrierte mich auf kleine Ansammlungen von Neuronen bei einer sehr einfachen Tierart und entdeckte dabei schließlich einige grundlegende Prozesse, die hinter den elementaren Formen von Lernen und Gedächtnis stehen. Meine Arbeit machte mir viel Spaß und wurde auch von anderen überreichlich gewürdigt, aber mir ist klar, dass meine Befunde nur einen kleinen Schritt auf dem Weg darstellen, mit dem wir am Ende das komplexeste Gebilde im Universum verstehen wollen: den Geist des Menschen.

Es ist ein Vorhaben, das Philosophen, Dichter und Ärzte seit Anbeginn der Menschheit beschäftigt. Am Eingang des Apollotempels in Delphi war das Motto »Erkenne dich selbst« in Stein gehauen. Seit Sokrates und Platon erstmals über das Wesen des menschlichen Geistes nachdachten, haben sich Denker in jeder Generation aufs Neue darum bemüht, die Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, Erinnerungen und kreativen Kräfte zu verstehen, die uns zu dem machen, was wir sind. In früheren Zeiten beschränkten sich solche Bestrebungen auf den intellektuellen Rahmen der Philosophie, beispielhaft verkörpert im »Ich denke, also bin ich« des französischen Gelehrten René Descartes im 17. Jahrhundert. Descartes ging von der Leitidee aus, dass unser Geist vom Körper getrennt ist und unabhängig von ihm funktioniert.1

Einer der großen Fortschritte der Neuzeit war die Erkenntnis, dass Descartes das Pferd von hinten aufgezäumt hatte: In Wirklichkeit muss es heißen »Ich bin, also denke ich«. Diese Umkehr wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts vollzogen, als eine philosophische Schule, die sich mit dem Geist beschäftigte (mit John Searle und Patricia Churchland als wichtigsten Vertretern), mit der Kognitionspsychologie2, der Wissenschaft des Geistes, verschmolz; anschließend verschmolzen beide mit der Neurowissenschaft, das heißt der Wissenschaft vom Gehirn. Das Ergebnis war eine neue, biologische Herangehensweise an den Geist. Es war eine ganz neue Art, den Geist zu erforschen. Sie basiert auf dem Konzept, dass unser Geist ein System von Prozessen ist, die vom Gehirn vollzogen werden, und das Gehirn ist seinerseits eine erstaunlich komplizierte Rechenmaschine, die unsere Wahrnehmung der Außenwelt konstruiert, unsere inneren Erlebnisse erzeugt und unsere Tätigkeiten steuert.

Die neue Biologie des Geistes ist der letzte Schritt in einer intellektuellen Entwicklung, die 1859 mit Darwins Erkenntnissen über die Evolution unserer körperlichen Gestalt begann. In seinem klassischen Werk On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) formulierte Darwin den Gedanken, dass wir keine einzigartigen Wesen sind, die von einem allmächtigen Gott erschaffen wurden, sondern biologische Lebewesen, die durch Evolution aus einfacheren Tieren – unseren Vorfahren – hervorgegangen sind und mit ihnen eine Kombination instinktiver und erlernter Verhaltensweisen gemeinsam haben. Genauer arbeitete Darwin diesen Gedanken in seinem 1872 erschienenen Buch The Expression of the Emotions in Man and Animals (Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren)3 aus. Darin formulierte er einen noch radikaleren, tiefgreifenderen Gedanken: Unsere geistigen Prozesse sind durch Evolution mehr oder weniger auf die gleiche Weise aus Vorstufen bei unseren tierischen Vorfahren hervorgegangen wie unsere morphologischen Merkmale. Das heißt, unser Geist ist nichts Ungreifbares; man kann ihn mit biologischen Begriffen erklären.

Schon bald wurde den Gehirnforschern, darunter auch mir, eines klar: Wenn einfachere Tiere ähnliche Emotionen haben wie wir und beispielsweise auf die Gefahr körperlicher Schädigungen oder eine schlechtere soziale Stellung mit Furcht und Angst reagieren, sollten wir in der Lage sein, Aspekte unserer eigenen Gefühlszustände an solchen Tieren zu studieren. Im weiteren Verlauf wurde durch Forschungsarbeiten an Tiermodellen klar, dass sogar unsere kognitiven Prozesse – einschließlich primitiver Formen des Bewusstseins – durch Evolution aus Vorstufen bei unseren tierischen Vorfahren entstanden sind, wie Darwin es vorausgeahnt hatte.

Dass wir manche Aspekte unserer mentalen Vorgänge mit einfacheren Tieren gemeinsam haben, sodass wir die Funktionsweise des Geistes auf einer elementaren Ebene an solchen Tieren studieren können, ist ein Glück, denn das Gehirn des Menschen ist erstaunlich komplex. Am deutlichsten – und rätselhaftesten – zeigt sich diese Komplexität in unserem Ichbewusstsein.

Das Ichbewusstsein führt uns zu der Frage, wer wir sind und warum wir existieren. Unsere unzähligen Schöpfungsmythen – Geschichten, die jede Gesellschaft über ihren Ursprung erzählt – entstanden aus dem Bedürfnis, das Universum und unseren Platz darin zu erklären. Antworten auf solche existenziellen Fragen zu suchen, ist ein wichtiger Teil dessen, was uns als Menschen ausmacht. Und die Frage, wie die komplizierten Wechselbeziehungen der Gehirnzellen das Bewusstsein und unsere Selbstwahrnehmung entstehen lassen, ist das letzte große Rätsel der Gehirnforschung.

Wie erwächst das Wesen des Menschen aus der physischen Materie des Gehirns? Das Gehirn kann ein Bewusstsein für das Ich herstellen und seine bemerkenswert schnellen, genauen Rechenleistungen ausführen, weil seine 86 Milliarden Nervenzellen – die Neuronen – untereinander über sehr präzise Verknüpfungen kommunizieren. Im Laufe meiner Berufslaufbahn konnten meine Kollegen und ich an einem einfachen wirbellosen Tier, der Meeresschnecke Aplysia, zeigen, dass sich diese Verknüpfungen, auch Synapsen genannt, durch Erfahrungen verändern. Das ist der Grund, warum wir lernen, uns an Veränderungen unserer Umwelt anzupassen. Die Verknüpfungen zwischen den Neuronen können aber auch durch Verletzungen oder Erkrankungen verändert werden; und manche Verknüpfungen bilden sich schon während der Entwicklung nicht normal oder überhaupt nicht. In solchen Fällen ist eine Störung der Gehirnfunktion die Folge.

Die Erforschung von Störungen und Erkrankungen des Gehirns liefert uns heute wie nie zuvor neue Erkenntnisse über die normalen Funktionen unseres Denkorgans. Was wir über Autismus, Schizophrenie, Depressionen und Alzheimer in Erfahrung bringen, kann uns nicht nur helfen, solche Erkrankungen zu verstehen, sondern es liefert auch neue Aufschlüsse über die Neuronenschaltkreise, die an Gedanken, Gefühlen, (Sozial-)Verhalten, Gedächtnis und Kreativität mitwirken. Ganz ähnlich wie Computerkomponenten, deren wahre Funktion erst deutlich wird, wenn sie defekt sind, so werden in einem umfassenderen Sinn auch die Funktionen der Neuronenschaltkreise im Gehirn auf dramatische Weise klar, wenn sie versagen oder nicht mehr richtig funktionieren.

Dieses Buch geht der Frage nach, wie die Prozesse im Gehirn, die unseren Geist entstehen lassen, durcheinandergeraten können, was dann zu den verschiedenen schweren Krankheiten führt, von denen die Menschheit heimgesucht wird: Autismus, Depression, bipolare Störung, Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson und posttraumatische Belastungsstörung. Es erklärt, warum Wissen über solche fehlgeleiteten Prozesse nicht nur unentbehrlich ist, wenn wir neue Therapien für die Krankheiten finden wollen, sondern auch, um die normale Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen. Außerdem macht es deutlich, dass wir unsere Kenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns erweitern können, wenn wir normale Varianten der Gehirnfunktion untersuchen, beispielsweise die Vorgänge, durch die sich das Gehirn in der Entwicklung differenziert und so unsere sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität festlegt. Und schließlich zeigt es, wie wir mit einer biologischen Herangehensweise an den Geist nach und nach auch die Geheimnisse von Kreativität und Bewusstsein lüften können. Insbesondere werden wir bemerkenswerte Fälle von Kreativität bei Menschen mit Schizophrenie und bipolarer Störung kennenlernen, und wir werden feststellen, dass ihre Kreativität aus den gleichen Verknüpfungen zwischen Gehirn, Geist und Verhalten hervorgeht, die auch bei allen anderen Menschen vorhanden sind. Aktuelle Untersuchungen am Bewusstsein und seinen Störungen lassen darauf schließen, dass das Bewusstsein keine einzelne, einheitliche Funktion des Gehirns ist; vielmehr besteht es in unterschiedlichen Zusammenhängen aus unterschiedlichen Geisteszuständen. Ähnliches hatten schon frühere Wissenschaftler entdeckt, und insbesondere Sigmund Freud hatte darauf hingewiesen: Unsere bewussten Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen sind von unbewussten mentalen Prozessen durchdrungen.

In einem umfassenderen Sinn ist die biologische Erforschung des Geistes mehr als nur ein...

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