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Was müsste Luther heute sagen?

AutorHeiner Geißler
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783843705875
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Jeder intelligente Katholik ist im Innern auch immer ein Protestant.' 'Was müsste Luther heute sagen?' ist eine sehr persönliche Annäherung an den Reformator durch den Jesuitenschüler und Katholiken Heiner Geißler. Könnte Martin Luther auch heute die Welt verändern? Was müsste er jetzt in den christlichen Kirchen reformieren? Geißler spannt einen Bogen zwischen Luther und Papst Franziskus. Und er zeigt, warum es zu einem Unglück für die ganze Menschheit werden muss, wenn die Einheit der Kirchen von den Verantwortlichen weiter verhindert wird.

Dr. Heiner Geissler studierte als Mitglied des Jesuitenordens vier Jahre Philosophie und anschließend Rechtswissenschaften. Er war 25 Jahre lang Mitglied des deutschen Bundestages, Landesminister in Rheinland Pfalz, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Bonn und galt als einer der besten politischen Redner der Bundesrepublik. National und international engagierte er sich für die Wahrung der Menschenrechte und die Humanisierung des Globalisierungsprozesses. Er war Autor zahlreicher Bücher, u.a. der Bestseller Was würde Jesus heute sagen? und Sapere aude!. Heiner Geißler verstarb am 12. September 2017.

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Leseprobe

Die geschichtliche Situation


Luther war nicht der einzige Kritiker der katholischen Kirche und der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters und des Beginns der Neuzeit. Es war eine Periode des Umbruchs, wie sie in der Geschichte der Menschheit nur selten vorkam. Die Neue Welt war entdeckt worden. Das ptolemäische Denken und das theozentrische Weltbild gerieten ins Wanken, und Europa war durch das islamisch-türkische Osmanische Reich unmittelbar bedroht. Die Erfindung des Buchdrucks hatte ähnlich revolutionäre Folgen wie heute die Entwicklung der Computer und des Internets. Die europäischen Mächte waren in schwere Kriege verwickelt, und die Autorität des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war angeschlagen und wurde vor allem von Frankreich und England bestritten. Die Kirche und ihre Repräsentanten – Päpste, Bischöfe, Würdenträger – befanden sich zum großen Teil in einer geistigen und moralischen Krise. Das Papsttum hatte eine Periode tiefsten moralischen Zerfalls noch kaum zu überwinden angefangen. Politik und Religion waren so miteinander verwoben, dass die Kirche zum Staat und der Staat zur Kirche wurde. Die Klöster zerfielen, und schon damals wurde den Priestern durch den Zölibat eine Last auferlegt, die nur die wenigsten tragen konnten, so dass sich in den Augen der Bevölkerung der »Sittenverfall« auch unter einfachen Priestern rasch verbreitete. Der immense Geldbedarf der Mächtigen führte zur Ausbeutung der kleinen Leute. Vielerorts erhoben sich die Bauern, weil sie den Frondienst nicht mehr zu tragen fähig und willig waren. Krankheiten und früher Tod waren alltägliche Begleiter, und mittels des Ablasshandels wurde sogar mit Sünden und deren Nachlass erhebliches Geld gemacht und die Kirchen bereichert.

Auch wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Nach dem Niedergang des Nationalsozialismus und ebenso des Kommunismus entsteht global eine neue Ideologie: der religiöse Fundamentalismus, der in seiner Aggressivität gestärkt wird durch die technologische Revolution und die damit verbundene Globalisierung von Ökonomie und Kultur. Was Luther angesichts dieser Zustände heute sagen würde, kann niemand wissen. Aber was er mit seinem theologischen Hintergrund sagen müsste, um die Kirchen und die Gläubigen in vergleichbarer Weise wachzurütteln wie vor 500 Jahren und an ihre weltgeschichtliche Mission zu erinnern, das kann ebenso genau beschrieben werden wie die Chancen, die Inhalte, die Bedingungen für die Überwindung des Schismas in der Westkirche und mit der Ostkirche.

Der Blitzschlag


Im Alter von 22 Jahren geriet Luther 1505 auf der Rückreise von einem Besuch bei seinen Eltern in der Nähe des Dorfes Stotternheim in ein Sommergewitter. Ein Blitzschlag warf ihn zu Boden und versetzte ihn in Todesschrecken. Er flehte zur heiligen Anna um sein Leben und legte das Gelübde ab: »Hilff du, S. Anna, ich will ein Mönch werden Vor Angst gelähmt angesichts eines plötzlichen Todes, sei er zu dem Gelübde gezwungen und genötigt worden. Seine Gefühlswelt reichte von der schrecklichen Gegenwart des lebendigen Gottes bis zur himmlischen Berufung »wie einst Paulus vor Damaskus«.1 Aber er fühlte sich an sein Versprechen gebunden, gab sein gerade erst begonnenes Jurastudium auf und trat aus Sorge um sein Seelenheil ins Kloster ein: »wegen meinem Heil gelobte ich«.2 Mit dem Mönchsein wollte er dem Gericht und der Hölle entkommen. Aus Angst vor dem richtenden Christus wollte er sich mit Beten und Fasten Gott zum Freunde machen. Er ging diesen Schritt, obwohl er dadurch gegenüber seinem Vater ungehorsam wurde, was er als große Sünde empfand, ihn aber nicht von diesem Schritt abhalten konnte.

Dies irae


Wenn ich mit meiner Großmutter hin und wieder in eine Totenmesse ging und deren Sequenz hörte, die lateinisch vorgesungen wurde, überfiel mich regelmäßig ein Gefühl der Beklemmung:

Dies irae dies illa,

Solvet saeclum in favilla:

Teste David cum Sibylla.

Quantus tremor est futurus,

Quando iudex est venturus,

Cuncta stricte discussurus!

Mors stupebit et natura,

Cum resurget creatura,

Iudicanti responsura.

1

Tag der Rache, Tag der Sünden,

Wird das Weltall sich entzünden,

wie Sibyll und David künden.

Welch ein Graus wird sein und Zagen,

Wenn der Richter kommt, mit Fragen,

Streng zu prüfen alle Klagen!

Schaudernd sehen Tod und Leben

Sich die Kreatur erheben,

Rechenschaft dem Herrn zu geben.

In Aufführungen von Mozarts Requiem – etwa unter Leonard Bernstein – kann man diese phantastisch-schreckliche Eskalation erleben, wenn das »Dies irae« nach dem letzten Ton des »Kyrie eleison« schlagartig einsetzt. Doch führte der großmütterliche Marathon-Kirchenbesuch nicht zur Festigung meines Glaubens. Denn als ich im Alter von elf Jahren das Lateinische schon recht gut verstand und begriff, welche Apokalypse hier verkündet wird, kamen mir wegen des »Dies irae« die ersten Gotteszweifel, die in der Folge wuchsen und wuchsen und mich bis heute umtreiben.3

Luthers Sündenangst


Luther aber bekam keine Gotteszweifel. Er glaubte noch an einen richtenden Gott, den gnädig zu stimmen er die Mönchsgelübde abgelegt hatte. Aber schon in den nächsten fünf Minuten konnte die Gnade wieder verloren sein durch einen Verstoß gegen die Ordensregel, einen unkeuschen Gedanken, durch den Zweifel, bei der letzten Beichte alle Sünden bekannt zu haben. Es wird berichtet, dass Luther bis zum Exzess gebeichtet habe.4

Vermutlich zählten zu diesen Anfechtungen Luthers, die ihn das ganze Leben plagten, auch sexuelle Versuchungen. Doch alle Luther-Biographen machen um dieses Thema einen großen Bogen. Luther selber hat das Problem nicht verschwiegen, aber heruntergespielt. Das hängt mit Sicherheit damit zusammen, dass seine katholischen Gegner später behaupteten, Luther habe die Reformation nur deswegen durchgeführt, um seine sexuellen Bedürfnisse ausleben zu können und heiraten zu dürfen.

Das ganze Feld sexueller Betätigung einschließlich gewisser Praktiken innerhalb der Ehe (»in Gedanken, Worten und Werken«5) befand sich in der Rubrik »schwere Sünden«, was allerdings im Spätmittelalter bis zur Renaissance die hohe Geistlichkeit, Fürsten und Adlige in ihrem Sexualverhalten nicht sonderlich beeinflusste, aber vor allem in Deutschland von immer mehr Menschen als Skandal empfunden wurde. Bei gläubigen einfachen Menschen, bei Mönchen und Nonnen mit ihren Keuschheitsgelübden und bei vielen der zu sexueller Enthaltsamkeit verpflichteten Priestern mussten die moraltheologischen Vorgaben zu mehr oder weniger heftigen Gewissensqualen führen. Hinzu kam die tödliche Angst vor dem Fegefeuer, die verzweifelte Frage, ob Gott einem die Sünden vergibt. Luthers Ordensoberer Johann von Staupitz nannte Luthers Sünden zwar »Humpelwerk und Puppensünden«, als dieser ihm seine panischen Ängste beichtete, aber das half Luther auch nicht weiter. Waren es nur »leichte« Sünden oder »schwere« oder gar Todsünden, so quälte er sich durch sein junges Leben.6

Als katholischer Priester steigerte sich seine Sündenangst ins absolut Krankhafte. Jesus war ja in Gestalt des Brotes und des Weines während der Heiligen Messe leibhaftig gegenwärtig und durfte unwürdig nicht gegessen und getrunken werden. Nach einer nächtlichen Pollution, einem Samenerguss mit oder ohne absichtliche Manipulation, stürzte Luther in die schlimmsten Gewissensqualen.7 Es kam vor, dass er während der Messe einem herangerufenen Priester noch einmal beichtete, ein andermal rief Luther in der Messe während des Evangeliums von der Heilung des epileptischen Knaben, wo Jesus dem Dämon gebietet auszufahren: »Ich … nicht, ich … nicht«, und fiel dann übermächtigt zu Boden.8 In einem von ihm gedichteten Kirchenlied heißt es:

Dem Teufel ich gefangen lag,

im Tod war ich verloren,

mein Sünd’ mich quälet Nacht und Tag,

darin ich war geboren.

Ich fiel auch immer tiefer drein,

es war kein Gut’s am Leben mein,

die Sünd’ hat mich besessen.

Sündenkataloge


Im Römerbrief hat Paulus die unentschuldbaren Sünden der Menschheit seit ihrem Bestehen aufgelistet. Er meinte, die Menschen mit diesen Sünden verdienten den Tod (vgl. Röm 1,18 ff.):

Undank Gott gegenüber,

Darstellung Gottes als vierfüßiges und kriechendes Tier,

entehrende Leidenschaften,

lesbische Liebe und Homosexualität,

Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit und Neid,

Mord,

Streit, List und Tücke, Verleumdung und üble Nachrede,

Hochmut und Prahlsucht,

Erfindungsreichtum im Bösen,

Ungehorsam gegenüber den Eltern.

Es ist schlecht vorstellbar, dass Luther sich all dieser Sünden selber bezichtigt hat. Aber im Laufe der Kirchen-, Mönchs- und Nonnengeschichte hat die Moraltheologie jenseits der Zehn Gebote und des paulinischen Sündenkatalogs weitere sündhafte Fallstricke ausgebreitet, in denen sich die Menschen verfangen konnten. Neben den erwähnten sexuellen Verführungen, die bei rechtem Lichte besehen gar keine Sünden waren, konnte man schwere Schuld auf sich laden durch Streit, Lüge, Zwietracht, üble Nachrede, Reden mit einer Frau und Fastenbrechen....

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