Das Ende der Gemütlichkeit, Teil 1
Lisa arbeitet in einem traditionsreichen Münchner Biergarten mit großen Kastanien. Mit zwei Kolleginnen teilt sie sich die Arbeit. Von den insgesamt 30 Tischen bedient jede von ihnen 10 Tische. Lisa liebt ihren Beruf. Sie ist flott und beliebt, macht Witzchen mit den Gästen, lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen und steckt mit ihrer fröhlichen Art die Gäste und ihre Arbeitskolleginnen an. Bei ihrem Chef genießt sie hohes Ansehen, sie ist eindeutig die Beste im Team, was sich auch jeden Abend mit einem üppigen Trinkgeld in ihrem Geldbeutel bemerkbar macht.
Eines Morgens meldet sich ihre Kollegin krank. Sie hat sich den Fuß verstaucht. Der Chef bespricht sich mit Lisa und ihrer Kollegin, und man beschließt, die Tische übergangsweise aufzuteilen, sodass jede einstweilen 15 Tische zu bedienen hat. Was passiert?
Die Herausforderung ist nun, alles etwas schneller zu erledigen. Für die kleine Pause zwischendurch wie auch für die Gäste bleibt deutlich weniger Zeit. Darunter leidet der Spaßfaktor, und abends fällt Lisa nur noch erschöpft auf ihre Wohnzimmercouch. Einen Vorteil hat die Sache. Sie bekommt zwar nicht mehr Geld vom Chef, aber sie hat etwas mehr Trinkgeld, was ihr sehr gelegen kommt. Wider Erwarten kommt die Kollegin nicht nach zwei Wochen zurück. Ihr verstauchter Fuß hat sich in der Zwischenzeit als komplizierter Knöchelbruch erwiesen. Vermutlich wird die Kollegin für mindestens weitere sechs Wochen ausfallen. Das Team samt Chef beschließt, in der Zweier-Besetzung weiterzuarbeiten. Der Zeitraum ist überschaubar, und das Finden und Einarbeiten einer Kollegin erscheint kompliziert und zeitaufwendig. Während Lisa die Situation gut bewältigen kann, kommt ihre Kollegin, nicht ganz so schnell und gewandt wie Lisa, ins Straucheln. Das Kopfrechnen, das ihr sowieso nicht liegt, wird ihr unter dem Druck zur Qual. Ihre Unzufriedenheit wie auch Überforderung wachsen sichtbar, und so verwundert es kaum, dass sie eines Tages nicht mehr erscheint und ihre Kündigung beim Chef auf dem Tisch liegt. Im Gespräch mit Lisa bittet der Chef um ihre Unterstützung in dieser misslichen Lage. Er traut ihr als bester Mitarbeiterin übergangsweise noch weitere 15 Tische zu. Gleichzeitig sieht er natürlich, dass diese Lösung kein Dauerzustand sein kann, und beteuert, sich sofort um eine Aushilfe zu kümmern. Lisa geht mit gespaltenen Gefühlen aus dem Gespräch. Einerseits freut sie sich über die lobenden Worte und das Vertrauen ihres Chefs, andererseits schwant ihr Übles. Sie weiß, dass damit auch viel Druck auf sie zukommt. Sie sieht die Not ihres Chefs, und da sie auch keine bessere Lösung weiß, erklärt sie sich dazu bereit. Sie hofft auf baldige Unterstützung durch eine Aushilfe und geht mit Entschlossenheit an die Arbeit. Nun passieren zwei Dinge: Lisa ist zwar eine sehr leidenschaftliche und erfahrene Bedienung, aber zaubern kann sie leider auch nicht.
Es kommt zu längeren Wartezeiten für die Gäste. Da diese, durstig und hungrig, schnell an ihre körperlichen und nervlichen Grenzen kommen, macht sich Unmut unter ihnen breit. Unter diesem Druck passieren Lisa Fehler, die sie bis dahin noch nie gemacht hat. Sie bringt einen lauwarmen Cappuccino statt dem bestellten Espresso, verwechselt ihre Gäste und kommt mit dem Wegräumen des gebrauchten Geschirrs nicht mehr hinterher. Am schlimmsten für Lisa sind der verloren gegangene gute Kontakt zum Kunden und der fröhliche Austausch. Lisa ist jetzt eindeutig überfordert. Sie merkt das auch, beißt die Zähne zusammen, erhöht das Tempo und hofft sehnsüchtig auf die versprochene Aushilfe. Abends findet Lisa schwer zur Ruhe. Körperlich ist sie zwar vollkommen erschöpft, doch ihre Gedanken kreisen unaufhörlich um die Arbeit. Auch äußerlich gleicht sie inzwischen mehr einem gerupften Huhn als einer feschen Biergartenbedienung.
In der Zwischenzeit hat der innovative Chef die ultimativ gute Lösung gefunden. Nach zermürbenden Versuchen, eine geeignete Aushilfe zu finden, traf ihn die Erkenntnis wie ein Geistesblitz: Ein neues, modernes, computergestütztes Bestellsystem muss her. Damit löst er das Problem nachhaltig und ist gleichzeitig für die Zukunft gut aufgestellt. Es hat sich gezeigt, dass die Arbeit von zwei Mitarbeiterinnen mit Anstrengung zu stemmen war. In absehbarer Zeit wird die erkrankte Kollegin zurück sein, und mithilfe der Arbeitserleichterungen durch das neue Bestellsystem können die beiden den Service im Biergarten gut zu zweit bewältigen. Sehr klug gedacht. Was wäre unsere Wirtschaft ohne die Weitsichtigkeit und Innovationskraft unserer Unternehmer. Dumm ist jetzt nur, dass unsere gute Lisa mit der modernen Technik etwas ungeschickt ist. Nur widerwillig lässt sie sich davon überzeugen, dass dies jetzt die versprochene schnelle und gute Lösung sei. Nachdem der Chef schon davon gehört hatte, dass Mitarbeiter grundsätzlich Angst vor Veränderungen und besonders vor technischen Neuerungen haben, nimmt er ihre Einwände gelassen entgegen und beharrt auf der Umsetzung seiner weitsichtigen Lösung. Bereits nach wenigen Wochen ist eine entsprechende Soft- und Hardware ausgesucht, installiert und in Betrieb genommen. Die kranke Kollegin ist inzwischen in der Reha und wird in spätestens drei Wochen wieder im Einsatz sein. Der Chef lehnt sich in dem guten Wissen, alles und nur das Beste getan zu haben, entspannt zurück. Er wendet seine Aufmerksamkeit nun den einstweilen liegen gebliebenen Aufgabenstapeln zu. Aus seiner Sicht müsste Lisa jetzt wieder zufrieden sein. Falsch gedacht. Stattdessen jammert sie ihm weiterhin die Ohren voll, es wäre jetzt wirklich zu viel. Das Bestellsystem würde nicht richtig funktionieren und alles nur noch komplizierter machen. Er beobachtet, wie sie unmotiviert mit dem Eingabegerät kämpft, und erwischt sie immer wieder dabei, wie sie ihren kleinen Notizblock zückt, statt die Bestellungen direkt in das neue System einzugeben. Dafür hat er kein Verständnis mehr. Bei genauerer Betrachtung stellt er fest, dass Lisa schon länger nicht mehr so adrett, freundlich und souverän ist, wie sie früher einmal war. Gut gebildet und geschult vermutet er, dass sie möglicherweise in ihrem Privatleben Probleme hat und diese mit in die Arbeit nimmt. Er hat da schon einmal etwas von einer kranken depressiven Veranlagung mütterlicherseits gehört. Er findet aber, dass dies ein heikles Thema sei, möchte sie zunächst lieber nicht ansprechen, und beobachtet sie erst mal weiter.
Die Gedanken kreisen unaufhörlich um die Arbeit
Lisa ist nun auf dem besten Weg, in den Augen des Chefs zu einer schlechten Mitarbeiterin, einer sogenannten Low-Performerin zu werden.
Das Ereignis lässt sich grob in drei typische Phasen unterteilen:
- Es entsteht ein betrieblicher Ausnahmezustand.
- Der Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand.
- Der Dauerzustand bringt den Mitarbeiter in den Ausnahmezustand.
Fazit: Das ursprüngliche betriebliche Problem ist nun in den Hintergrund getreten und zum persönlichen Problem des Mitarbeiters geworden.
Was meinen Sie?
- Wie werden sich Lisas Motivation, ihre Gesundheit und ihr Ansehen beim Chef weiterentwickeln?
- Für wen lohnt sich Lisas Einsatz?
- Hat sie eine Alternative?
- An welcher Stelle hätte sie anders reagieren können oder sollen?
- Was ist typisch an Lisas Situation und zeigt uns, worüber wir in der Regel stolpern?
Wir werden dieses plakative, überschaubare Beispiel analysieren und mit seiner Hilfe die typischen kritischen Stolperfallen und Knackpunkte herausarbeiten und Handlungsalternativen aufzeigen.
Was stresst mich, weil ich so bin, wie ich bin?
Meine Arbeit ist mir wichtig
Wenn wir über unsere Arbeit sprechen, sprechen wir von etwas sehr Bedeutsamem. Mit Arbeit erwirtschaften wir unseren Lebensunterhalt. Sie ermöglicht uns, auf eigenen Füßen zu stehen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie gibt unserem Leben Inhalt und Struktur, gestaltet unseren Tagesablauf. Ohne Arbeit befänden wir uns in einem Zustand der Dauerpause, würden uns schrecklich langweilen und unsere Lebensgeister in Tiefschlaf versetzen.
Es ist in uns angelegt, dass wir wachsen und uns entfalten wollen. Wir wollen die Welt entdecken, uns im Tun erfahren, nützlich sein, uns austauschen und ab und zu auch bedeutsam sein. Was in der Kinderzeit der Spielplatz und die Spielkameraden sind, sind im Erwachsenenalter im positiven Fall der Arbeitsplatz und die Arbeitskollegen. Hier können wir unseren Selbstwert steigern, uns gebraucht fühlen, Gemeinschaft erleben, Erfolge feiern, klüger und erfahrener werden und Experten für dies und jenes werden. Wenn es gut läuft, gibt uns Arbeit Sinnerfahrung, macht Spaß und leistet einen wesentlichen Beitrag zu unserer Lebenszufriedenheit und Gesundheit. Hierfür ist aber, wie in vielen anderen Dingen auch, das rechte Maß ausschlaggebend. Bietet uns ein Arbeitsplatz zu wenig Anreize und unterfordert uns, entsteht nicht nur gähnende Langeweile, sondern kann sich auch der Krankheitszustand des »Boreout« entwickeln. Sind wir dauerhaft überlastet, überfordert oder von ausgebrannten Kollegen umzingelt, drohen uns Erschöpfungszustände und das Krankheitsbild des Burnout.
Weil Arbeit so bedeutsam für uns ist, strapazieren Probleme am Arbeitsplatz unser Nervenkostüm enorm. Jede Form der Arbeitsplatzunsicherheit, ausgelöst durch...