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E-Book

Was uns stark macht

Begegnungen mit Patti Smith, Virginie Despentes, Joan Baez, Brigitte Bardot u.a.

AutorAnnick Cojean
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783841217349
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Begegnen Sie den inspirierendsten Frauen unserer Zeit Was hat uns geprägt? Was treibt uns an? Auf diese Fragen lässt Starjournalistin Annick Cojean außergewöhnliche Frauen aus unterschiedlichen Generationen und Bereichen unserer Gesellschaft antworten. Wir hören Patti Smith, wie sie über die unerschütterliche Liebe zu ihrer Mutter und zur Musik als Lebensmotor spricht. Wir erfahren von Bestsellerautorin Virginie Despentes, dass sie sich als junge Frau erst aus der Alkoholsucht befreien musste, um dorthin zu kommen, wo sie heute ist. Joan Baez erzählt von dem großen Glück, ihre Stimme für politische Zwecke einsetzen zu können ... Ein zutiefst berührendes Gesprächsbuch, das so farbenfroh und lebensklug ist, dass man es nicht mehr aus der Hand legt. Gespräche u. a. mit: Patti Smith, Virginie Despentes, Claudia Cardinale, Asli Erdogan, Hélène Grimaud, Joan Baez, Juliette Gréco, Brigitte Bardot, Vanessa Redgrave, Marianne Faithfull u. a.

Annick Cojean arbeitet als internationale Korrespondentin für die französische Tageszeitung Le Monde und ist eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs. Sie hat bereits mehrere preisgekrönte Bücher veröffentlicht, zuletzt den Porträtband 'Was uns stark macht' (2019) über inspirierende Frauen wie Patti Smith, Virginie Despentes, Joan Baez, Asli Erdogan, Vanessa Redgrave u.a. 

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Leseprobe

»Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …«


Ich lächele und versuche, ermutigend zu wirken. Ich kann mir genau vorstellen, welches Wirrwarr von Gedanken, Erinnerungen, Gesichtern dieser Satzanfang auslöst, wenn man gebeten wird, ihn fortzusetzen. Darum wiederhole ich ihn leise und lasse das »wenn …« nachklingen, sodass der Anschluss fast natürlich folgen kann. Als wäre es ganz einfach. Aber ich weiß sehr wohl, dass diese Frage schwindelerregend ist.

Was hat mich aufgebaut, mir etwas verbaut, mich geprägt, gelenkt, erschüttert oder mir Kontur verliehen? Was hat mich dorthin getrieben, wo ich heute bin, zu diesem Beruf, in diese Situation oder einfach bis zu diesem Alter? Welcher Zufall, welche Begegnung, welches Unglück, welche Begabung, welche Wesensart oder vielleicht auch, welche tragischen Umstände haben mein Leben gelenkt? Wogegen habe ich mich aufgelehnt oder was hat mir große Freude bereitet, und hat mir das Flügel verliehen? Oder haben mich diese Erfahrungen belastet? Beunruhigt? Sodass ich kämpfen und mich wehren, hinfallen und wieder aufstehen musste? Habe ich einen Traum verfolgt? Oder hatte ich keinen klaren Kurs vor Augen? Gab es Lichter, die mir den Weg gewiesen haben? Hatte ich einen Schutzengel?

Und meine Eltern? Meine Erzeuger! Welche Rolle haben sie gespielt? Haben sie Schuld auf sich geladen? War unsere Beziehung belastet oder glücklich? Darüber wollen wir sprechen. Oder auch nicht. Ich begleite euch dabei. Ich unterstütze, hake nach, bin neugierig. Zutiefst neugierig auf das, was ich von euch erfahre. Was mich interessiert, ist die Kraft, die einem Werdegang zugrunde liegt. Die versteckten Triebfedern, die Schattenseiten, der Motor. Die Freuden. Wie gestalten wir unser Leben? Was bringt uns voran? Was lernen wir unterwegs? Das fasziniert mich.

Ich habe über zwanzig bezaubernde Frauen mit diesem Satzanfang konfrontiert – im Rahmen eines wöchentlichen Treffens für La Matinale du Monde. Wunderbarerweise haben sie sich bereitwillig auf die Fortsetzung eingelassen und sich der Herausforderung gestellt: der Verkürzung, der Selbstbeobachtung, der selektiven Erinnerung. Sorgfältig und ernsthaft, offen und verstörend. Blitzschnell sind sie zum Wesentlichen gekommen. Und haben mich mitgenommen auf eine Fahrt auf dem Fluss ihres Lebens.

Das Interview ist die Kunst der Begegnung. Selbstverständlich braucht es Vorbereitung. Ich lese, erkundige mich, beschaffe mir Informationsmaterial, komme nicht planlos zu unserem Treffen. Ich habe chronologische Anhaltspunkte, eine Vorstellung davon, was mein Gegenüber bewegen könnte. Aber keinen festen Fragenkatalog, kein Skript, kein Musterformular. Ich lasse mich vom Gespräch treiben, und dann wird gemeinsam improvisiert. Ich höre zu. Ich höre ganz genau zu, bevor ich nachhake. Es ist ein Tanz, zu dem ich auffordere, ein Pas de deux.

Ich komme immer etwas ängstlich an. Was man mir hoffentlich nicht ansieht. Schließlich ist jede Begegnung eine Herausforderung, und ich darf nicht scheitern. Ich stelle mich vor, bedanke mich, ich stöpsele zwei kleine Aufnahmegeräte ein, wobei ich über meine legendäre Unbeholfenheit in Sachen Technik scherze, und dann sage ich ihn, den Satz: »Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …« Wir springen ins kalte Wasser.

Nichts auf der Welt ist jetzt wichtiger als die Person mir gegenüber. Nichts darf mir entgehen, kein Lächeln und keine Tränen in den Augen, kein Zögern, kein Widerspruch, kein Zittern in der Stimme, keine Gereiztheit, kein Geständnis, kein Ausweichmanöver. Ich mache mir keine Notizen, ich lasse den Blick der anderen nicht los. Wir erleben dieses Abenteuer zu zweit. Zu zweit unterhalten wir uns, von Angesicht zu Angesicht. Das ist anstrengend. Und angenehm. Ich bin gespannt. Ich reagiere, ich bin nicht neutral. Zum Teufel mit der vielzitierten kritischen Distanz. Ich bewege mich, ich lache, ich reiße die Augen auf, schüttele den Kopf, bin ergriffen, ja, ergriffen von dem, was mir erzählt wird. Folge meiner Eingebung. Bin empathisch. Die Antworten interessieren mich in höchstem Maße, und das zeige ich deutlich. Ich erwarte sogar, dass sie mich bereichern. Freue mich über Unerwartetes. Es ist verrückt, was für ein subjektives Geschäft das Interview ist.

Vor ein paar Jahren wären meine Fragen nicht dieselben gewesen. Zumindest nicht alle. Ich schwebte wie auf einer Glückswolke. Kriege, Dramen, Katastrophen, über die ich als Auslandskorrespondentin berichtete, hatten mein unerschütterliches Vertrauen ins Leben nicht getrübt. Erstaunlicherweise habe ich immer eine große Lebensfreude empfunden. Hatte nur selten einen Durchhänger, Melancholie kannte ich nicht. Was für meine engsten Freunde, glaube ich, sogar befremdlich war. Als Yasmina Reza, über die ich eines Tages ein Porträt schrieb, mir anvertraute, man habe sie wegen ihres unerbittlichen und klaren Verstandes als Kind oft »alte Seele« genannt, war ich wie gebannt. Fehlte es mir womöglich an Besonnenheit? An einem Gespür für die Vergänglichkeit und Härte des Lebens?

Dabei hatte ich doch im Zuge vieler Reportagen Schreckliches erlebt, Augenzeugen in Not befragt, Beziehungen geknüpft mit Menschen, die aus der Hölle kamen. Ich hatte mich nachts damit gequält, die passenden Worte für ihr Unheil zu finden, um so direkt, so genau wie möglich die Tragik, die Ungerechtigkeit, das Leid zu beschreiben. Ich war verändert zurückgekehrt und wollte meine Leser unbedingt durch die Macht des Schreibens berühren und Brücken bauen zwischen ihnen und den Themen meiner Reportagen. Aber niemals hatte ich selbst, körperlich oder geistig, den wahren Kummer und die Verzweiflung gespürt. Und dann kam es über mich.

Ohne Vorwarnung, ohne Ankündigung, ohne auf Wiedersehen zu sagen sind meine Eltern innerhalb weniger Wochen gegangen. Ich konnte es nicht fassen, war am Boden zerstört. Als ich aus der Bretagne zurückkam, wo meine beiden Brüder und ich das Haus abgeschlossen hatten, in dem so viel gelacht, diskutiert und gesungen worden war (meine Mutter sang immer), fühlte ich mich wie ein »wounded soldier«. Geschlagen, verwundet, benommen. Ausgebremst in meinem Elan. Unendlich traurig. Mit einem Schlag prasselten alle existenziellen Fragen auf mich nieder, die ich bis dahin vernachlässigt hatte. Warum? Für wen? Wie? Wohin? Welcher Sinn? Meine Mutter, meine über alles geliebte Mutter, hatte mir so vieles beigebracht, nur nicht, wie ich ohne sie leben sollte. Und im Regen tanzen. Ich war außer Atem. Erlebte das Fehlen, die eisige Stille, die unaussprechliche Traurigkeit. Ich war untröstlich. Wusste, dass das Glück, oder zumindest das Glück in seiner ganzen Fülle, auf ewig verschwunden war. War das also das Leben? Verlust? Und trotzdem weitermachen?

Le Monde ließ mir freie Hand bei der Wiederaufnahme meiner Interviews unter dem Titel »Ich wäre nicht die, die ich heute bin, wenn …«, an denen ich mich einige Jahre vorher bereits probiert hatte. Jetzt würde ich alle Fragen stellen, die mir in den Sinn kämen. Von den einfachsten – »Wovon haben Sie mit fünfzehn geträumt?« – bis zu den schwierigsten – »Wie soll man mit der Lücke leben, die der Tod hinterlässt?«, »Ist Glück eine Begabung?«, »Gibt es etwas nach dem Tod?«. Das war nicht Ausdruck von Besessenheit, sondern einer neuen Freiheit. Mein Leben hatte sich verändert. Es gab ein Vor und ein Nach diesem Zusammenprall mit dem Tod. Meine Fragestellung erweiterte sich, gewann an Tiefe, und ich wagte mehr. Patti Smith nahm meine Fragen über Trauer und die Lücke durch den Tod unendlich wohlwollend auf. Amélie Nothomb sprach mit mir darüber, was für eine große Angst sie davor hat, ihre Mutter zu verlieren. Joan Baez erzählte mir, wie behutsam sie ihre eigene bis ganz zum Schluss begleitet hatte.

Zumindest eine Sache lernt man, wenn man »reif« wird! Cecilia Bartoli behauptet, mit zweiundfünfzig Jahren eine bessere Sängerin zu sein als mit zwanzig. Ich selbst denke, ich bin heute besser darin, Interviews zu führen, als mit dreißig.

Aber die Begegnung an sich ist nicht alles. Sie muss aufgeschrieben und anderen zugänglich gemacht, so bearbeitet werden, dass das Interview sich fließend liest. Man muss die Aufnahme wieder und wieder hören, selbstverständlich. Aber auch das Gespräch nachbilden, überarbeiten, formen, daran feilen, ihm Gestalt geben, Ausdruck verleihen, Leben einhauchen. Denn die, die es lesen, hören weder den Klang noch den Atem noch sehen sie den Blick meiner Gesprächspartnerin, sodass ich mit Worten, Rhythmus, Zeichensetzung, Pausen und den nachfassenden Fragen ihren Tonfall und ihre Stimme nachbilden muss. Ich habe meine Werkzeugkiste. Ich hobele, ich feile, ich säge. Ich kann ohne Weiteres zwanzig Stunden damit zubringen, den Frauen im Text Gehör zu verschaffen, so getreu wie möglich ihr Gefühl zu übertragen. Das ist harte Arbeit, die zuweilen auch frustriert. Hätte ich doch nur mehr Zeit mit meiner Gesprächspartnerin gehabt! Könnte ich sie doch nur noch einmal sehen! Manche von ihnen habe ich zwischen zwei Flügen getroffen. Andere zwischen zwei anderen Interviews. Oftmals habe ich nur eine Stunde zur Verfügung oder eineinhalb. Nur sehr selten gewährt mir eine drei Stunden. Ich vergesse, dass ich für eine Tageszeitung arbeite. Ich schreibe für die Ewigkeit. Wie vermessen!

Aber warum ein Interviewband nur mit Frauen? Schließlich habe ich Gespräche dieser Art auch mit vielen Männern geführt, und zwar durchaus mit Freude. Weil die Welt der Frauen eine besondere ist und ihr Weg ein Hindernislauf, der mich immer wieder fasziniert. Die hier versammelten Frauen haben sich in einer Welt behauptet, deren Regeln von Männern...

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