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Was unsere Märchen bedeuten

Deutung der bekanntesten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm

AutorÁrpád von Nahodyl Neményi
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl472 Seiten
ISBN9783739289809
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
In unseren Märchen leben uralte Erinnerungen an die vorchristliche heidnische Zeit fort, die in vielen Jahrhunderten mündlich weitererzählt wurden und uns schließlich in den heutigen Märchenfassungen vorliegen. In 18 Kapiteln werden in diesem Buch die bekanntesten Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm unter Berücksichtigung älterer Überlieferungen und ihrer Varianten mythologisch gedeutet. Die in den Märchen auftretenden Figuren werden als ursprüngliche Gottheiten oder Priester und Schamanen des vorchristlichen Kultes gedeutet und der in den Märchen enthaltene und oft nicht mehr erkennbare ursprüngliche Sinn wird entschlüsselt. Mithilfe dieses Wissens wird die Kenntnis eines Märchens umfassend und vollständig, das Märchen wandelt sich von einem bloßen Unterhaltungstext für Kinder zu einer mythologischen Erzählung voller bisher verborgener Weisheit unserer Vorfahren, deren Intention uns nun erst verständlich werden kann. Das Buch deutet ausführlich Märchen wie 'Frau Holle', 'Hänsel und Gretel', 'Dornröschen', 'Rapunzel', 'Schneewittchen', 'Aschenputtel', 'Rotkäppchen', 'Tischlein deck dich', 'Rumpelstilzchen' und viele andere. Die jeweiligen Märchentexte sind vollständig enthalten und mit vielen Bildern illustriert.

Baron Árpád von Nahodyl Neményi (geb. 1958) befaßt sich seit über 30 Jahren mit der Erforschung der vorchristlichen Glaubensvorstellungen unserer Ahnen und hat seine Ergebnisse in zahlreichen Publikationen, teils unter dem Pseudonym "Géza von Neményi" veröffentlicht. Er gilt als einer der bekanntesten Mythologen Deutschlands.

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Leseprobe

1.


Der Bärenhäuter


>Es war einmal ein junger Kerl, der ließ sich als Soldat anwerben, hielt sich tapfer und war immer der vorderste, wenn es blaue Bohnen regnete. Solange der Krieg dauerte, ging alles gut, aber als Friede geschlossen war, erhielt er seinen Abschied, und der Hauptmann sagte, er könne gehen, wohin er wollte. Seine Eltern waren tot, und er hatte keine Heimat mehr; da ging er zu seinen Brüdern und bat, sie möchten ihm so lange Unterhalt geben, bis der Krieg wieder anfinge. Die Brüder aber waren hartherzig und sagten: „Was sollen wir mit dir? Wir können dich nicht brauchen, sieh zu, wie du dich durchschlägst“. Der Soldat hatte nichts übrig als sein Gewehr, das nahm er auf die Schulter und wollte in die Welt gehen. Er kam auf eine große Heide, auf der nichts zu sehen war als ein Ring von Bäumen; darunter setzte er sich ganz traurig nieder und sann über sein Schicksal nach. Ich habe kein Geld, dachte er, ich habe nichts gelernt als das Kriegshandwerk, und jetzt, weil Friede geschlossen ist, brauchen sie mich nicht mehr; ich sehe voraus, ich muß verhungern. Auf einmal hörte er ein Brausen, und wie er sich umblickte, stand ein unbekannter Mann vor ihm, der einen grünen Rock trug, recht stattlich aussah, aber einen garstigen Pferdefuß hatte. „Ich weiß schon, was dir fehlt“, sagte der Mann, „Geld und Gut sollst du haben, soviel du mit aller Gewalt durchbringen kannst, aber ich muß zuvor wissen, ob du dich nicht fürchtest, damit ich mein Geld nicht umsonst ausgebe“. – „Ein Soldat und Furcht, wie paßt das zusammen?“ antwortete er, „du kannst mich auf die Probe stellen“. – „Wohlan“, antwortete der Mann, „schau hinter dich“. Der Soldat kehrte sich um und sah einen großen Bären, der brummend auf ihn zutrabte. „Oho“, rief der Soldat, „dich will ich an der Nase kitzeln, daß dir die Lust zum Brummen vergehen soll“, legte an und schoß den Bären auf die Schnauze, daß er zusammenfiel und sich nicht mehr regte. „Ich sehe wohl“, sagte der Fremde, „daß dir's an Mut nicht fehlt, aber es ist noch eine Bedingung dabei, die mußt du erfüllen“. – „Wenn mir's an meiner Seligkeit nicht schadet“, antwortete der Soldat, der wohl merkte, wen er vor sich hatte, „sonst laß ich mich auf nichts ein“. – „Das wirst du selber sehen“, antwortete der Grünrock, „du darfst in den nächsten sieben Jahren dich nicht waschen, dir Bart und Haare nicht kämmen, die Nägel nicht schneiden und kein Vaterunser beten. Dann will ich dir einen Rock und Mantel geben, den mußt du in dieser Zeit tragen. Stirbst du in diesen sieben Jahren, so bist du mein, bleibst du aber leben, so bist du frei und bist reich dazu für dein Lebtag“. Der Soldat dachte an die große Not, in der er sich befand, und da er so oft in den Tod gegangen war, wollte er es auch jetzt wagen und willigte ein. Der Teufel zog den grünen Rock aus, reichte ihn dem Soldaten hin und sagte: „ Wenn du den Rock an deinem Leibe hast und in die Tasche greifst, so wirst du die Hand immer voll Geld haben“. Dann zog er dem Bären die Haut ab und sagte: „Das soll dein Mantel sein und auch dein Bett, denn darauf mußt du schlafen und darfst in kein anderes Bett kommen. Und dieser Tracht wegen sollst du Bärenhäuter heißen“. Hierauf verschwand der Teufel.

Abb. 1. Der Soldat erschießt den Bären.

Der Soldat zog den Rock an, griff gleich in die Tasche und fand, daß die Sache ihre Richtigkeit hatte. Dann hing er die Bärenhaut um, ging in die Welt, war guter Dinge und unterließ nichts, was ihm wohl und dem Gelde wehe tat. Im ersten Jahr ging es noch leidlich, aber in dem zweiten sah er schon aus wie ein Ungeheuer. Das Haar bedeckte ihm fast das ganze Gesicht, sein Bart glich einem Stück grobem Filztuch, seine Finger hatten Krallen, und sein Gesicht war so mit Schmutz bedeckt, daß, wenn man Kresse hineingesät hätte, sie aufgegangen wäre. Wer ihn sah, lief fort, weil er aber allerorten den Armen Geld gab, damit sie für ihn beteten, daß er in den sieben Jahren nicht stürbe, und weil er alles gut bezahlte, so erhielt er doch immer noch Herberge. Im vierten Jahr kam er in ein Wirtshaus, da wollte ihn der Wirt nicht aufnehmen und wollte ihm nicht einmal einen Platz im Stalle anweisen, weil er fürchtete, seine Pferde würden scheu werden. Doch als der Bärenhäuter in die Tasche griff und eine Handvoll Dukaten herausholte, so ließ der Wirt sich erweichen und gab ihm eine Stube im Hintergebäude; doch mußte er versprechen, sich nicht sehen zu lassen, damit sein Haus nicht in bösen Ruf käme. Als der Bärenhäuter abends allein saß und von Herzen wünschte, daß die sieben Jahre herum wären, so hörte er in einem Nebenzimmer ein lautes Jammern. Er hatte ein mitleidiges Herz, öffnete die Türe und erblickte einen alten Mann, der heftig weinte und die Hände über dem Kopfe zusammenschlug. Der Bärenhäuter trat näher, aber der Mann sprang auf und wollte entfliehen. Endlich, als er eine menschliche Stimme vernahm, ließ er sich bewegen, und durch freundliches Zureden brachte es der Bärenhäuter dahin, daß er ihm die Ursache seines Kummers offenbarte. Sein Vermögen war nach und nach geschwunden, er und seine Töchter mußten darben, und er war so arm, daß er den Wirt nicht einmal bezahlen konnte und ins Gefängnis sollte gesetzt werden. „Wenn Ihr weiter keine Sorgen habt“, sagte der Bärenhäuter, „Geld habe ich genug“. Er ließ den Wirt herbeirufen, bezahlte ihn und steckte dem Unglücklichen noch einen Beutel voll Gold in die Tasche.

Als der alte Mann sich aus seinen Sorgen erlöst sah, wußte er nicht, womit er sich dankbar beweisen sollte. „Komm mit mir“, sprach er zu ihm, „meine Töchter sind Wunder von Schönheit, wähle dir eine davon zur Frau. Wenn sie hört, was du für mich getan hast, so wird sie sich nicht weigern. Du siehst freilich ein wenig seltsam aus, aber sie wird dich schon wieder in Ordnung bringen“. Dem Bärenhäuter gefiel das wohl, und er ging mit. Als ihn die älteste erblickte, entsetzte sie sich so gewaltig vor seinem Antlitz, daß sie aufschrie und fortlief. Die zweite blieb zwar stehen und betrachtete ihn von Kopf bis zu Füßen, dann aber sprach sie: „Wie kann ich einen Mann nehmen, der keine menschliche Gestalt mehr hat? Da gefiel mir der rasierte Bär noch besser, der einmal hier zu sehen war und sich für einen Menschen ausgab, der hatte doch einen Husarenpelz an und weiße Handschuhe. Wenn er nur häßlich wäre, so könnte ich mich an ihn gewöhnen“. Die jüngste aber sprach: „Lieber Vater, das muß ein guter Mann sein, der Euch aus der Not geholfen hat; habt Ihr ihm dafür eine Braut versprochen, so muß Euer Wort gehalten werden“. Es war schade, daß das Gesicht des Bärenhäuters von Schmutz und Haaren bedeckt war, sonst hätte man sehen können, wie ihm das Herz im Leibe lachte, als er diese Worte hörte. Er nahm einen Ring von seinem Finger, brach ihn entzwei und gab ihr die eine Hälfte, die andere behielt er für sich. In ihre Hälfte aber schrieb er seinen Namen, und in seine Hälfte schrieb er ihren Namen und bat sie, ihr Stück gut aufzuheben. Hierauf nahm er Abschied und sprach: „Ich muß noch drei Jahre wandern, komm ich aber nicht wieder, so bist du frei, weil ich dann tot bin. Bitte aber Gott, daß er mir das Leben erhält“.

Die arme Braut kleidete sich ganz schwarz, und wenn sie an ihren Bräutigam dachte, so kamen ihr die Tränen in die Augen. Von ihren Schwestern ward ihr nichts als Hohn und Spott zu Teil. „Nimm dich in acht“, sagte die älteste, „wenn du ihm die Hand reichst, so schlägt er dir mit der Tatze darauf“. − „Hüte dich“, sagte die zweite, „die Bären lieben die Süßigkeit, und wenn du ihm gefällst, so frißt er dich auf“. − „Du mußt nur seinen Willen tun“, hub die älteste wieder an, „sonst fängt er an zu brummen“. Und die zweite fuhr fort: „Aber die Hochzeit wird lustig sein; Bären, die tanzen gut“. Die Braut schwieg still und ließ sich nicht irremachen.

Der Bärenhäuter aber zog in der Welt herum, von einem Orte zum andern, tat Gutes, wo er konnte, und gab den Armen reichlich, damit sie für ihn beteten. Endlich, als der letzte Tag von den sieben Jahren anbrach, ging er wieder hinaus auf die Heide und setzte sich unter den Ring von Bäumen. Nicht lange, so sauste der Wind, und der Teufel stand vor ihm und blickte ihn verdrießlich an; dann warf er ihm den alten Rock hin und verlangte seinen grünen zurück. „Soweit sind wir noch nicht“, antwortete der Bärenhäuter, „erst sollst du mich reinigen“. Der Teufel mochte wollen oder nicht, er mußte Wasser holen, den Bärenhäuter abwaschen, ihm die Haare kämmen und die Nägel schneiden. Hierauf sah er wie ein tapferer Kriegsmann aus und war viel schöner als je zuvor.

Als der Teufel glücklich...

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