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Was wäre, wenn?

Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel

AutorPeter Bichsel, Sieglinde Geisel
VerlagKampa Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783311700302
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Ich merke, wie ich immer erst eine Geschichte erzähle, bevor ich Ihre Frage beantworte.« Peter Bichsel ist ein geborener Erzähler. Und das zeigt er auch im Gespräch mit Sieglinde Geisel: »Ihm fällt immer noch etwas ein, womit ich nicht rechne - der Idealfall von Gespräch.« Seit über fünfzig Jahren gilt Bichsel als Meister der literarischen Kurzprosa, fast vierzig Jahre lang hat er die Welt, die Menschen, die Schweiz und die Politik in seinen Zeitungskolumnen betrachtet. Er war Grundschullehrer und Redenschreiber. Querdenker, Raucher und Rotweintrinker ist er noch immer. Über seine Kindergeschichten sagte sein Freund Max Frisch: »Nicht bestrickt zu sein, war unmöglich.« Mehrere Tage lang saßen Peter Bichsel und Sieglinde Geisel zusammen, in Bichsels Arbeitszimmer in Solothurn, in seiner Stammkneipe - und sprachen über alles: über die Vorteile der Mundart für das Schreiben, über Sozialismus und Solidarität, warum er auf die einsame Insel kein Buch mitnehmen würde, warum er an Gott glaubt, wohl wissend, dass es ihn nicht gibt, über die Langeweile im Paradies und die Unmöglichkeit, ohne Geschichten zu leben.

Peter Bichsel, geboren 1935 in Luzern, wuchs als Sohn eines Handwerkers auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen auf einen Schlag bekannt. Die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis. Von 1974 bis 1981 war er als persönlicher Berater für Bundesrat Willi Ritschard tätig. Bichsel lebt in Bellach bei Solothurn.

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Leseprobe

»Der Pietismus hat mich gelehrt, in Minderheiten leben zu können und zu wollen.«


Für Sie war Lesen demnach etwas Religiöses?

Ich bin überzeugt davon, dass die Schrift religiösen Ursprungs ist. Es war das Erste, von dem die Leute das Gefühl hatten, man müsse es festhalten: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Oder: »Es steht geschrieben.« Ich hatte das Glück, in einer Sprache lesen zu lernen, die von der Luther-Übersetzung geprägt war. Luther hat mit unserer Schriftsprache das Neuhochdeutsche erfunden. Und ich wurde ein frommes Kind.

Wie hat sich Ihre Religiosität entwickelt?

Ich hatte in meiner Kindheit eine pietistische Phase, und die war für meine Entwicklung prägend. Ein Emanzipationsversuch, wie ich rückwirkend festgestellt habe. Ich hatte sehr liebe, gute Eltern, und ich war ein sehr liebes Kind. Ich hatte keine Möglichkeit, mit meinen Eltern zu streiten. Sie waren nicht besonders fromm und haben mich in dieser Sache auch nicht gefördert. Meine Frömmigkeit war allein meine Entscheidung.

Mein Emanzipationsmodell bestand darin, meine Anständigkeit zu übertreiben, bis es fast unanständig wurde. Es war nichts Anstößiges, niemand konnte etwas dagegen haben. Der Pietismus war meine einzige Möglichkeit, meinen Eltern zu zeigen: Ich bin nicht so wie ihr, ich bin anders. Ich ging in den Bibellesebund und besuchte die Predigt in der Unterkirche, die Zeltmission und auch das Blaue Kreuz waren wichtig für mich.

Das einzige Fach, in dem ich eine schlechte Note in »Betragen« hatte, war der Religionsunterricht. Ich führte mich schrecklich auf, denn der Religionsunterricht – das waren ja die anderen! Mich faszinierte der Ernst des Pietismus, das Bekenntnis: Hier bin ich, und das glaube ich. In der Geschichte vom Herrn Gigon im Milchmann verarbeite ich das.

Inwiefern hat Sie diese pietistische Phase für Ihr späteres Leben geprägt?

Der Pietismus hat mich gelehrt, in Minderheiten leben zu können und zu wollen. Ich wäre damals nicht in pietistische Kreise geraten, wenn es nicht etwas Spezielles gewesen wäre. Mehrheiten sind etwas Entsetzliches. Ich habe immer gesagt: Wenn die SP auf 51 Prozent kommt, trete ich aus. Aus demselben Grund lese ich auch kaum mehr Robert Walser. Ich hatte ihn mit siebzehn oder achtzehn entdeckt. Auf einem Markt in Solothurn kaufte ich bei einem Trödler zwei Bände. Ich erkundigte mich überall, aber niemand kannte diesen Autor damals – das war Anfang der fünfziger Jahre –, auch mein Deutschlehrer nicht. Es dauerte fünf oder sechs Jahre, bis ich endlich jemanden traf, der Walser kannte, aber es war kein Leser, sondern nur ein Bibliophiler. In diesen Kreisen kannte man den Namen Robert Walser wegen der Illustrationen seines Bruders und Otto Baumbergers. Die standen bei den Bibliophilen hoch im Kurs. Und dann kamen plötzlich alle! In Amerika promovierten die Germanisten früher entweder über Thomas Mann oder über Kafka. Heute schreiben sie entweder über Thomas Mann oder über Robert Walser. Und sie können alle drei nicht voneinander unterscheiden.

Wann hat diese frühe Frömmigkeit geendet?

Als ich die Theologie entdeckte. Karl Barth war mein Ausstieg aus der Frömmigkeit. In den Jahren von 1955 bis 1957 habe ich alles von Karl Barth gelesen. Sein hölzerner Stil, der zugleich so brillant sein konnte – das hat mich auch literarisch geprägt. Heute bin ich kein Barthianer mehr. Mir war Dorothee Sölles Vorstellung von Frömmigkeit wichtig geworden: »Christsein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden.« Anders zu sein, das ist ein tapferer Entscheid. Mir ist der Ausstieg aus der Frömmigkeit also über die Theologie gelungen, über die Verwissenschaftlichung des Glaubens. Böse gesagt, war beides eine Art Schabernack: die Eintrittsemanzipation und die Austrittsemanzipation.

Es war Ihnen gar nicht ernst damit?

Es gibt auch ernsten Schabernack. Ich bin immer noch Mitglied der Kirche, denn ich bin ihr dankbar dafür, dass ich sie als Emanzipationsmaschine benutzen konnte. Vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der diese Kirche auch so benutzen kann. Und dafür bezahle ich gerne meine Kirchensteuer.

Dorothee Sölle (19292003)

Wer Dorothee Sölle nicht kennt, ist selbst schuld! Sie hielt einmal in Biel einen Vortrag, und in der anschließenden Diskussion hackten ein paar verkalkte Barthianer furchtbar auf ihr herum. Später gingen wir zusammen in eine Beiz und setzten uns in eine Ecke. Wir blödelten ein bisschen miteinander – sehr zum Ärger der Leute, die mit der großen Dorothee Sölle diskutieren wollten. Sie freute sich, mich kennenzulernen, denn ihr Mann hatte ihr mein Milchmann-Buch zur Verlobung geschenkt. Sie hätte gern eine Professur in Deutschland gehabt, aber das hat man ihr verwehrt. Sie hat vor allem in Amerika gelehrt.

Glauben Sie an etwas?

Mein Credo lautet: Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn. Es existiert für mich ein Gott in dieser Welt, aber der stirbt mit mir. Gott ist eine wunderbare menschliche Erfindung.

Warum glauben Sie an einen Gott, den es nicht gibt?

Irgendwie brauche ich diesen Gott. Ich ertrage die Vorstellung nicht, dass unser Leben nichts anderes sein soll als ein biologischer Zufall. Ich möchte, dass dieses Leben gemeint ist, das, was wir hier leben – Freude und Leid, unser Ärger und alles andere. Dazu brauche ich keinen Schöpfer, aber ich brauche die Vorstellung »Gott«.

Warum haben die Menschen Gott erfunden?

Weil sie ihn brauchten. Dass er erfunden ist, kann man schon an der Schöpfungsgeschichte sehen. Nur bigotte amerikanische Christen glauben eins zu eins daran. Dass es nicht sein kann, dass da einer saß und am ersten Tag die Erde vom Wasser schied und nach sechs Tagen sein Werk beendete – das konnte man damals schon wissen.

Die Religion gibt uns also Gewissheit, dass wir gemeint sind?

Nicht »wir«, nicht »ich«, sondern: dass dieses Leben gemeint ist.

Also eine Produktion von Sinn.

Das wäre eine Frage, die Sie hoffentlich nicht stellen: Was ist der Sinn des Lebens? Ich meine nicht Sinn. Ich meine nur, dass es gemeint ist.

Was heißt denn dieses »gemeint sein«?

Ich habe lange nach einem Begriff gesucht, und ich bleibe dabei. Nicht gewollt, sondern gemeint. Das genügt.

Gemeint von wem?

Die Instanz heißt »Es«. Es regnet – weiter mag ich da gar nicht eindringen. Gerade weil man dieses Es, weil man diese Instanz nicht benennen kann, war diese großartige Erfindung Gott notwendig. Wenn mir jemand sagt: »Gott ist die Wahrheit«, dann sage ich: »Sicher, Gott ist die Wahrheit. Aber Realität und Wahrheit sind nicht dasselbe.« Auch Hamlet hat gelebt, auch Faust hat gelebt. Der eine hat durch Shakespeare ein Leben bekommen und der andere durch Goethe. Viele von Shakespeares Figuren sind zu wahren Figuren geworden. In den großartigen Shakespeare-Inszenierungen von heute sind sie sogar Zeitgenossen. Und eine dieser literarischen Wahrheiten heißt Gott.

Der balinesische Hinduismus

Im Jahr 1977 war ich vierzehn Tage lang auf Bali, auf dem Rückweg nach einer Lesereise mit dem Goethe-Institut durch Australien. Ich hatte mich mit einem Hotelangestellten angefreundet, einem jungen Mann. Er fragte mich, ob es stimme, dass die Christen glauben, ihr Gott sei auf die Erde gekommen. Ich antwortete: »Ja, Gottes Sohn war auf der Erde.« Da meinte er: »Die Europäer sind nicht fromm, nicht wahr?« Für ihn war klar: Dass...

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