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E-Book

Weil du arm bist, musst du früher sterben

Der ohnmächtige Patient

AutorChristoph Lohfert
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783492951302
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Im Schnitt muss einer von fünf Bundesbürgern pro Jahr ins Krankenhaus. Dort ist er den Systemen hilflos ausgeliefert - »einem Irrgarten, in dem Macht und Einfluss, Geld und Gebote eine große Rolle spielen«. Christoph Lohfert erklärt die phänomenalen Erfolge und grandiosen Fehlentwicklungen im Medizinbetrieb. Er weiß, wie ohnmächtig der kranke Mensch dem Gesundheitssystem ausgeliefert ist. Anhand von Erlebnisberichten, seiner vierzigjährigen Berufserfahrung und unzähligen Gesprächen mit Ärzten wie Patienten zeigt Lohfert, wie man sich im Labyrinth der Systeme bewegen muss, damit man dem Lotteriespiel »Heilung« nicht hilflos ausgesetzt ist. Patient sein muss nicht heißen, Würde und Selbstbestimmung aufzugeben.

Christoph Lohfert, geboren 1937, Dr.-Ing. und Diplomkaufmann, ist seit 45 Jahren mit der Begleitung und Beratung großer Universitätskliniken und Krankenhäuser beauftragt. Er war u.a. Generalsekretär im Tumorzentrum Hamburg. Er ist Mitglied der Aufsichtsräte der Lohfert & Lohfert AG/AS in Hamburg und Kopenhagen, Vorstand der Dr. Christoph Lohfert AG sowie Vorstandsvorsitzender der 2010 gegründeten Lohfert Stiftung in Hamburg.

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Leseprobe

Teil I


Wie sehen wir die Medizin?


These 1


Alle ein bisschen krank und niemand richtig gesund:
Worüber wir reden

Ich sitze am Strand, die Füße im Sand vergraben. Vor vier Wochen habe ich es erfahren. Ich habe Krebs – Nierenkrebs. Mit 34 Jahren. Das Karzinom hat einen Durchmesser von acht Zentimetern, aber angeblich sei die Nierenkapsel noch nicht durchbrochen. Das Hypernephrom wird mit der Klasse 1b tituliert. Toll.

Die ersten Bestrahlungen unter dem Kobaltgerät habe ich hinter mir. In ein paar Tagen soll operiert werden. Was wird dann in meiner Krankenakte stehen?

Ich blicke über die See und schiebe meine Füße durch den Sand. Viele Sandkörner. Ich fühle mich wie eines dieser Sandkörner. Hilflos Wasser und Wind ausgeliefert.

Von wem, wann und in welcher Form erfährt ein Patient, dass er Krebs hat? Ich erfahre das – fast beiläufig – im Gespräch mit dem leitenden Oberarzt der Urologie im Universitätsklinikum, der sich mit mir über die Angiografieaufnahmen der Nieren beugt und dann fast beiläufig sagt: »Also, wenn Sie mich fragen, ist das ein Hypernephrom.«

Meine erste Reaktion ist ungläubige Verneinung: Das gibt es doch nicht! Das kann nicht sein! Völlig ausgeschlossen!

Später finde ich es ungerecht, dass es gerade mich trifft. Aus dem Hintergrund springt mich Panik an, sie breitet sich wie eine dunkle Wolke über mir aus. Wer stellt das Gedankenkarussell ab, das sich in Bewegung setzt? Was wird auf mich zukommen? Operation, Schmerzen, Bestrahlung? Und am Ende Tod?

Nach Bestrahlung, Operation und wieder Bestrahlung bin ich drei Monate danach im Klinikum zur Nachuntersuchung. Ein trostloser Pavillon, mehr als 100 Jahre alt und in einem schäbigen Zustand, überfüllt mit Patienten, die ähnlich wie ich warten und hoffen. Die Atmosphäre ist nicht dazu angetan, Optimismus zu verbreiten.

Ich sitze auf einem abgewetzten, klapprigen Holzstuhl mitten zwischen vielen anderen Patienten, denen es nicht besser geht. Ein Assistent schlurft vorbei und lässt einen Stapel Krankenakten fallen, die lärmend über den Fußboden schlittern. Die Akten tragen auf ihrer Frontseite alle ein großes schwarzes Kreuz, mit dickem Filzschreiber wurde das Ende einer Kranken-»Geschichte« dokumentiert. Super. Das macht Hoffnung.

Nierenkrebs ist so gefährlich, weil sich schnell Tochtergeschwülste, sogenannte Metastasen, vor allem in der Lunge bilden. Dann gibt es kaum noch eine Chance, das war damals (1971) so und ist auch heute (2010) nicht anders.

Der junge Arzt, der mich betreut und die Röntgenaufnahme zur Nachuntersuchung der Lunge begutachtet, schüttelt nachdenklich den Kopf: »Ich weiß nicht so recht, das will mir nicht gefallen.«

Mir tritt der Angstschweiß auf die Stirn – haben sich Metastasen gebildet? Ist das nun endgültig mein Todesurteil?

»Ich muss das nachher dem Chef zeigen, der soll sagen, was nun wird.«

»Und warum tun Sie das nicht gleich?«

»Der Chef ist nicht da, der kommt erst heute Nachmittag.«

»Und was soll ich bis dahin machen?«

»Gehen Sie doch ein paar Stunden spazieren!«

Dieser gut gemeinte, aber höchst unangebrachte Rat hilft mir nicht weiter.

»Können Sie mir sagen, was Sie da eigentlich sehen?«

»Ich sehe einen kugelförmigen raumfordernden Prozess in der Lunge, von dem ich nicht weiß, ob er eine Metastase darstellt.«

Ich gehe nicht spazieren. Ich fahre ins Zentrum der Stadt, immer noch mit weichen Knien, zu meinem Röntgenologen, der mich schon länger begleitet und auch früher meine Lunge geröntgt hat. Ich frage ihn, ob er sich das Problem des kugelförmigen Prozesses in der Lunge – bitte schnell – anschauen könne.

Ich will Gewissheit haben. Er schiebt mich eilig vor das Durchleuchtungsgerät. Vorläufig schweigt er. Meine Nerven sind dünn. Ich weiß, was eine Lungenmetastase bedeutet. Er dreht mich hin und her, schüttelt den Kopf und murmelt: »So ein Blödsinn, nix da Metastasen. Schauen Sie hier«, sagt er und dreht den Monitor so, dass ich zuschauen kann, »wie sich der Thorax abbildet. In einer ganz bestimmten Stellung liegt die Projektion zweier Arterien in der Lunge gerade so, dass sich ein kugelförmiges Gebilde darstellt. Wenn ich Sie ein klein wenig unter dem Gerät drehe, sehen Sie, wie sich die Perspektive ändert und sich die beiden Gefäße, die sich in einer bestimmten Stellung überlagern, verschieben.«

Entwarnung also, langsam legt sich meine Angst.

Erleichterung: noch einmal gut gegangen.

»Es gibt drei Wörter, deren Definition niemand von uns kennt. Das erste ist ›Leben‹, das zweite ›Tod‹ und das dritte ›Gesundheit‹.«1

Wir sind gesund, wenn wir uns mit unseren körperlichen, psychischen und sozialen Eigenschaften im Einklang mit der eigenen Entwicklung, unseren Möglichkeiten und Zielvorstellungen befinden; so wird der Begriff der Gesundheit von der WHO definiert. Oder man ist gesund, wenn man das Vertrauen in den eigenen Körper hat, um seine individuellen Ziele erreichen zu können. Das sind zwei Definitionen von Gesundheit, die viele Fragen offenlassen.

Vielleicht ist Gesundheit nur eine Erfahrung, die sich durch verschiedene Begriffe bestimmen lässt, zum Beispiel physisches und psychisches Wohlbefinden, ausreichende physische Ressourcen, Energie, Ausgeglichenheit, Bewegungsfreiheit.2 Der Hartmannbund fasst die Definition in einem Satz kurz zusammen: »Gesund ist, wer den Alltag ertragen kann.« Eine Krankheit läge demnach dann vor, wenn sich Anforderungen ergeben, die nicht bewältigt werden können. So ein Unsinn.

Die Bandbreite der Definitionen zeigt die Hilflosigkeit im Umgang mit der Materie. Was soll eine Medizin tun, wohin soll sie sich entwickeln, wenn das Ziel ihrer Arbeit unklar ist? Je akuter ein Krankheitsgeschehen ist, desto einfacher ist das medizinisch Notwendige definiert. Wer in der Notfallaufnahme einen jungen Menschen wiederbelebt, hält sich kaum mit Definitionsfragen auf. Je stärker jedoch chronische Beschwerden in den Mittelpunkt rücken, desto eher wird gefragt, was noch krankhaft ist und was schon als gesund gelten kann. Wenn man zusätzlich das Alter, das Geschlecht und die soziale Schichtung einbezieht, kann man Gesundheit und Krankheit erst recht nicht mehr eindeutig abgrenzen. Ein bisschen krank ist eben jeder und richtig gesund niemand.

Die Frage nach Krankheit und Gesundheit3 ist immer auch abhängig von kulturellen Wertvorstellungen und von länderspezifischen Sichtweisen.4 Während in Deutschland unter dem Einfluss der Romantik noch immer das Herz eine große Rolle spielt, wird in den USA der Körper eher als eine Maschine gesehen, die repariert werden muss. In Frankreich hingegen spielen in der Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit auch ästhetische und sexuelle Gesichtspunkte eine Rolle. In den asiatischen Ländern existieren wiederum andere Vorstellungen, die sich vor dem Hintergrund der kulturellen Situation fundamental von denen westlicher Medizin unterscheiden. Die Wurzeln westlicher Medizin liegen in der griechischen und arabischen Heilkunst; in vielen Untersuchungen zur »Geschichte der Medizin« ist dokumentiert, wie der Ursprung der naturwissenschaftlich geprägten westlichen Medizin über viele Jahre vorbereitet wurde. Die Medizin in asiatischen Ländern ist älter und in den heute noch weitverbreiteten Ansätzen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ganzheitlich geprägt. In China existieren vollständige Lern- und Lehrsysteme, die diesen Teil der medizinischen Tradition sichern.

Eine Eigenschaft aller gesunden Menschen scheint ihre Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten zu sein. Aus diesem Grund werden gesunde Menschen auch länger leben, folglich Krankheits- und Sterberaten bei gesunden Menschen niedrig sein.5 Dennoch gibt es Menschen, die trotz bester Gesundheit jung an einer unerkannten Krankheit sterben, und andere, die ständig an irgendwelchen Krankheiten leiden, jedoch sehr alt werden. Das mag daran liegen, dass sie besser unter ärztlicher Kontrolle stehen und daher jede ernsthafte Erkrankung im Frühstadium erkannt wird.

Das gesellschaftliche Umfeld, Armut und politische Systeme haben Einfluss auf die Morbidität und Mortalität. Die richtigen methodischen Untersuchungsansätze dieser Zusammenhänge bestehen aus Statistiken, die entsprechende Beziehungen herstellen können. Aber so richtig zeigen auch sie nicht, was als gesund gezählt wird und was Kranksein tatsächlich bedeutet.6

Auch die Wissenschaft hat die Frage bisher nicht beantwortet, was denn Gesundheit nun tatsächlich ist. Das Bemühen des Arztes ist nach allgemeinem Verständnis darauf gerichtet, eine Krankheit zu diagnostizieren und zu heilen. Ein gesunder Mensch ist für den Arzt uninteressant. Abgesehen von der Grundlagenforschung ist die praktische Anwendung ärztlichen Wissens immer auf die Krankheit ausgerichtet, denn Medizin entfaltet erst auf dem Resonanzboden des kranken Menschen ihre Wirkung. Wenn ein Patient zum Arzt geht, wird vorausgesetzt, dass dies begründet ist – und daher handeln Ärzte sicher auch, wenn keine Krankheit vorliegt.

Aus ärztlicher Sicht kommt dem Krankheitsbegriff insoweit besondere Bedeutung zu, dass die Handlungen des Arztes legitimiert und begründet werden müssen. Wenn eine Diagnose gestellt ist, verpflichtet dieser Befund zum Handeln. Bei hinreichender Gefahr einer möglichen Erkrankung ist der Arzt aufgerufen, vorbeugend einzugreifen. Diese Sicht der Medizin stellt den Zusammenhang her zwischen Krankheit und ärztlichem Handeln: Erst eine Krankheit begründet ärztliches Handeln. Aber damit ist immer noch nicht festgelegt, wie der...

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