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E-Book

Weisheit und wie wir sie finden

Reclam Taschenbuch

AutorFrédéric Lenoir
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl109 Seiten
ISBN9783159614915
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Weisheit gilt als Schlüssel zu einem sinnerfüllten und glücklichen Leben - nur wie findet man sie? In den Lehren der Weltreligionen und bei großen Denker*innen entdeckt der französische Philosoph und Bestsellerautor Frédéric Lenoir Antworten auf die entscheidenden Fragen des Lebens. Inspiriert von Montaigne, Nietzsche oder Spinoza, gibt er konkrete Ratschläge, was wirklich wichtig ist, wie wir uns selbst besser kennenlernen und mit der Welt in Einklang leben können.

Frédéric Lenoir, geb. 1962, ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller. Seine Bücher stehen regelmäßig auf der französischen Bestsellerliste.

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Leseprobe

Worin unterscheiden sich Weisheit, Spiritualität, Religion und Philosophie?


Du sagtest, dass die Menschen über ganz verschiedene Epochen und an unterschiedlichen Orten nach Weisheit gesucht haben. Wie kam es zu dieser allumfassenden Suche?

 

Wahrscheinlich hat der Homo sapiens, seit es ihn gibt, das Rätsel seiner Existenz hinterfragt. Die Tatsache, dass er für seine Toten Bestattungsrituale hatte und dass Archäologen oft Speisen oder Jagdwaffen als Grabbeigaben gefunden haben, zeigt auch, dass er in gewisser Weise an ein Leben nach dem Tod glaubte. Einen der ältesten Texte der Menschheit, das vor beinahe viertausend Jahren in Mesopotamien entstandene Gilgamesch-Epos, ist schon von Fragen zum Sinn des Lebens, zu Tod und Unsterblichkeit sowie zu der Möglichkeit, auf der Erde glücklich zu sein, durchzogen. Die großen Fragen der Philosophie werden darin angesprochen, wenn auch nur zum Teil beantwortet.

Zu jener Zeit waren menschliche Gesellschaften vollständig durch institutionalisierte Religionen geregelt, die Glauben und Rituale übermittelten sowie den verschiedenen, damals im Entstehen begriffenen antiken Hochkulturen als Zusammenhalt dienten. Der Einzelne zählte weniger als die Gruppe. Das Gilgamesch-Epos war der erste Text, in dem Bedürfnisse beschrieben wurden, die eher spiritueller und individueller als religiöser und kollektiver Natur waren. Dennoch sollte es noch über ein Jahrtausend dauern, bis sich die Fragen nach dem Schicksal jedes Einzelnen verbreiteten. Ungefähr in der Mitte des ersten Jahrtausends v. u. Z. begann in allen Kulturkreisen die Suche nach einem individuellen Glück, nach einem guten Leben, einem Heil oder einer Erlösung. Sei es in China, in Ägypten, Persien, Mesopotamien, Judäa, in Indien oder in Griechenland, überall fragte man nach dem Sinn des Lebens und beschäftigte sich ebenso mit dem Schicksal des Individuums wie mit dem des Gemeinwesens, des König- oder Kaiserreiches. Damit begann die Suche nach Weisheit, und zugleich entwickelten sich die großen spirituellen Strömungen der Menschheit, wie der Konfuzianismus und der Taoismus in China, der Hinduismus, der Jainismus und der Buddhismus in Indien, der Zoroastrismus in Persien, das jüdische Prophetentum in Israel, die Philosophie in Griechenland.

 

 

Alle diese Strömungen entstanden beinahe gleichzeitig in unterschiedlichen Kulturkreisen und Regionen der Welt. Haben sie einander inspiriert?

 

Es gab manchmal Wechselwirkungen. Von Pythagoras, einem der Väter der griechischen Philosophie, wird gelegentlich behauptet, er sei sogar in Indien gewesen. Das jüdische Prophetentum hat sich im Austausch mit der ägyptischen, babylonischen und persischen Zivilisation entwickelt. Doch sind direkte Kontakte selten; es ist wahrscheinlicher, dass manche Ideen und Anliegen zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Kulturkreisen auftreten, ganz einfach aufgrund des universellen Charakters des menschlichen Geistes. Überall stellen sich Menschen egal welcher Hautfarbe dieselben Fragen, sie suchen das Glück, empfinden Eifersucht oder Mitleid, die gleichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens oder moralischen Dilemmata treiben sie um, und alle müssen sich mit der Trauer beim Tod ihrer Angehörigen auseinandersetzen. Sobald eine Gesellschaft ein bestimmtes Niveau an ökonomischer und kultureller Entwicklung erreicht hat, sobald grundlegende Bedürfnisse des Überlebens und der Sicherheit gewährleistet sind, entstehen die gleichen spirituellen Fragen.

Das wirft freilich größere politische und religiöse Probleme auf, denn wer die Weisheit preist, emanzipiert den Menschen in gewisser Weise vom Druck der Gruppe und der Tradition.

 

 

Du willst sagen, dass Weisheit das Individuum vom sozialen Einfluss befreit, egal ob dieser religiös oder politisch bedingt ist? Hätte Weisheit demnach einen revolutionären Charakter?

 

Absolut! Indem sie den Einzelnen auffordert, sich selbst und die Welt kennenzulernen, sein Wissen und seine Vernunft zu entwickeln, innerlich frei zu werden und sich gemäß seiner Natur zu entfalten, ist Weisheit zutiefst subversiv. Denn sie stellt sich den religiösen und politischen Mächten entgegen, die gemeinsam daran arbeiten, den Zusammenhalt und die Stabilität der sozialen Gruppe bisweilen sogar mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Wenn der Einzelne beginnt, sich mit seinem Seelenheil oder persönlichen Glück zu beschäftigen, wenn er seine Vernunft und Erkenntnisfähigkeit entwickelt, läuft er Gefahr, den kollektiven Normen nicht mehr zuzustimmen. Und wenn er dann noch denkt, dass Liebe wichtiger sei als das Gesetz und dass alle Menschen gleich seien, weil alle nach Glück oder Erlösung streben, dann droht die Auflösung des gesamten politisch-religiösen Systems. Deshalb wurden auch die großen Begründer von Weisheitslehren verfolgt, ja sogar getötet. Jesus wurde (wie zuvor schon andere israelitische Propheten) zum Tode verurteilt, und Buddha hat man zweifellos vergiftet, denn beide rühmten die Gleichheit aller Menschen und die Überlegenheit des Mitleids gegenüber dem Gesetz. Das konnten die damaligen religiösen und politischen Autoritäten nicht akzeptieren.

Mit seiner Lehre, dass jedes menschliche Wesen, ob Mann oder Frau, reich oder arm, durch eine persönliche, dem religiösen Ritual nicht verpflichtete, spirituelle Arbeit die Erweckung erlangen könne, ließ Buddha das Kastensystem, auf dem die gesamte indische Gesellschaft basierte (und noch heute in großen Teilen basiert), unwirksam werden. Er stellte die Selbstgefälligkeit der Brahmanen infrage, die meinten, dass nur sie Erlösung erreichen und religiöse, als unverzichtbar für die Aufrechterhaltung der Weltordnung geltende Rituale durchführen durften.

Indem er bestätigte, dass Liebe wichtiger ist als das Gesetz, indem er am Sabbat Heilungen vornahm oder als er die Steinigung der Ehebrecherin verhinderte, übertrat Jesus das jüdische Gesetz. Er predigte eine universelle Weisheit der Liebe, wodurch die Rolle der Priester ihre Gültigkeit verlor. Auch Sokrates wurde getötet, weil man ihn beschuldigte, die Jugend zu verderben und die Glaubenslehre der Stadt zu bedrohen. Da wir heute dazu neigen, Religion und Spiritualität miteinander zu verwechseln, verstehen wir den revolutionären Charakter einer spirituellen Suche nach Weisheit nicht mehr.

 

 

Kannst Du noch mal den Unterschied zwischen Religion und Spiritualität erklären? Ich bringe beide jetzt doch ein bisschen durcheinander.

 

Einfach gesagt: Religion ist kollektiv und Spiritualität individuell. Die Religion dient dazu, Individuen einer gleichen politischen Einheit (einer Stadt, einer Nation, eines Königreichs) miteinander zu verbinden, indem sie ihnen den Glauben an eine unsichtbare, sie überragende Transzendenz vermittelt.

Spiritualität ist die persönliche Anstrengung des Individuums, das sich lösen möchte von all seinen kulturellen Konditionierungen und intellektuellen Voraussetzungen, um Wahrheit, Liebe und echtes Glück zu suchen. Ein spirituelles Leben umfasst den Geist (das Wort ›spirituell‹ kommt von spiritus) und das Herz. Religion hingegen verlangt Gehorsam in Bezug auf Glaubenssätze, Dogmen, Regeln und Normen. Beide können dem gleichen Zweck dienen – der Suche nach Glück, Gerechtigkeit, Liebe und Frieden –, aber sie tun es mit unterschiedlichen Mitteln.

Das heißt, beide Dimensionen können auch nebeneinander existieren: Wir alle kennen religiöse und zugleich spirituelle Menschen, die gutherzig und aufgeschlossen sind, während andere blind die Dogmen ihrer Religion befolgen, ohne diese im Geringsten zu hinterfragen. Letztere können manchmal in Intoleranz und sektiererische Gewalt abgleiten.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass der Mensch ein zugleich spirituelles und religiöses Lebewesen ist. Zweifelsohne gründet darin sein einzigartiger Charakter, der ihn von anderen Lebewesen abgrenzt. Spirituell ist er, weil er sich Fragen zum Sinn seines Daseins stellt und diese zu beantworten versucht, während er sich mithilfe von Herz und Verstand verbessern möchte. Er ist außerdem religiös, weil er ganze Gesellschaften erschafft, die auf seinem Glauben an unsichtbare, von ihm kultisch verehrte Entitäten beruhen. Die menschliche Geschichte lehrt uns, dass der Homo sapiens von metaphysischen Fragen ausging, als er begann, Religionen zu erfinden. Dann hat er sich davon wieder (mehr oder weniger, vielleicht auch ganz) emanzipiert, um spirituelle Strömungen jenseits der Religion zu entwickeln. Sie nennt man Weisheitslehren. Die großen philosophischen Schulen der Antike sind Weisheitslehren, weil sie eine Spiritualität preisen, die sich auf die Vernunft statt auf den religiösen Glauben beruft. Ebenso verhält es sich im Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus, wenngleich in diesen Strömungen bis heute Elemente von Religiosität gegenwärtig geblieben sind, weil sie eine politische Rolle als gesellschaftliches Bindemittel gespielt haben. Es gibt aber auch einzelne Denker wie Montaigne, Spinoza oder Krishnamurti, die eine eigene Weisheitslehre entwickelten und versuchten, diese in ihr Leben zu integrieren.

 

 

Du sagtest vorhin, dass das Wort Philosophie »Liebe zur Weisheit« bedeute. Ich habe aber eher den Eindruck, dass Philosophie eine sehr rationale Disziplin ist, die nicht viel mit der Jagd nach dem Glück und noch viel weniger mit Spiritualität zu tun hat!

 

Tatsächlich gilt das für das Fach Philosophie, so wie es...

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