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E-Book

Weiterleben

Nach dem Verlust eines geliebten Menschen

AutorChristiane Salm
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641155315
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt - über das Wesen der Trauer und die Kraft des Weiterlebens
Der Tod eines geliebten Menschen - des Partners, des Kindes, eines engen Familienangehörigen - ist ein zutiefst erschütterndes Ereignis, das das Leben für immer verändert. Oft geht dieser Verlust mit Sprachlosigkeit einher. Weil der Schmerz zu groß, zu verzehrend ist. Und weil Tod und Trauer in unserer Gesellschaft immer noch mit einem stillschweigenden Tabu belegt sind. Bereits in ihrem SPIEGEL-Bestseller »Dieser Mensch war ich« versammelte Christiane zu Salm Nachrufe von Sterbenden auf das eigene Leben und bewegte damit viele Leser. In ihrem neuen Buch nun verleiht sie mit großer Einfühlsamkeit denjenigen eine Stimme, die Kraft zum Weiterleben gefunden haben, nachdem ein geliebter Mensch von ihrer Seite gerissen wurde. Ein oft erschütterndes, immer ergreifendes Buch von beispielhaftem Mut und existenzieller Ehrlichkeit.

Christiane zu Salm, 1966 in Mainz geboren, arbeitete viele Jahre erfolgreich als Medienmanagerin. Sie war Geschäftsführerin des Musiksenders MTV, baute den Privatsender 9Live auf und arbeitete bei der UFA-Fernsehproduktion. Seit 2005 konzentriert sie sich stärker auf soziale Projekte, engagiert sich für die Bertelsmann Stiftung und hat mit ihrer unternehmerischen Kompetenz NFTE (Network for Teaching Entrepreneurship) in Deutschland mitgegründet. Zudem ist sie begeisterte Sammlerin von Kunst, die jenseits des etablierten Systems entsteht. Ehrenamtlich ist Christiane zu Salm als ambulante Sterbebegleiterin für das Lazarus-Hospiz in Berlin tätig und besucht regelmäßig Sterbende direkt zu Hause.

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Leseprobe

Andrea Gunthert

Es gibt keinen Tag, an dem ich
nicht daran denke

Ich habe begonnen, Julian zu verlieren, nicht, als er starb, sondern, als ich ihn auf die Welt brachte. Das war die Zeit des Verlustes, und es war die allerschlimmste Zeit meines Lebens. Denn mir war von der ersten Sekunde an klar, was da Schreckliches auf uns zukommt. Das habe ich sofort gewusst.

Es war eine ganz normale Schwangerschaft, aber ich bin ja so ein Organisations- und Kontroll- und Sicherheitsfanatiker, also habe ich jede Art von Vorsorge gemacht, die der Mensch nur machen kann. Ich war auch nicht mehr die Jüngste, schon Mitte dreißig. Es war mein erstes Kind. Da habe ich einfach alle Vorsorgeuntersuchungen mitgemacht.

Drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin wachte ich morgens auf und bekam den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte. Auch wenn es meine erste Schwangerschaft war und ich keine Gynäkologin bin, sondern Hautärztin, aber hier stimmte etwas nicht. Die Kindsbewegungen hatten stark nachgelassen. Daraufhin bin ich sofort in die Klinik gefahren. Ich war schon vom niedergelassenen Arzt an die Klinik überwiesen worden, damit die einen kennenlernen, bevor man zur Entbindung dort auftaucht.

Mein Arzt selber war noch im Urlaub. Er wäre zum errechneten Geburtstermin da gewesen. Ich wurde von einem Oberarzt untersucht, der mich zu beruhigen versuchte: »Machen Sie sich keine Gedanken, dieses Kind ist schon so groß, der kann sich gar nicht mehr bewegen, der liegt schon im kleinen Becken.« Und so weiter. Na ja, ich ging halbwegs beruhigt da weg. Ich bin auch jemand, der sich auf Fachleute verlässt. Dann war auch viel zu tun, es war unter der Woche, und ich arbeitete immer noch.

Zwei, drei Tage später kam das Wochenende, ich kam zur Ruhe und bemerkte: Mein Kind bewegt sich nicht nur nicht. Mein Gefühl war: Mein Sohn hängt da drin wie ein nasser Sack. Also bin ich wieder in die Klinik gefahren und habe gesagt: »Hören Sie mal, ich bin nicht angemeldet, tut mir leid, und jetzt ist auch noch Wochenende, aber ich glaube, da stimmt was nicht. Ich würde sagen, mein Kind hängt da in mir drin wie ein nasser Sack. Das kann doch nicht normal sein.« Diesmal haben die Ärzte die Notsituation erkannt. Es gab einen Notkaiserschnitt, eine Dreiviertelstunde dauerte das. Obwohl, wie ich später von den Anwälten hörte, das Baby bei einem Notkaiserschnitt in 13 Minuten draußen sein muss.

Es war an einem Sonntag. Ich lag noch in Narkose, als mein Kind zur Welt kam. Mit Apgar null. Apgar ist ein Punkteschema, in das man die Kinder nach der Geburt einteilt. Das besteht aus Punkten für Spontanatmung, Muskelspannung, Herzschlag und Hautfarbe etc. Die Kinder, die man so kennt, haben fast immer zehn Punkte. Es gibt welche, die haben neun Punkte. Man mag auch das eine oder andere Kind kennen, das acht Apgar-Punkte hat. Mein Sohn hatte null. Wenn man das in die Umgangssprache übersetzt, heißt das: Totgeburt.

Als ich aufwachte, sah ich die Gesichter um mich herum und hörte: Apgar null. Da war mir alles klar. Mir war wirklich alles klar. Sofort. Ich weiß noch, am ersten Abend, wir saßen im Dunkeln, mein Mann Stefan und ich, und … furchtbar. Furchtbar! Es kamen dann auch die Schwestern und sagten: »Ach, warten Sie mal ab. Es hat sich schon so viel noch gewendet.« Aber mir war von Anfang an klar, was die Null bedeuten würde.

Wir hatten uns Julian so sehr gewünscht. Es hat jahrelang gedauert, bis es überhaupt zu dieser Schwangerschaft gekommen war. Die Schwangerschaft mit Julian war das Ergebnis von elf Inseminationen und dreimal Reagenzglas. Und jetzt lag er auf der Intensivstation, an alle Maschinen und Schläuche angeschlossen, die so ein Krankenhaus zu bieten hat. Wo war sein Leben?

Ich hatte gleich zu Stefan gesagt: »Also ich glaube, das Einzige, was uns hier je wieder rausführt, ist so schnell wie möglich so viele weitere Kinder wie möglich zu kriegen.« Aber das war natürlich alles Wunschdenken. Und nun kam die schlimmste Zeit, die ich mir je hatte vorstellen können. Ich war wirklich in der dunkelsten Ecke vom finstersten Jammertal. Zwei Jahre lang.

Bei so einem neugeborenen Baby kannst du natürlich alle möglichen Funktionen noch gar nicht testen. Du hast keine Ahnung vom Intellekt, vom Sehvermögen, vom Hörvermögen usw. Das geht nur schrittweise. Ist ja klar, je älter ein Baby wird, desto mehr Tests kannst du dann auch machen. Und so durftest du dich als eigentlich glückliche frischgeborene Mutter schrittweise verabschieden von deinem Kind, das einmal laufen wird, von einem Kind, das mal sprechen wird, von dem Kind, das überhaupt und ungefähr versteht, was du sagst, geschweige denn genau.

Und das war das Furchtbarste an dieser ganzen Geschichte. Der Tod nachher – aber jetzt greife ich schon vor –, der Tod meines geliebten Julian, das war wie eine Art Riesenpaukenschlag am Ende. Aber diese finsterste, schrecklichste, traurigste Zeit war vorher, denn man hat dann doch ein bisschen Hoffnung.

Eine schreckliche Zäsur kam ungefähr drei Wochen nach der Entbindung. Man gab sich furchtbare Mühe, alles für uns zu tun, sehr viele Ärzte halfen mit, überlegten mit, machten Vorschläge. Ich wurde von Pontius zu Pilatus geschickt mit meinem Neugeborenen, weil man irgendwie sehen wollte, wem kann hier in diesem schrecklichen Fall noch irgendwas einfallen. Ich wurde zu einer besonderen Ultraschalluntersuchung in ein spezialisiertes Krankenhaus geschickt. Die Schädigung von Julian war im Gehirn. Und vom Gehirn aus werden ja alle Funktionen gesteuert: Laufen, Sprechen, Denken, Fühlen, Sehen. Alles findet im Gehirn statt, der Zentrale sozusagen. Da war der Hauptschaden. Es war ein Sauerstoffschaden. Es wurde nie geklärt, was die Ursache seiner Krankheit war. Ob mein Kind sich selber mit der Schulter die Nabelschnur abgedrückt hatte? Man wusste es nicht. Und man wird es nie wissen. Die Frage nach dem Warum konnte nie beantwortet werden.

Nach drei Wochen wurde ich also in dieses Krankenhaus geschickt zu einer Ultraschall-Spezialistin. Ich war wie immer bei diesen vielen Besuchen ganz alleine. Ich fuhr mit dem Taxi dorthin, meinen kleinen Sohn in einer Wolldecke eingewickelt auf dem Arm. Ich war aufgelöst! Ich wusste genau, jetzt wird die Büchse der Pandora wieder geöffnet, und ich kriege irgendwelche Ausblicke auf die Zukunft, irgendwelche Ideen, wie dieses Gehirn wohl von innen genau aussieht. Die Frau war furchtbar nett. Sie sah, dass ich aufgelöst war. Ich konnte kaum sprechen. Sie war sehr warmherzig, sehr freundlich und sagte: »Kommen Sie doch erst mal rein.« Und lächelte mich an: »Jetzt warten Sie mal ab, jetzt wollen wir doch erst mal schauen.« Dann begann sie mit der Untersuchung. Sie sprach kein Wort. Sie sprach überhaupt kein Wort. Und als sie dann endlich fertig war, schaute sie in Unterlagen auf ihrem Schreibtisch nach.

Was war passiert? Ich glaube, ich habe die Szenerie genau richtig gedeutet: Sie rang mit ihrer eigenen Fassung, weil sie in dieses Gehirn reinschaute. Es hieß nachher, die ganzen Kavernen und Windungen wären mit Wasser gefüllt. Ich habe das Monate später noch wiederholt: »Mit was haben Sie gesagt? Mit Wasser gefüllt?« Es stellte sich heraus, dass da, wo sonst Gehirn ist, bei Julian nur Flüssigkeit war. Gewebewasser, vereinfacht ausgedrückt. Diese Frau war so fassungslos, dass sie sich gar nicht richtig verbalisieren konnte. Sie konnte mir weder sagen, es ist alles in Ordnung, oder, jetzt warten wir mal ab und schauen wir mal, da ist noch alles möglich und vielversprechend vielleicht. Nichts dergleichen! Ich sah in ihrem Gesicht, in ihren Gesichtszügen, was in ihrem Kopf vorging. Sie brauchte mir gar nichts zu sagen, ich habe alles in ihrem Gesicht gesehen. Das war die schrecklichste Zeit.

Und es war doppelt furchtbar. Erst bekam ich in regelmäßigen Abständen eine schlimme neue Nachricht, zum Beispiel die, dass Julian blind ist. Und die zweite schlimme Sache war: Bei solchen Nachrichten war ich immer alleine mit den Kollegen, die unseren geliebten Sohn untersuchten. Und dann musste ich es noch Stefan beibringen, das machte es doppelt schlimm. Denn mein Mann regte sich furchtbar auf und setzte in seiner Verbitterung dem Leben gegenüber immer noch einen obendrauf, so dass ich das schon gar nicht mehr ertragen konnte. Und dieses Zweizeitige, das war dann ein doppeltes Package, das ich irgendwie verarbeiten musste. Es war eine furchtbare Zeit.

Vor der Geburt dachte ich mir: Hach, so eine Mutter mit Baby, das wollen wir mal so richtig genießen. Deswegen hatte ich schon lange vorher eine Wochenbettpflegerin engagiert, die auch Kinderkrankenschwester war. Ohne zu wissen, wie wichtig diese Entscheidung werden würde. So kam es, dass ich in der Klinik nach vier Wochen sagen konnte: »Jetzt geben Sie mir doch endlich mein Baby nach Hause, ich habe dort doch eine Kinderkrankenschwester.« Und deswegen durfte er dann mit. Sonst hätte Julian noch viel länger in der Klinik sein müssen.

Ich war so fertig. Und daher war es natürlich viel schöner, als das Baby im Haus war und ich neben seinem Bettchen sitzen konnte. Stundenlang. Eine Mahlzeit mit meinem Sohn dauerte meistens eine Stunde und 45 Minuten, denn er entwickelte dann auch diese spastische Schluckstörung, und von jeder Nahrung, die er schlucken sollte, kam drei Viertel wieder raus.

Obwohl ich ein positiver und tatkräftiger Mensch bin, wollte ich morgens nicht mehr wach werden. Ich blieb einfach im Bett liegen. Ich bin ein Frühaufsteher mit guter Laune, jeden Morgen bin ich um sechs Uhr wach.

Irgendwann in dieser Zeit begann ich aufzuwachen, und dann war es so, als schlüge mich jemand mit einem nassen Tuch. Ich war noch im Halbschlaf, weil dieser ganze schreckliche Kummer mich sofort überfiel...

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