2. Wie wirkt Stress?
Akuter Stress
Gereiztheit oder Irritation kann man als Symptom für eine leichte Form von Stress sehen, den Druck, den jeder von uns gelegentlich zu spüren bekommt. Diesen Druck oder Stress kann man sich vorstellen wie eine interne oder externe Kraft, die einen besonders aufmerksam sein lässt und den Körper aktiviert.
Eine solche Aktivierung des Körpers ist ein physiologischer, psychologischer und chemischer Prozess. In einer akuten Stresssituation, zum Beispiel bei einem Wohnungsbrand oder einer gefährlichen Verkehrssituation, wird mit einem Mal viel Adrenalin ausgeschüttet, wodurch wir befähigt werden, schnell zu handeln. Der Herzschlag wird schneller, Blut fließt in die Muskulatur, während die Verdauung kurzfristig stillgelegt wird. Der Körper wird in kurzer Zeit in einen Zustand versetzt, in dem er handeln kann: fliehen oder kämpfen. Eine weitere Stressreaktion wäre die sogenannte Freeze-Reaktion: Statt einer Aktion tritt eine Art Erstarrung ein.
Manchmal herrscht Unklarheit darüber, was Stress eigentlich genau ist: Ursache oder Wirkung? Dieses Buch beschäftigt sich mit den Wirkungen von Stress. Der Reiz, auf den die Stressreaktion folgt, kann negativ oder positiv sein. Ein negativer Reiz wäre zum Beispiel die Nachricht einer drohenden Kündigung, positive Reize sind Momente wie die eigene Hochzeit, eine Beförderung oder die Geburt eines Kindes. Stress ist die Reaktion auf positive oder negative Reize. Die Stressreaktion selbst ruft ihrerseits angenehme oder unangenehme Gefühle hervor. Wenn wir spüren, dass wir unser Ziel erreichen können, fühlen wir uns gut. Wenn wir aber merken, dass wir dabei sind, die Kontrolle zu verlieren, oder dass uns die Dinge über den Kopf wachsen, ergibt sich ein negatives Stressgefühl.
Stresssignale
Welche Momente geben – oder gaben – Ihnen das Gefühl, jetzt geht es um alles oder nichts? Ein Moment, in dem die Luft zum Schneiden war? Ein Streit? Ein Punkt, an dem Sie keinen Ausweg mehr sahen? Ein Satz, den jemand über Sie gesagt hat? Eine Grenze, die Sie überschritten haben? Momente des Erfolgs, des Versagens, der Krise? Eine Hochzeit, eine Geburt, eine schwere Krankheit, ein Todesfall? Die Aufteilung einer Erbschaft? Entbehrung, ein Trauma, eine Katastrophe? Oder ein Moment, an dem Sie über sich selbst hinausgewachsen sind?
Oft erkennt man erst in Momenten, die einem sehr wichtig sind, was wirklich zählt. Denken Sie einmal an einen Moment, als man Ihnen sagte, jemand sei plötzlich verstorben. Oft sind es solche Augenblicke, an denen einem bewusst wird, worum es im Leben wirklich geht. Manchmal kommt man auch im Urlaub zu einer solchen Erkenntnis. Nur wie schnell hat man sie nicht wieder vergessen! Meistens schenken wir dem, was uns sehr wichtig ist (zu) wenig Aufmerksamkeit.
Das können Sie ändern. Reservieren Sie mindestens eine Viertelstunde am Tag für all das, was Ihnen im Leben am wichtigsten ist. Das ist zugleich ein ausgezeichnetes Gegengewicht für den unvermeidlichen Stress im Leben. Sorgen Sie dafür, dass irgendetwas Sie an diese Viertelstunde erinnert: ein Foto, eine Nachricht auf Ihrem Telefon … Ohne Gedächtnisstütze halten gute Vorsätze meist nicht lange.
Die gesunde Seite von Stress
Die Behauptung, Stress an sich sei schädlich, ist nicht unbedingt richtig. Manchmal wirkt Stress langfristig gesehen positiv. Mit einer Dosis gesunder Anspannung gelingt es einem leichter, eine Deadline einzuhalten, als gänzlich ohne Stress. Bei einer Präsentation ist man konzentrierter, und einen wichtigen Sportwettkampf gewinnt man mit Stress eher als ohne. Das Adrenalin sorgt dafür, dass wir uns angenehm aktiviert fühlen.
Auch kurzfristig ist Stress vorteilhaft, denn wenn uns alles kalt ließe, könnten wir nicht überleben. Der Stress ist dann positiv zu sehen, wenn er einem dazu verhilft, die eigenen Ziele zu erreichen, und wenn der Körper nach der Reaktion auf den Stresszustand wieder zur Ruhe kommt. Stress ist positiv, wenn er unsere Fähigkeit zu handeln vergrößert.
Stress und Geschlechterunterschiede
»Stress ist gut für Jungen«, titelte vor Kurzem eine Zeitung. Warum nicht für Mädchen? Untersuchungen hatten ergeben, dass sich Jungen unter stressigen Umständen Dinge besser merken konnten. Die Probanden bewarben sich um eine Assistentenstelle an der Universität und bekamen es mit einer Bewerbungskommission zu tun, die keinerlei Emotionen zeigte. Anschließend mussten sie eine heikle Rechenaufgabe lösen, über die die Forscher gesagt hatten, sie sei sehr einfach. Das sorgte zusätzlich für eine Adrenalin- und Cortisol-Ausschüttung, die das Lernen bei den Jungen förderte. Bei Mädchen schien es den Zusammenhang in dieser direkten Form nicht zu geben, was aber auch durch die Verwendung der Pille erklärt werden kann, denn die Verhütungspille unterdrückt die Ausschüttung von Stresshormonen.
In der niederländischen Tageszeitung NRC wurde vor Kurzem eine Grafik gezeigt, die belegt, dass Frauen bezüglich psychischer Gesundheit schlechter abschneiden als Männer. In der Altersgruppe 18 bis 25 Jahre sind Frauen demnach zweimal so häufig psychisch krank wie Männer. Bis 65 Jahre liegt der Prozentsatz der psychisch nicht gesunden Frauen mit Schwankungen bei etwa 15 Prozent, bei Männern beträgt der Anteil etwa 10 Prozent. Für beide Geschlechter gilt, dass der Anteil der Erkrankten zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr etwas höher liegt (17 beziehungsweise 12 Prozent). Ab dem 65. Lebensjahr nehmen bei Frauen die psychischen Erkrankungen rapide zu, zwischen dem 65. und 75. Lebensjahr liegt der Anteil bei 18, nach dem 75. Lebensjahr bei 23 Prozent. Der Anteil der Männer über 75 Jahre mit Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit liegt bei 13 Prozent (Quelle: NRC, 12. Juni 2011). Ich gehe nicht davon aus, dass Frauen im Alter mehrheitlich einen Burnout haben, wahrscheinlich ist, dass sie an Depressionen leiden.
Akute Belastungsreaktionen
Akuter Stress ist nicht dasselbe wie eine akute Belastungsreaktion. Die akute Belastungsreaktion oder -störung ist eine Reaktion auf ein (lebens-)bedrohliches Ereignis oder eine sehr starke psychische Belastung. Ein Fall aus den Niederlanden: Die Altenpflegerin Ina Post bekannte sich schuldig, einen Klienten getötet zu haben. Erst bei ihrem Freispruch wurde klar, dass sie dieses Geständnis sehr wahrscheinlich unter dem Einfluss einer akuten Belastungsreaktion gemacht hatte. Sie erlebte die Ermittler als sehr angsteinflößend. Während der Verhöre erlitt sie einen Schock. Ihre Gefühlswelt war betäubt, ihr Gedächtnis und ihre Konzentration ließen sie im Stich, sie fühlte sich hilflos. Ina Post wurde 1987 verurteilt, weil sie die Tat gestanden hatte, und saß viele Jahre im Gefängnis, obwohl sie ihre damalige Aussage schon kurze Zeit später widerrief und immer wieder beteuerte, unschuldig zu sein. Erst 2010 wurde sie freigesprochen. Eine akute Belastungsreaktion kann einige Tage lang nach einem bedrohlichen Ereignis auftreten und bis zu vier Wochen anhalten.
Übermäßige Stressreaktion
Wenn die körperlichen Stresssymptome nicht dem eigenen Interesse dienen, erlebt man das als Druck. Das passiert zum Beispiel, wenn man übermäßig stark auf Kleinigkeiten reagiert oder wenn die Stressreaktion nicht wieder verschwindet. Der Druck wird von außen auf einen ausgeübt oder man übt ihn auf sich selbst aus. In der Folge spürt man die negative Spannung, die auf den Druck folgt.
Aus Studien geht hervor, dass konstante mentale Anspannungen oder lang anhaltender Arbeitsdruck bei fast allen Menschen zu Stress führen beziehungsweise führt. Dennoch sind nicht alle Menschen in Bezug auf ihre Widerstandskraft gegenüber Stress gleich. In manchen Berufen ist es wichtig, weitgehend stressresistent zu sein, das gilt zum Beispiel für Krankenschwestern und -pfleger, für Fahrer von Krankenwagen, Fluglotsen und Beschäftigte im mittleren Management, die häufig sowohl den Druck von den Mitarbeitern als auch von den Vorgesetzten zu spüren bekommen.
Stress und Partnerschaft
Reibungen und Konflikte in persönlichen Beziehungen lösen häufig starke Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer aus. Angenommen, Ihr Partner möchte, dass Sie mit ihm ausgehen, Sie wollen aber den Abend lieber zu Hause mit einem guten Buch auf dem Sofa verbringen. Der Druck, der von Ihrem Partner ausgeht, kann Sie in einen inneren Konflikt führen: Sie möchten gerne tun, wozu Sie Lust haben, wollen aber andererseits Ihren Freund nicht enttäuschen. Sie fühlen den Druck im Körper, die Spannung wächst, Sie atmen schneller, vielleicht spüren Sie eine leichte Form von Angst. Wenn Sie nicht nachgeben, schlafen Sie wegen der Uneinigkeit mit Ihrem Partner möglicherweise schlecht. Zu einer Freundin sagen Sie am nächsten Tag, Sie hätten Stress.
Grübeln Sie nun öfter darüber nach, wie das mit Ihnen und Ihrem Freund läuft, und denken Sie, dass die Beziehung eigentlich nicht funktionieren kann, weil sie so verschieden sind, dann beginnt chronischer Stress. Durch den Schlafmangel fühlen Sie sich müde. Vielleicht fangen Sie an, mehr zu essen, weil Sie sich nicht wohlfühlen, später bereuen Sie es und verurteilen sich. Sie grübeln nun noch mehr. Ihre Haare sitzen nicht gut, Sie bekommen Ringe unter den Augen. Stress macht alt! Ihre Haut wird dünner, Ihre Haare grauer und Sie bekommen mehr Falten. Die Beschwerden nehmen zu. Die negative Anspannung beeinträchtigt Ihre Gesundheit und wirkt sich auf das zentrale sowie das vegetative Nervensystem aus.
Wir reagieren vor allem dann mit Stress, wenn wir nicht Sorge dafür tragen, dass unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden. Wir kommen nicht gut damit...
