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E-Book

Weltensammlerinnen

Spektakuläre Reiseabenteuer mutiger Frauen

AutorArmin Strohmeyr
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783492990653
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Die dreiundsechzigjährige Amerikanerin Annie Taylor war eine gewitzte Selbstvermarkterin. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert ließ sie sich auf die Klatschpresse ein, um ihr waghalsiges Abenteuer zu finanzieren: sich in einem Fass die Niagarafälle hinabzustürzen. Die Schweizerin Ella Maillart heuerte gegen alle bürgerliche Vernunft anno 1924 in Seehundmantel und gelben Golfschuhen als Matrosin an und besegelte in den folgenden Jahren die Welt. Etwas eleganter, aber nicht minder waghalsig war Clärenore Stinnes, deren automobile Weltreise in der Adler-Limousine bis heute Maßstäbe im Motorsport gesetzt hat. Diese und weitere Pionierinnen der Extreme porträtiert Armin Strohmeyr und entführt uns ans Ende der Welt, auf höchste Gipfel, in heißeste Wüsten und kälteste Meere.    

Armin Strohmeyr ist promovierter Germanist und Autor viel beachteter Biografien, Porträtsammlungen und Romane. Sein Buch »Verkannte Pioniere« wurde von der Zeitschrift DAMALS beim Wettbewerb »Historisches Buch des Jahres« mit dem 3. Platz prämiert und stand auf der Shortlist »Wissenschaftsbuch des Jahres« des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. Zuletzt erschienen bei Piper »Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern«, »Weltensammlerinnen. Spektakuläre Reiseabenteuer mutiger Frauen«, »Dichterkinder. Liebe Verrat und Drama - der Kreis um Klaus und Erika Mann«, »Große Philosophinnen. Wie ihr Denken die Welt prägte« und »?Wir sind unser sechs?. Die Geschichte der Geschwister Mann«. Armin Strohmeyr ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland. www.armin-strohmeyr.de

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Leseprobe

Annie Taylor (1838–1921)


Der Bezwingerin der Niagarafälle


Die Niagarafälle an der Grenze zwischen dem amerikanischen Bundesstaat New York und der kanadischen Provinz Ontario sind seit Langem ein Besuchermagnet. Mehr als achtzehn Millionen Touristen strömen jährlich in die Region. An drei Stellen, durch Inseln voneinander getrennt, schießen die Wassermassen des Niagara-Flusses, der Verbindung zwischen Eriesee und Ontariosee, tosend in die Tiefe. Der höchste und wasserreichste der drei Katarakte sind die Horseshoe Falls: Hier stürzt der Fluss dreiundfünfzig Meter hufeisenförmig hinab, wodurch ein dichter Nebel aus Gischt über dem »Pond«, dem unten liegenden Becken, wabert, auf dem das Ausflugsschiff »Maid of the Mist« (»Mädchen der Gischt«) seine Runden dreht.

Immer wieder waren und sind die Niagarafälle Schauplatz menschlicher Tragödien: Selbstmörder sprangen hier in die Tiefe; aber auch Menschen, die am Oberlauf verunglückten und ins Wasser stürzten, wurden von der Strömung mitgerissen und in den Katarakten zermalmt. Nur wenige hatten einen gleichermaßen flug- wie schwimmtüchtigen Schutzengel wie der siebenjährige Roger Woodward, der im Juni 1960 aus einem Motorboot in den Fluss fiel und die Fälle hinabstürzte: Bis auf ein paar Schürfwunden und eine leichte Gehirnerschütterung blieb der Junge, der von der »Maid of the Mist« geborgen wurde, unverletzt. Andere »Bezwinger« der Niagarafälle hatten meist weniger Glück: Von dem britischen Barbier Charles Stephens etwa, der sich 1920 in einem Wasserfass zu Tal stürzte, fand man später in den zertrümmerten Dauben nur noch einen Arm. Alles andere hatten die tosenden Wassermassen zerrissen und Richtung Ontariosee gespült.

Von den Verunglückten und Selbstmördern einmal abgesehen, gibt es seit über hundert Jahren die »Zunft« der »Daredevils« (der »wagemutigen Teufel«), die sich freiwillig und mehr todesmutig denn lebensmüde der Hölle der Niagarafälle ausliefern. Einer von ihnen war der genannte britische Barbier, der den Kitzel auf Leben und Tod verspüren wollte. Doch sie alle haben ein Vorbild, eine Art Urmutter des Wagemuts: Annie Taylor. Sie war die Erste, der es gelang, die Horseshoe Falls lebend (und fast unverletzt) zu überwinden – in einem Fass, der »Queen of the Mist«, der »Königin der Gischt«.

Annie Taylor, damals wohnhaft in Bay City am Huronsee, war bereits zweiundsechzig Jahre alt, als ihr der Schlüsselmoment ihres Lebens widerfuhr: Sie las im Juli des Jahres 1901 in der Zeitung New York World einen Artikel über die Pan-Amerika-Ausstellung in Buffalo und die nahe liegenden Niagarafälle, als ein Gedanke sie durchzuckte: »Ich legte die Zeitung weg, saß da und dachte nach, als mich wie ein Blitz der Gedanke anrührte: ›Überwinde die Niagarafälle in einem Fass. Keiner hat je dieses Kunststück vollbracht.‹« Annie Taylor geht mit Kalkül ans Werk: Zuerst muss ein Fass gezimmert werden, das robust genug ist, absolut wasserdicht, innen verstärkt und gepolstert. Sie begibt sich zur »West Bay City Cooperage Company« in der Fremont Street, einem Zulieferer der Brauerei Kolb, und trägt ihr Anliegen vor. Dort hält man die ältere Dame für verrückt, doch Geld stinkt bekanntlich nicht. Also machen sich die erfahrenen Böttcher ans Werk. Annie Taylor will aber nicht einfach nur die Wasserfälle hinabstürzen. Was nützte es ihr, wenn keiner das Spektakel »live« mitverfolgte? Sie beabsichtigt, zugleich die Leiter des Ruhms hinaufzuklettern. Und das geht, damals wie heute, nicht ohne eine befeuerte PR. Sie hat von einem Promoter gehört, einem Agenten, der Menschen und ihre Taten in die Klatschspalten der Zeitungen und Illustrierten bringt: Frank M. Russell, der von seinen Klienten vertraulich »Tussy« genannt wird. Mit ihm schließt Annie Taylor einen Kontrakt und gibt sich zwanzig Jahre jünger aus – denn bereits damals verkauft sich Jugend gut. »Tussy« lanciert in der Presse Artikel über Mrs. Taylors todesmutige Absicht. Nun gibt es kein Zurück mehr: Will Annie Taylor nicht das Gesicht verlieren, so muss sie sich hinunterstürzen. Aber erst soll ein kleines, unschuldiges und wehrloses Wesen einen Probesturz vollführen: Annie Taylors Katze …

Eine junge Witwe


Annie kommt am 24. Oktober 1838 in der kleinen Stadt Auburn im Staat New York zur Welt. Ihre Eltern Merrick Edson und Lucretia Waring-Edson besitzen eine Getreidemühle am Owaco River, die der Familie – neben Annie hat das Ehepaar noch drei Töchter und vier Söhne – gute Einkünfte beschert. Annie ist erst zwölf, als der Vater stirbt. Die Trauer wiegt schwer. Aber anders als in ähnlichen Fällen in jener Zeit vor Einführung einer Sozialrente bedeutet der Tod des Ernährers nicht den Sturz in die Armut: Das angesparte Vermögen und der Verkauf der rentablen Mühle ermöglichen es der Witwe und ihren acht Kindern sogar ein recht komfortables Leben zu führen.

Annie erhält eine gediegene schulische Ausbildung – auch das ist für damalige Verhältnisse alles andere als selbstverständlich. Nach der Volksschule besucht sie das »Conference Seminary and Collegiate Institute« im fünfzig Meilen entfernten Charlottesville. Hier absolviert sie eine Ausbildung zur Lehrerin und legt mit siebzehn Jahren das Examen ab. Zu jener Zeit lernt sie einen jungen Mann kennen, den nur wenig älteren David Taylor. Nach nur kurzer Zeit heiraten die beiden. Bald kommt ein Sohn zur Welt, der jedoch nach wenigen Tagen stirbt. Annie und David bleiben kinderlos.

Annie Taylors Leben erfährt eine grundlegende (und letztlich tragische) Wende, als ihr Mann im Jahre 1864 im Amerikanischen Bürgerkrieg tödlich verwundet wird. Die erst fünfundzwanzigjährige Witwe genießt noch immer das Privileg, auf ein ererbtes Sparguthaben zurückgreifen zu können und nicht in Lohn und Brot stehen zu müssen, aber das macht die Einsamkeit nicht leichter. Sie wird zeitlebens keine dauerhafte Beziehung mehr eingehen und stattdessen ein ruheloses Dasein führen, das sie kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika führt, immer auf der Suche nach beruflicher Bestätigung, persönlicher Erfüllung und dem großen Abenteuer ihres Lebens …

1865, nach dem Ende des Bürgerkriegs, zieht die Witwe in den befriedeten Süden des Landes, nach San Antonio in Texas, das damals noch stark mexikanisch geprägt ist und erst seit 1845 zu den Vereinigten Staaten gehört. Hier lebt eine Schulfreundin Annies, und hier findet die junge Witwe eine Anstellung als Lehrerin. Doch bald schon treibt es sie zurück in ihre neuenglische Heimat, in die Stadt New York. Des Unterrichtens überdrüssig, eröffnet sie in der Großstadt, die sich in jenen Jahrzehnten zur Metropole mausert, eine private Tanzschule. Ob und wo Annie Taylor das Tanzen gelernt hat, bleibt unklar. Vielleicht war sie auch nur eine begnadete Organisatorin.

Doch es hält Annie Taylor nirgends lange. Chattanooga/Tennessee, Birmingham/Alabama, San Francisco/Kalifornien, Washington/D. C., Chicago/Illinois, Indianapolis/Indiana und Syracuse/New York sind Stationen ihres nomadischen Lebens. Ihr ererbtes Vermögen, das bei größerer Umsicht eine Existenz in Unabhängigkeit ermöglicht hätte, schmilzt dahin. Ihr eigener Zuverdienst als Tanzlehrerin reicht nicht aus, zumal sie sich in den Jahren ihrer finanziellen Unabhängigkeit an einen gewissen Luxus gewöhnt hat.

»Daredevils«


Annie Taylors Lebensweg ist ein langsamer, aber stetiger, sich über Jahrzehnte hinziehender sozialer und seelischer Abstieg. Ihr Wille, eine »Heldentat« zu vollbringen, wird weniger von Wagemut denn von bitterer Not genährt. 1890 kommt sie nach Bay City in Michigan. Dass hier ihr Schicksal nochmals eine – wenn auch nur kurze – Wendung nehmen wird, ahnt sie nicht. Bay City liegt am Huronsee, einem der fünf Großen Seen der Vereinigten Staaten. Südöstlich liegt der Eriesee, dem sich flussabwärts wiederum der Ontariosee anschließt. Dazwischen: die Niagarafälle, deren Nimbus allein schon – damals wie heute – bei Millionen Menschen für erhabene Schönheit und gefährliche Wildheit steht und immer wieder auch Waghalsige verleitete, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, im Verlangen, die Fälle zu bezwingen. Was zu jener Zeit für Bergsteiger der markante Gipfel des Matterhorns ist, sind für die »Daredevils« die Niagarafälle.

Der Reiz der Fälle strahlt weit über den amerikanischen Kontinent hinaus: Bereits im Jahre 1859 gelang es dem französischen Artisten Charles Blondin, die Niagarafälle auf einem dreihundertvierzig Meter langen, acht Zentimeter dicken Hochseil zu überqueren. Später wiederholte er sein Kunststück mehrmals, und jedes Mal unter erschwerten Bedingungen: mit verbundenen Augen, in einen Sack eingebunden, eine Schubkarre schiebend, auf Stelzen, seinen Manager auf dem Rücken tragend (der Promoter war von den Künsten seines Klienten wirklich überzeugt!) … Einmal setzte sich Blondin auch auf der Hälfte der Strecke auf dem Seil nieder und buk sich, in schwindelnder Höhe von rund fünfzig Metern über den donnernden Wassermassen, in aller Ruhe in einer mitgebrachten Pfanne auf einem Kocher ein Omelett, das er mit sichtlichem Appetit – Sport macht bekanntlich hungrig – verzehrte. Ein andermal stellte er einen einbeinigen Stuhl auf das Seil und setzte sich hin, um in aller Seelenruh das Spektakel unter sich zu betrachten – während den Zuschauern das Herz in die Hose rutschte.

Blondin ging später nach Irland und England und zeigte dort...

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