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Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre

Ein SPIEGEL E-Book

VerlagSPIEGEL-Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783877631539
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Weltliteratur im SPIEGEL Band 2: Schriftstellerporträts aus dem SPIEGEL der Jahre 1960 bis 1969, ausgewählt und eingeleitet von Martin Doerry. Mit Beiträgen über die Gruppe 47, Louis Aragon, Ingeborg Bachmann, Tania Blixen, Heinrich Böll, Günter Grass, die Gebrüder Grimm, Peter Handke, Gerhart Hauptmann, Ernest Hemingway, Georg Heym, Stefan Heym, Rolf Hochhuth, Jewgenij Jewtuschenko, Uwe Johnson, James Joyce, James Krüss, Karl May, Marquis de Sade, Nathalie Sarraute, Jean-Paul Sartre und William Shakespeare.

Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und kam 1987 zum SPIEGEL. Von 1998 bis 2014 war er stellvertretender Chefredakteur des Nachrichten-Magazins. Seither schreibt er als Autor für das Kulturressort.

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Leseprobe
SPIEGEL 32/1960
TANIA BLIXEN

Faselgeschichten


Babette, exquisite Köchin in einem feudalen Restaurant, hat während der Kommune-Aufstände nach dem Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71 ihr Herz für ihre Klasse entdeckt und den Kommunarden die Gewehre laden helfen, mit denen Babettes aristokratische Gäste – und nicht nur die – erschossen werden.
Nach dem Ende des Aufstands entkommt Babette aus Paris, findet in Norwegen eine neue Stellung bei zwei alten Damen, die wenig Sinn für Kochkünste haben, und fühlt sich um die Bewunderung betrogen, die ihre frühere Kundschaft über delikat zubereitete Speisen äußerte. So beschwert sich Babette bei den Norwegerinnen: „Sie müssen verstehen, Mesdames“, sagte sie schließlich, „diese Leute gehörten zu mir, es waren meine Leute. Sie waren dazu erzogen und geübt, mit größerem Aufwand (zu speisen), als Sie, meine lieben Damen, auch nur begreifen können.“
Babettes paradoxe Klage über den Verlust ihrer alten Bewunderer, die sie hatte umbringen helfen – der tragikomische Seelenkonflikt einer Köchin aus Leidenschaft und Revolutionärin aus Standesbewußtsein –, ist repräsentativ für die Art, in der die 75jährige dänische Autorin Tania Blixen – vollständig: Karen Baronesse Blixen-Finecke – in ihren Geschichten Probleme und Schicksale anzulegen pflegt.
In einem beinahe 30jährigen Schriftstellerleben hatte ihr diese Art des Erzählens überall Erfolg eingetragen, nur nicht in Deutschland. Erst das neueste Buch der Blixen, das kürzlich in deutscher Sprache erschienen ist und in dem auch Babettes Geschichte erzählt wird – die „Schicksalsanekdoten“* – scheint Wandel zu schaffen. Die „Schicksalsanekdoten“ fanden weit über den kleinen Kreis stereotyper Blixen-Verehrer hinaus auch in Deutschland Widerhall und hoben die Autorin in der Bundesrepublik zum erstenmal in die Sphäre der Erfolgsautoren; ihr Buch tauchte sogar in der Bestseller-Liste der Hamburger „Zeit“ auf.
Bis zu den „Schicksalsanekdoten“ war Tania Blixen die einzige skandinavische Autorin von Weltruf, die weder durch deutsche Vermittlung ihren Weg zur Weltliteratur machte noch in Deutschland anerkannt und gelesen wurde. Auch Hemingways oft zitierter Ausspruch, daß Tania Blixen den Literatur-Nobelpreis eher verdient habe als er, hatte die Zurückhaltung der deutschen Leser gegenüber der Dänin nicht ändern können.
In den Vereinigten Staaten dagegen hatte sich die dänische Baronin Blixen gleich mit ihrem ersten Buch, „Seven Gothic Tales“ (1934), durchgesetzt, und als Tania Blixen im Winter 1958/59 nach Amerika fuhr, wurde ihr Besuch zu einer Art öffentlichem Ereignis: „Es waren nicht nur meine Bücher, die sie gelesen hatten, sondern viele kannten mich vom Aussehen her. Ich konnte im Theater oder auf der Straße nicht gehen, ohne angesprochen zu werden. Kann einem Schriftsteller etwas Hübscheres widerfahren? Es war ein merkwürdiges Erlebnis.“
Höhepunkt des öffentlichen Triumphs war damals ein festliches Diner, bei dem die europäische Aristokratin mit der kräftigen Nase neben den amerikanischen Dramatiker Arthur Miller („Hexenjagd“) und dessen Stargattin Marilyn Monroe gesetzt wurde. Um die Differenz zwischen den beiden gegensätzlichen Frauen zu mildern, war die amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers („Das Herz ist ein einsamer Jäger“), berühmt dafür, ebenso handfest schreiben wie trinken zu können, hinzugezogen worden.
Doch das Diner verlief anders, als die Arrangeure erwarteten: Zwischen den drei Dichtern fand nur ein kurzer gegenseitiger Austausch von Lob für die eigenen und Tadel für die Werke anderer Schriftsteller statt; dann widmete Tania Blixen sich ausschließlich Marilyn Monroe; die beiden Frauen schieden als Freundinnen.
Konstatierte der Berichterstatter der „Berlingske Tidende“: „In ihrem ganzen Gespräch kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor.“ Tania Blixen: „Wir hatten eine riesig vergnügliche Unterhaltung über Jugend, Alter und Teenager.“ Und: „Marilyn Monroe ist ganz unwiderstehlich. Sie ist nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte ...“
Dem englischen Sprachbereich, der ihr am Ende für Schriftsteller seltene Publicity-Triumphe bereitete, hatte sich Karen Blixen von Anfang an zugewandt. Karen, am 17. April 1885 als Tochter des Offiziers und Gutsbesitzers Wilhelm Dinesen in Rungsted auf Seeland geboren und auf dem väterlichen Gut erzogen, hatte kurz vor dem ersten Weltkrieg den Baron Blixen-Finecke geheiratet und war mit ihm nach Britisch-Ostafrika (Kenia) ausgewandert. Fast zwanzig Jahre lang bewirtschaftete sie dort eine Kaffeefarm, zwei Drittel der Zeit allein, da sie sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg von ihrem Mann trennte, der wieder nach Europa zurückfuhr.
Als infolge der Weltwirtschaftskrise der Kaffeepreis zu Beginn der dreißiger Jahre ins Bodenlose fiel, zog sich Tania Blixen von Afrika auf das Stammgut der Familie nach Dänemark zurück. Dort begann sie, „um mich abzulenken, zu schreiben, wie ich es in der Regenzeit auch schon in Kenia hie und da getan hatte ... Was blieb mir denn, ich hatte nichts gelernt und außerdem kein Geld“.
Sie schrieb sieben Geschichten auf und schickte das Manuskript nicht an einen dänischen, sondern an einen englischen Verleger. Mit gutem Grund: Die Geschichten waren nicht dänisch, sondern englisch geschrieben. Als Tania Blixen Jahre später von einem dänischen Journalisten gefragt wurde, warum sie ihre Erzählungen in englischer Sprache niedergeschrieben habe, antwortete sie: „In der ganzen dänischen Literatur gibt es nicht ein Buch dieser Art, auf englisch gibt es viele, und sie werden herb gelesen, die Engländer lieben so ein Faselbuch.“
Mit „Faselbuch“ meinte sie ihren Erzählungsband „Gothic Tales“. Die Blixen: „Ich weiß kein anderes Wort für Bücher, in denen alles mögliche Phantastische passierte.“
Bereits in diesem Band, dem Faselbuch „Gothic Tales“, ist das Thema zu erkennen, um das es der Blixen in allen ihren Erzählungen geht: die unpathetische, zuweilen humoristische, zuweilen etwas feierliche Erläuterung der Besonderheit jedes menschlichen Schicksals, dem keiner entgehe. Sich diesem Schicksal stellen, ohne die Contenance zu verlieren, ist höchste Tugend, vis-à-vis diesem Schicksal die Beherrschung verlieren oder ihm gar zu entkommen versuchen, ist schlimmstes Vergehen.
Tania Blixens Welt ist ein schönes Jammertal: es anständig, korrekt, ja edelmännisch hinter sich zu bringen, die einzige Aufgabe. Hohe Pflicht: zunächst und zuallererst Haltung bewahren.
Dieser Pflichtübung hat die Blixen gleich in einer ihrer ersten Erzählungen, „Die Sintflut von Norderney“, eine Gruppe von Leuten konfrontiert. Durch eine Sturmflut sind Badegäste auf dem Heuboden eines Hauses vom Meer eingeschlossen. In ihrer prekären Lage – sie werden nicht gerettet – stilisieren die Eingeschlossenen ihren letzten Auftritt in dieser Welt zu einer korrekten gesellschaftlichen Zusammenkunft.
„Madame“, wendet sich ein Gast an ein Fräulein Malin, „mir ist von Ihnen erzählt worden, daß sich jedermann bei Ihren Empfängen wohl fühle und auch jeder voll Eifer bestrebt sei, sich von der besten Seite zu zeigen. Das möchten wir auch heute nacht so halten. Ich bitte Sie, hier die Hausfrauenpflichten zu übernehmen und in diesem Heubarn Ihre Künste zu üben!“
Diese höfliche Bitte erfüllt das Fräulein Malin denn auch, und zwar „vollendet gut“; sie „bewirtet ihre Gäste mit dem seltenen Luxus der Verlassenheit, Finsternis und Gefahr, sie hatte überdies den Tod selbst zu ihrer Bereitschaft stehen als die große Überraschung der Nacht, die ihr keine andere Gastgeberin streitig machen konnte.“ Das Motto: „Frei lebt, wer sterben kann.“
Solche Maximen werden von der Blixen stets ohne pädagogische Attitüde und erst recht ohne Anspruch auf poetisches Sendungsbewußtsein vorgetragen. Die Dänin Blixen wehrt sich dagegen, eine „professionelle Schriftstellerin“ genannt zu werden. „Schriftsteller – was ist das? Ist das eine Stellung? Kann man sagen: Nun will ich ein Buch schreiben, es soll von dem und dem handeln? ... Ich denke doch nicht. Ich bewundere Emile Zola, der sich täglich hinsetzen und vier Seiten schreiben konnte – aber ich verstehe ihn nicht.“ Ein anderer skandinavischer Autor, Knut Hamsun, hatte seiner Frau Marie eingestanden: „Die Schriftstellerei verachte ich zutiefst.“ Tania Blixen formulierte etwas Ähnliches. Sie „kann nicht sagen, wie man heutzutage einen Nutzen im Schreiben erkennen könnte. Selbstverständlich ist es für einen selbst von Bedeutung, was man sagen möchte, aber von da aus zu schließen, daß auch gebraucht wird, was man zu sagen hat, ist doch ein weiter Sprung“.
Die Skepsis gegenüber der Schriftstellerei hat die dänische Autorin zu sparsamster Produktion verpflichtet. Nach dem ersten Geschichtenband erschien ihr Buch „Afrika, dunkel lockende Welt“, das ihren Namen in der angelsächsischen Welt endgültig durchsetzte.
Danach folgten wieder Erzählungen – „Wintermärchen“ –, ein Buch, das die dänische Baronin Blixen auf dänisch geschrieben hat. Die späteren Bücher hat Tania Blixen – in eklatantem Gegensatz zur Tradition der skandinavischen Literatur – in englisch geschrieben. Bis dahin hatten sämtliche skandinavischen Schriftsteller und Literaten von Rang, wenn sie überhaupt ihre Muttersprache verließen, das Deutsche einer anderen Fremdsprache vorgezogen.
Seit die skandinavische Literatur im 19. Jahrhundert – angeregt durch die französische...
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