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Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur

AutorEce Temelkuran
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783455005332
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
'Ein essenzielles Buch.' Margaret Atwood auf Twitter Eine scharfsinnige und weitsichtige Analyse der weltweiten Entdemokratisierung und ein engagierter Aufruf zur Verteidigung der Demokratie. Ob Erdo?ans Türkei, die Brexit-Entscheidung oder eine weitere europäische Wahl, die Rechtspopulisten neue Rekordwerte eingebracht hat: Populismus ist zur globalen Krankheit geworden. Mit seismographischem Gespür fahndet Ece Temelkuran nach seinen Ursachen und macht sieben wiederkehrende Schritte aus, zu denen Möchtegern-Diktatoren in aller Welt greifen, um an die Macht zu gelangen. Nachdrücklich schärft sie uns den Blick und lässt uns antidemokratische Tendenzen beizeiten erkennen. Ihr Buch ist eine eindringliche Aufforderung, ins Gespräch zu kommen über das, was notwendig ist, wenn wir weiterhin friedlich zusammenleben wollen.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Sachbücher Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur (2019), Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

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Leseprobe

Einleitung Wie kann ich Ihnen helfen?


Die Düsenjäger schneiden den dunklen Himmel in riesige geometrische Stücke, so als wäre die Luft eine feste Masse. Es ist der 15. Juli 2016, die Nacht des Putschversuchs in der Türkei. Ich versuche, die zitternden Fensterscheiben mit Kissen zu schützen. Offenbar wurde gerade die Brücke bombardiert, aber ich sehe kein Feuer. »Ist es jetzt so weit?«, frage ich mich. »Findet heute Nacht der Reichstagsbrand statt, der alles zerstört, was von der türkischen Demokratie und meinem Land übrig ist?«

Das Fernsehen zeigt, wie mehrere Dutzend Soldaten die Bosporusbrücke sperren und die verdutzten Zivilisten anblaffen: »Geht nach Hause! Das ist ein Militärputsch!«

Trotz ihrer riesigen Gewehre haben einige Soldaten schlicht Angst, und alle wirken hilflos. Im Fernsehen wird von einer Machtergreifung durch das Militär gesprochen, doch es ist kein Staatsstreich, wie wir ihn gewohnt sind. Ein Putsch setzt so gut wie immer ein Pokerface auf; keine Hektik, kein Verhandeln und bestimmt keine Bedenken, was den Einsatz schwerer Waffen betrifft. In den sozialen Medien wird die absurde Situation bereits sarkastisch kommentiert. Dieser Art von Humor geht es nicht unbedingt um den Lacherfolg; es ist eher ein Wettstreit in bitterer Ironie, was jedoch nur die Teilnehmer selbst normal finden. Die meisten Witze verhandeln die Möglichkeit, das Ganze könnte inszeniert sein, um statt des parlamentarischen Systems die Installierung jenes Präsidialsystems zu legitimieren, das Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon seit langem fordert und das ihm noch mehr Macht verleihen würde, als er, der faktische Alleinherrscher des Landes, bereits hat.

Als der Himmel über Istanbul und Ankara kurz darauf voller Kampfjets ist, vergeht den Leuten ihr schwarzer Humor, und wir lernen die Sprache des Krieges in Echtzeit. Was ich für eine Bombe gehalten habe, war ein »Überschallknall«, das explosionsartige Geräusch, das entsteht, wenn Düsenflieger die Schallmauer durchbrechen – Fachausdruck dafür, dass die Luft in riesige Teile zerbirst und als Angst auf uns niederprasselt, als die Angst, wir könnten noch vor Sonnenaufgang unser Land verlieren.

Mittlerweile versuchen die Menschen in der Hauptstadt Ankara zu unterscheiden, wann sie nur einen Überschallknall hören und wann die echten Bomben, die das Parlament und die Geheimdienstzentrale treffen. Absurde Fernsehmeldungen legen sich wie ein Schleier auf die Katastrophe vor unseren Augen. Live wird gezeigt, wie Militärpolizisten auf der Suche nach dem längst in Vergessenheit geratenen Luftschutzkeller um das Parlamentsgebäude herumrennen und, als er endlich gefunden ist, keiner von ihnen weiß, wo sich der Schlüssel befindet, während draußen auf den Straßen Männer im Schlafanzug mit Kippe im Mund gegen Panzer treten und zu den Düsenjägern hinaufbrüllen.

Vielen fällt auf, wie ungewöhnlich es ist, dass sich die Fernsehmeldungen überschlagen. Noch jeder Staatsstreich der jüngeren türkischen Geschichte begann damit, dass die Armee Politiker in Gewahrsam nahm und die Informationsquellen dichtmachte – und zwar in den frühen Morgenstunden, nicht zur Hauptsendezeit. Bei diesem vom Fernsehen akribisch erfassten Staatsstreich dagegen appellieren die ganze Nacht hindurch auf allen Kanälen Regierungsvertreter an das Volk, auf die Straße zu gehen und sich dem versuchten Militärputsch zu widersetzen. Und obwohl das Internet sonst immer langsamer wird, sobald sich die Regierung in einer heiklen Situation befindet, ist es jetzt plötzlich so schnell wie noch nie. Doch die Hektik und Intensität der nächtlichen Ereignisse machen es den Skeptikern unmöglich, die seltsamen Details richtig einzuordnen.

Erdoğan meldet sich über FaceTime – seine Botschaften werden von CNN Türk übertragen – und fordert alle Bürger auf, in die Innenstadt zu kommen. Wie die meisten anderen erwarte auch ich nicht, dass die Regierungsanhänger tatsächlich auf die Straße gehen und sich dem Militär entgegenstellen werden. Seit der Gründung der modernen Republik durch Kemal Atatürk im Jahr 1923 ist die Armee traditionell die angesehenste Institution im Lande, wenn nicht gar die am meisten gefürchtete. Doch offenbar hat sich viel geändert seit dem letzten Militärputsch, 1980, als die Linken Widerstand leisteten und ins Gefängnis gesteckt und gefoltert wurden, denn Tausende folgen dem Aufruf des Präsidenten.

Kaum zeigt das Fernsehen, wie der Mob junge, verängstigte Soldaten erschlägt und erwürgt, tönt von allen Minaretten des Landes das endlos lange Sela-Gebet, das normalerweise auf Beerdigungen gesprochen wird. Man muss nichts über islamische Bräuche wissen, um dem schaurigen Klang anzuhören, dass es um etwas Unumkehrbares geht, dass hier ein Ende verkündet wird. Nach dem Sela werden die Menschen in dieser Nacht von den Minaretten herab lautstark im Namen Gottes dazu aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen und den Präsidenten, die Demokratie, die Nation zu retten. Als sich das Dröhnen der Kampfjets, die ekstatischen »Allahu akbar«-Rufe der Erdoğan-Anhänger und die Hilfeschreie der Soldaten in die Todesmelodie mischen, fällt mir das Gedicht ein, mit dem alles begann: »Die Minarette sind unsere Bajonette / Die Kuppeln unsere Helme / Die Moscheen unsere Kasernen / Und die Gläubigen unsere Soldaten.« Erdoğan hat es 1999 in einer öffentlichen Rede rezitiert, was ihm eine viermonatige Haftstrafe wegen »religiöser Hetze« einbrachte und ihn zuerst zum Märtyrer der Demokratie und dann zum skrupellosen Herrscher machte. Siebzehn Jahre später, in der Putschnacht, klingt das Gedicht wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, wie ein Versprechen, das auf Kosten eines ganzen Landes eingelöst wurde.

Wir mussten im Lauf der Zeit lernen, dass in der Türkei jeder Putsch, egal von wem er ausgeht, auf die gleiche Weise endet. Frei nach dem berühmten Bonmot des früheren englischen Fußballspielers und späteren TV-Experten Gary Lineker, wonach Fußball ein simples Spiel von 120 Minuten Dauer ist, das am Ende immer die Deutschen im Elfmeterschießen gewinnen, findet jeder Putsch in der Türkei innerhalb einer 48-stündigen Ausgangssperre statt, und am Ende sitzen die Linken im Knast. Danach erfolgt die Entwurzelung einer weiteren Generation fortschrittlicher Menschen, weshalb die Seele des Landes dann noch mehr darbt als zuvor.

Als ich mich in dieser Nacht durch die regierungsfreundlichen Nachrichtensender zappe, wird schnell klar, dass alles abläuft wie gehabt. Fotos und Videos zeigen festgenommene Soldaten, die unter den Schuhen von Zivilisten nackt auf der Straße liegen – so wie die Linken nach dem Putsch von 1980 unter Armeestiefeln lagen –, während die Nachrichtensender und die Regierungstrolle in den sozialen Medien, die im Gegensatz zu uns ganz und gar nicht paralysiert sind, ihre Einschätzung der Geschehnisse vermelden: »Dank Erdoğans Aufruf hat das Volk die Demokratie gerettet.«

In den Straßen ertönen immer mehr »Allahu akbar«-Rufe, begleitet von Maschinengewehrschüssen aus umherfahrenden Autos. Offenbar hat sich die Treue zur Armee nach den vielen Jahren unter der Herrschaft der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt. Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) in eine quasireligiöse Verbundenheit mit Erdoğan verwandelt. Vor unseren Augen werden sein Gesicht und sein Name zum Sinnbild der neuen Türkei, in der wir morgen aufwachen. Inmitten von Chaos und Lärm arbeitet die sorgsam konstruierte Propagandamaschine wie geschmiert an der Vorbereitung des neuen politischen Reichs, das am Morgen entstehen wird. Und da ich Erdoğans Regime seit langem kritisiere, ist mir beim trostlosen Tagesanbruch vollkommen klar, dass es in dieser neuen Demokratie für Menschen wie mich keinen Platz geben wird.

Katastrophen haben eine betäubende Wirkung; wie Millionen andere im Land bin ich innerlich leer. Während die Hilflosigkeit mit dem wachsenden Unheil zunimmt, verdichtet sich die Kakophonie zu einer einzelnen Sirene, einem unablässig tönenden Refrain: »Du kannst nichts mehr tun, das ist das Ende.« Inzwischen berichten auch die internationalen Nachrichtensender. Für den Rest der Welt stellen die Ereignisse der Nacht die Anfangsszene eines Politthrillers dar, während sie in Wahrheit bereits Höhepunkt und Auflösung eines langen, anstrengenden Films sind, kaum zu ertragen für den, der ihn sich ansehen oder darin mitspielen muss. Und weil ich noch weiß, wie er begann – mit dem Auftritt eines Populisten –, würde ich, während die britischen und amerikanischen Moderatoren hektisch die Studioexperten befragen, am liebsten rufen: »Unsere Geschichte endet hier, aber eure beginnt erst!«

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Sonnenaufgang sah. Eines frühen Morgens wurde ich vom Radio im Wohnzimmer geweckt, das mit voller Lautstärke lief. Meine Eltern saßen kettenrauchend vor dem Gerät und hörten zu, wie man einen Putsch ausrief. Je heller es draußen wurde, umso mehr verdüsterten sich ihre Mienen. An diesem 12. September 1980 sah ich in den klaren blauen Himmel und sagte mir: »Ach, das ist also ein Sonnenaufgang!« Ich war acht, und in jenen Minuten begann einer der schlimmsten Militärcoups der modernen Geschichte. Meine Mutter weinte leise in sich hinein. Das sollte sie in den Jahren nach diesem Sonnenaufgang noch oft tun.

Von jenem Tag an wuchs ich wie Millionen anderer Kinder, deren Eltern eine gerechte, gleiche und freie Türkei wollten, auf der Seite der Besiegten auf; als eine...

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