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E-Book

'Wenn Deutschland so scheiße ist, warum sind Sie dann hier?'

Ein Strafrichter urteilt

AutorStephan Zantke
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783745303261
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eigentlich ist Stephan Zantke bloß ein einfacher Strafrichter in Zwickau. Doch Ende 2017 machte er europaweit Schlagzeilen. Vor seinem Gericht stand ein libyscher Flüchtling. Die Liste schwerwiegender Vorwürfe gegen ihn war lang. Als der Angeklagte über 'Scheißdeutschland' schimpfte, fragte Zantke: 'Wenn es bei uns so scheiße ist, warum sind Sie dann hier?' Der Satz machte Karriere. Dass die medialen Reaktionen so heftig ausfielen, zeigt, dass Zantke einen Nerv getroffen hatte. Die Frage war ein Ausdruck seines angestauten Ärgers angesichts einer Vielzahl von Kriminellen, die nach und nach den Respekt vor der Justiz und dem Staat verlieren. In diesem Buch berichtet Zantke von seinen drastischsten Fällen. Von einem 14-jährigen Jungen, der es schaffte, eine ganze Ortschaft in Angst zu versetzen. Von einer Bande, die sich darauf spezialisierte, Rentner zu überfallen. Zantke gibt Einblicke in deutsche Parallelwelten und kriminelle Milieus. Er zeigt, wie nah uns das Verbrechen eigentlich ist. Und wie machtlos der Staat oftmals bleibt. Der Richter wirft einen schonungslosen Blick auf eine überforderte Justiz und Kriminelle, die sich die Schwäche des Staates zunutze machen. Eine nachdenklich stimmende Analyse. Und ein Plädoyer für ein überfälliges Umdenken.

Stephan Zantke, Jahrgang 1961, geboren und aufgewachsen in Nordrhein-Westfalen, absolvierte in Heidelberg ein Studium der Rechtswissenschaften. Während seines Referendariats arbeitete er im sächsischen Kultusministerium der Landesregierung Biedenkopf Dresden. Am 1. April 1993 begann er seine Arbeit als Staatsanwalt in Zwickau. Seit 2000 arbeitet er als Amtsrichter beim Amtsgericht in Zwickau. Zantke hält für Organisationen wie die OSZE und die GIZ internationale Vorträge.

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Leseprobe

KAPITEL 1


Die falsche Blondine


Straftatbestand:
Vergewaltigung (§ 177 StGB)

Die Geschichte


An einem außergewöhnlich kalten Samstag macht sich Tanja R. auf den Weg zur Arbeit. Es ist noch früh am Morgen. Die 55-Jährige hat eine anstrengende Woche hinter sich. Es ist jetzt der siebte Tag in Folge, an dem sie arbeitet. Es geht nicht anders. Personalnotstand. Und als ob das nicht schon alles anstrengend genug wäre, hat Tanja R. heute auch noch Frühschicht.

Tanja R. arbeitet in einem Krankenhaus. In Krankenhäusern gibt es keine Ruhetage. Und es gibt auch keine Ruhestunden. Um fünf Uhr morgens hat der Wecker geklingelt, sie ist aufgestanden, hat sich zurechtgemacht und ihr Frühstück in eine kleine, hellblaue Tupperdose gepackt. Um halb sechs Uhr verlässt sie das Haus. Für sie ist das mittlerweile Routine.

Es ist ein außergewöhnlich kalter November dieses Jahr. Tanja schließt die schwere Haustür hinter sich und macht sich auf den Weg. Sie geht die große Hauptstraße entlang und spielt ihren Arbeitstag schon einmal im Kopf durch. Das macht sie jeden Morgen so. Sie wird in das Krankenhaus kommen, sich im Schwesternzimmer umziehen, ein klein wenig mit ihren Kolleginnen reden und dann in den Operationssaal gehen. Um Punkt sieben Uhr wird sie das Operationsbesteck sterilisiert, den Saal desinfiziert und vorbereitet haben, was sonst noch vorbereitet werden muss. Um halb acht Uhr steht die erste Operation an. Sie versucht sich zu erinnern, welcher Patient es sein wird. Aber sie kommt nicht drauf.

Tanja R. bleibt stehen. Die Ampel an der Kreuzung ist auf Rot gesprungen. Auf der Straße ist kein Auto zu sehen. Zu sehen ist nur das Krankenhaus auf der Spitze des Hügels. Dennoch bleibt die Krankenschwester stehen. Die Laternen beleuchten die von Frost überzogenen Straßen. Tanja R. spürt den kalten Wind auf ihrer Haut. Sie geht ihren Arbeitsweg immer zu Fuß, die Strecke ist gut machbar, 15 Minuten. Vom Tal auf den Hügel. Das hält die 55-Jährige fit. Und es macht wach. Als die Ampel endlich grün wird, stakst sie vorsichtig über die Straße, um nicht auszurutschen. Zu dieser Uhrzeit ist der Winterdienst noch nicht in diesem Teil der Stadt angekommen. Die Straßen sind gefährlich glatt.

Aus den Augenwinkeln sieht Tanja R. einen jungen Mann, der sich ihr nähert. Nach ein paar Minuten geht er an ihr vorbei und schaut sie kurz von der Seite an. Es ist selten, dass sie zu dieser Uhrzeit jemandem begegnet. Aber es kommt vor. Der Mann könnte einer der Bauarbeiter sein, die den Anbau für das Krankenhaus errichten, in dem sie später vielleicht selbst einmal arbeiten wird. Andererseits liegen die Baustellen am Wochenende brach. Der Mann wird wohl nach Hause gehen. Vielleicht kommt er von einer Nachtschicht. Oder er hat auch Frühschicht. Er könnte im selben Krankenhaus arbeiten wie sie. Man kennt sich nicht zwingend in dem großen Haus, in dem Tanja R. arbeitet. Vielleicht war der junge Mann aber auch einfach nur die ganze Nacht tanzen – Tanja R. beginnt ihren Samstag, wenn andere ihren Freitag beenden.

Tanja R. denkt gern über Menschen nach. Jeder Mensch, sagt sie, hat eine Geschichte, und diese Geschichten bleiben uns meist verschlossen. Wenn wir Menschen treffen, dann werden wir für einen kurzen Augenblick zu einem Teil ihres Lebens. Zu einem Teil ihrer Geschichte. Meist ist das kein besonders relevanter Teil. Aber immerhin. Jede Begegnung, sagt Tanja R., hat das Potenzial, ein Leben zu verändern. Es auf den Kopf zu stellen. Tanja R. hat keine Ahnung, wie sehr diese Begegnung ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Sie weiß nicht, dass sich innerhalb von nur einer Stunde alles verändern wird. Der junge Mann zieht weiter.

Tanja R. kann das Krankenhaus sehen. Sie ist mittlerweile den halben Hügel hinaufgelaufen. Der Wind bläst ihr frostig ins Gesicht. Noch fünf Minuten, dann ist sie endlich da. Im Warmen. Es ist wirklich ein außergewöhnlich kalter Samstagmorgen, denkt sich die 55-jährige Krankenschwester. Dann sieht sie, wie sich der junge Mann vor ihr umdreht. Nur kurz. Nur für einen Augenblick. Sie denkt sich nichts dabei. Vielleicht hält er sie für jemanden, den er kennt. Vielleicht sieht sie in ihrer dicken Winterjacke jemandem ähnlich. Vielleicht ist er auch nur neugierig, weil er sie schon einmal auf dem Weg zur Arbeit gesehen hat. Vielleicht arbeitet er wirklich im Krankenhaus, denkt Tanja R. und versucht sich krampfhaft zu erinnern, wer heute der erste Patient auf ihrer Liste ist. Schmidt? Schulz?

Dann sieht sie, wie der junge Mann sich vor ihr hinkniet, um sich die Schuhe zu binden.

Müller! Es ist Johann Müller. Er wird heute eine Magenoperation bekommen. Ein Routineeingriff.

Dann geht sie vorbei an dem jungen Mann, der sich noch immer um seine Schnürsenkel kümmert.

*

An einem außergewöhnlich kalten Freitagnachmittag kommt Schlosserlehrling Florian P. nach Hause. Es ist 16.30 Uhr. Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Florian P. ist froh, dass die Woche vorbei ist. Seit ein paar Tagen ist es so wahnsinnig kalt draußen. Er schaut kurz auf das Thermometer, dass er auf der Fensterbank liegen hat. Minus zehn Grad. »Krass«, sagt er.

Florian P. wohnt noch bei seinen Eltern. Das Geld, das er verdient, reicht nicht für eine eigene Wohnung. Zu Hause muss er keine Miete zahlen. Er kann nun sogar einen kleinen Teil seines Geldes zurücklegen. Für die Zukunft. Florian nimmt seine Ausbildung ziemlich ernst. Handwerk ist genau das Richtige für ihn. Theorie und dicke Bücher haben ihn noch nie sonderlich interessiert. Er ist kein Lerntyp. Mehr der Anpacker. Trotzdem sind seine Leistungen in der Berufsschule gut. Ziemlich gut sogar.

Florian hat ein Ziel, und auf dieses Ziel arbeitet er hin. Es ist nicht der große Traum vom Haus am Strand. Florian ist bodenständig und bescheiden. Er denkt in kleineren Maßstäben. Er will einen Führerschein und eine eigene Wohnung. Das beides zusammen wäre für ihn die absolute Unabhängigkeit. Um sich den Führerschein leisten zu können, spart er. Um sich die Wohnung leisten zu können, arbeitet er. Bis zur Gesellenprüfung wohnt er zu Hause. Florian ist Einzelkind. Seine Eltern haben ihn bislang bei allem unterstützt. Sie sind ziemlich stolz auf ihn. Sie sehen, dass er sich anstrengt. Florian war schon immer ein disziplinierter Junge. Jahrelang hat er im Fußballverein gespielt, im Mittelfeld. Er war kein Superstar, aber er konnte was. Und er stand jeden Mittwoch um Punkt 17 Uhr auf dem Trainingsplatz. »Dieser Junge ist diszipliniert«, hat sein Trainer den Eltern damals immer und immer wieder gesagt. »Und Disziplin ist die halbe Miete.«

Florian war auch immer ein hübscher Junge. Kein absoluter Frauenschwarm, aber eben ein schöner Kerl. Mit 1,75 Metern ist er nicht sehr groß. Eher schmächtig. Aber er hat ein freundliches Gesicht. Florian ist der Prototyp des netten Jungen aus der Nachbarschaft.

Die Woche war hart. Florian P. freut sich auf sein Wochenende. Er will entspannen. Er legt sich auf sein Bett, schmeißt seine Playstation und seinen Fernseher an und zockt ein wenig FIFA. Gleichzeitig schreibt er sich mit ein paar Freunden. Per SMS planen sie den Abend.

»Disko?«, fragt einer.

Disko. Klar. Warum nicht? Disko geht immer an einem Freitagabend.

»Okay«, tippt Florian mit der linken Hand in sein Handy und starrt weiter auf den Fernsehschirm.

»Alles klar. 20 Uhr. Bekannter Treffpunkt«, schreibt Kai.

Kai ist Florians bester Freund. Kai und Florian haben eine Clique. Sechs, sieben Leute sind Teil dieser Gruppe, die meisten von ihnen kennen sich noch aus der Schulzeit. Mittlerweile machen fast alle eine Ausbildung, aber den Kontakt, den hat man nie verloren.

Florian hat auch eine Freundin. Sarah. Sie sind seit drei Jahren zusammen. Sie kennen sich ebenfalls aus der Schule. Sarah war in der Parallelklasse von Kai und Florian, und Florian fand sie schon immer toll.

»Freu’ mich«, tippt er in sein Handy. Ohne zu wissen, dass diese Nacht sein gesamtes Leben verändern wird. Dass dieser Freitagabend eine Wendung nehmen wird, die zu diesem Zeitpunkt niemand vorhersehen kann.

*

Um 20 Uhr trifft sich die Clique in der Stadtmitte. Dort treffen sie sich immer, wenn sie abends zusammen weggehen. Einen genauen Plan hat die Gruppe nicht. Einfach losziehen und schauen, was so geht. Die Stadt ist übersichtlich. Allzu viele Läden gibt es hier nicht. Zunächst gehen die jungen Leute in eine Bar. Sie trinken ein paar Biere. Unterhalten sich. Aber die Stimmung ist nicht sonderlich gut. Außer ihnen ist kaum jemand unterwegs. Vielleicht, weil es so verdammt kalt ist.

»Minus zehn Grad«, wirft Florian ein. »Habe ich noch vorhin auf dem Thermometer gesehen.«

»Krass«, sagt Kai und ext sein Bier.

»Lasst mal weiterziehen«, wirft einer der anderen Jungs ein.

Florian zieht sein Handy raus. Sarah hat ihm geschrieben: Gehen gleich ins Kreuzeck.

»Das Kreuzeck«, sagt Florian zu seinen Jungs. »Lasst uns da auch hin.«

Das Kreuzeck ist eine bekannte Großraumdisko. Dort...

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